Moral

Man wird niemals mit bloßer Philosophie eine Definition des Moralischen geben können, und es ist das Charakteristische gerade der Philosophie, sofern sie Moralphilosophie sein will, daß sie zu einer richtigen, befriedigenden Definition des Moralischen nicht kommt, wenn sie sich nicht auf den Boden stellt, daß es dem Menschen möglich ist, sein Geistig-Seelisches unabhängig vom Leibe in sich zu erleben. Denn eine andere wirkliche Definition des Moralischen ist nicht möglich, als nur diejenige: Moralisch ist das, was der Mensch beschließt, was der Mensch tut durch Kräfte, die unabhängig von seinem Leibe sind. Eine wirklich moralische Tat, ein wirklich moralischer Impuls geht aus denselben Fähigkeiten der Seele hervor, die durch entsprechende Ausbildung zu den hellsichtigen Fähigkeiten führen. [1]

Die merkwürdige Definition des Aristoteles von der Tugend heißt: Tugend ist eine von vernünftigen Einsichten geleitete menschliche Fertigkeit, die mit Bezug auf den Menschen die Mitte hält zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Damit ist in der Tat von Aristoteles gegeben die Definition der Tugend, wie sie von keiner Philosophie später wieder erreicht worden ist. Weil Aristoteles die Tradition aus den Mysterien hatte, daher vermochte er wirklich das Richtige zu treffen. Das ist also die berühmte Mitte, die eingehalten werden muß, wenn der Mensch wirklich tugendhaft sein soll, wenn moralische Kraft die Welt durchpulsen soll. Aber jetzt können wir uns auch die Frage beantworten, warum überhaupt Moral da sein soll. Was ist denn dann der Fall, wenn keine Moral da ist, wenn das Schlechte geschieht, wenn das Zuviel oder das Zuwenig, das Sichverlieren des Menschen an die Welt durch das Zermalmen oder das Verlieren des Menschen von seiten der Welt geschieht? In jedem dieser Fälle wird immer etwas zerstört. Jedes Schlechte, jedes Unmoralische ist ein Zerstörungsprozeß, der etwas hinwegnimmt aus der Welt, auf das gerechnet ist.

Wie kann die Empfindungsseele nach der einen oder anderen Seite abirren von dem Richtigen? Die Empfindungsseele ist dasjenige, was den Menschen in die Lage versetzt, die Welt der Dinge zu empfinden, sie in sich aufzunehmen, Anteil zu nehmen an den Dingen, nicht durch die Welt zu gehen und unwissend zu bleiben bezüglich der Dinge, sondern so, daß wir ein Verhältnis zu denselben bekommen. Mit dem Wort Interesse ist etwas in moralischem Sinne ungeheuer Bedeutungsvolles ausgesprochen. Es ist viel wichtiger, daß man die moralische Bedeutung des Interesses ins Auge faßt, als daß man sich hingibt an tausend und abertausend schöne, wenn auch vielleicht nur scheinheilige, kleinliche Moralgrundsätze. Unsere moralischen Impulse werden in der Tat durch nichts besser geleitet, als wenn wir ein richtiges Interesse nehmen an den Dingen und Wesenheiten. [2]

Stumpfsinn und Interesselosigkeit an der Welt sind im höchsten Grade moralische Übel. Durch den Stumpfsinn verliert die Welt uns, durch sinnlose Leidenschaftlichkeit, die sich benebelt in der Hingabe, verlieren wir uns an die Welt. Sehen Sie in der ägyptisch-chaldäischen Zeit, da war eine gewisse Kraft noch in der Majorität der Erdenbevölkerung vorhanden, die man nennen kann den Impuls zur Erhaltung des Gleichgewichtes zwischen Stumpfsinn und leidenschaftlich sich betäubender Hingabe an die Welt; und das ist es, was man in alten Zeiten und auch noch bei Plato und Aristoteles genannt findet: die Weisheit. Aber die Menschen sahen das als Gabe übermenschlicher Wesen an, denn es waren bis in jene Zeiten hinein regsam die alten Impulse der Weisheit. Daher können wir von diesem Gesichtspunkte aus, namentlich in bezug auf die moralischen Impulse, die dritte nachatlantische Kulturepoche diejenige Epoche nennen, wo die Weisheit instinktiv wirkt. [3] Daher sehen wir, daß schon in dem griechisch-lateinischen Zeitraume, die Philosophen Plato und Aristoteles, aber auch die öffentliche Meinung in Griechenland, die Weisheit als etwas betrachteten, was errungen werden muß, als etwas, was nicht mehr Göttergabe ist, sondern erstrebt werden muß. Die erste Tugend bei Plato ist die Weisheit, und derjenige ist unmoralisch bei Plato, der nicht Weisheit anstrebt. [4] Weil Plato das Weisheitsideal nannte mit den Worten, die üblich sind da, wo Weisheit noch instinktiv in den Menschen drinnen lebte, so tun wir gut, diesen Ausdruck durch ein anderes Wort zu ersetzen, durch das Wort Wahrhaftigkeit, weil wir individueller geworden sind, weil wir uns entfernt haben von dem Göttlichen und daher wieder zu ihm zurückstreben müssen. Wir müssen lernen, das volle Gewicht des Wortes Wahrhaftigkeit zu empfinden, (denn) überall, wo es modernes Leben gibt, ist die Unwahrhaftigkeit eine Eigenschaft unserer gegenwärtigen Kulturepoche geworden, und es ist unmöglich, daß Sie die Wahrhaftigkeit als eine Eigenschaft unserer Epoche nennen können. Nehmen Sie (beispielsweise) einen Menschen, von dem Sie wissen, daß er selber etwas Falsches geschrieben oder gesagt hat, und halten Sie ihm das vor. Sie werden finden, daß er heute in der Regel gar keine Empfindung dafür hat, daß das Unrecht ist. Er wird sofort die Ausrede gebrauchen: Ja, ich habe es in gutem Glauben gesagt. [5]

Das zweite Seelenglied, die Verstandes- oder Gemütsseele hat besonders in der griechisch-lateinischen Zeit seine Geltung gefunden. Die Tugend, die da besonders maßgebend ist für dieses Seelenglied ist der Starkmut, die Tapferkeit, das Mutvolle. Sie haben zu ihren Extremen die Tollkühnheit und die Feigheit. Das Mutvolle, die Tapferkeit ist in der Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit. Während bei den Chaldäern die Weisheit als etwas Inspiriertes vorhanden war, so war bei den Menschen des vierten nachatlantischen Zeitraumes Tapferkeit und Starkmut vorhanden, namentlich bei den Griechen und Römern, und auch bei den Völkern, denen die Ausbreitung des Christentums übergeben war. Diese Tapferkeit ist später verloren gegangen als die Weisheit. Wenn wir uns jetzt umsehen im fünften nachatlantischen Zeitraum, dann müssen wir sagen: Wir sind in bezug auf diese Tapferkeit und diesen Starkmut in einer Lage, wie die Griechen mit Bezug auf die Weisheit es waren den Chaldäern und Ägyptern gegenüber. Wir sehen zurück auf dasjenige, was ein Göttergeschenk im unmittelbar vorhergehenden Zeitraum war und was wir in einer gewissen Weise wieder anstreben können, aber bei diesem Anstreben muß in gewisser Beziehung eine Umwandlung vor sich gehen. Von dem, was als Starkmut und Tapferkeit als ein Göttergeschenk einen äußerlichen Charakter hat, können wir die Umwandlung sehen bei Franz von Assisi, als Folge einer inneren moralischen Kraft, die wir als Kraft des Christus-Impulses erkennen. Die Umwandlung von Starkmut und Tapferkeit ergibt dann dasjenige, was echte Liebe ist. Diese echte Liebe muß aber geleitet werden von der anderen Tugend, von dem Interesse, von der Teilnahme an demjenigen Wesen, auf das wir die Liebe anwenden. [6] Das Mitleid und die Mitfreude ist diejenige Tugend, welche in Zukunft die schönsten und herrlichsten Blüten im menschlichen Zusammenleben treiben muß. Stets aufs neue wird der Christus gekreuzigt, solange Unmoralität, Lieblosigkeit und Interesselosigkeit bestehen; da der Christus-Impuls die Welt durchdrungen hat, so ist es dieser, dem das Leid zugefügt wird. Ebenso wie es wahr ist, daß wir durch das zerstörende Böse dem Christus-Impuls etwas entziehen und gleichsam die Kreuzigung auf Golgatha weiter fortsetzen, so ist es auch wahr, wenn wir in Liebe handeln, daß wir überall da, wo wir diese Liebe gebrauchen, dem Christus-Impulse Geltung verschaffen, ihm zum Leben verhelfen. «Was ihr einem der Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan», das ist das bedeutungsvollste Wort der Liebe, und dieses Wort muß der tiefste moralische Impuls werden. [7]

Was wir als die Tugend der Bewußtseinsseele ansprechen können ist die Mäßigkeit, die Besonnenheit. Die Bewußtseinsseele besteht dadurch, daß sich der Mensch durch seine Körperlichkeit der Außenwelt bewußt wird. Der sinnliche Leib ist zunächst das Werkzeug der Bewußtseinsseele, und der sinnliche Leib ist es auch, durch den der Mensch sogar zum Ich-Bewußtsein kommt. Der sinnliche Leib muß daher erhalten werden. Würde der sinnliche Leib des Menschen für die Erdenmission nicht erhalten werden, dann könnte die Erdenmission nicht erfüllt werden. Aber eine Grenze besteht auch hier. Wenn der Mensch alle seine Kräfte, die er in sich hat, nur benützte, um zu genießen, dann schlösse er sich in sich ab, dann würde ihn die Welt verlieren. Der Mensch, welcher sich alles versagt, macht sich immer schwächer und schwächer und wird endlich ergriffen von dem äußeren Weltprozeß, er wird zermürbt von dem äußeren Weltengang. Die Tugend, welche diese beiden Extreme vermeidet ist die Mäßigkeit, sie ist also weder Askese noch Schwelgerei, sondern die richtige Mitte zwischen beiden. [8] Es liegt eine Art Göttergeschenk bei dem Menschen vor, der ja ein instinktives Gefühl dafür hat, nicht zuviel nach der einen und nicht zuviel nach der anderen Seite zu tun. Aber ebenso, wie die anderen instinktiven Eigenschaften des Menschen verloren gegangen sind, wird auch diese verloren gehen beim Übergange von der fünften in den sechsten Kulturzeitraum. Als Naturanlage wird das verlorengehen. [9] Es wird ein Kern der Menschheit durch die Theosophie entwickelt werden, der nicht bloß instinktiv die Mäßigkeit als leitendes Ideal empfindet, sondern auch bewußte Sympathie zu dem hat, was den Menschen in würdiger Weise zu einem Baustein der göttlichen Weltordnung macht, und bewußte Abneigung hat gegen das, was den Menschen zerstört als Baustein der Weltordnung. So sehen wir auch in dem, was an dem Menschen selber gearbeitet wird, wie moralische Impulse vorhanden sind, und so finden wir dasjenige, was wir nennen können die Lebensweisheit, als die umgestaltete Mäßigkeit.

Das für die nächste, sechste nachatlantische Kulturperiode in Anspruch zu nehmende Ideal der «Lebensweisheit» wird diejenige ideale Tugend sein, die Plato nennt die «Gerechtigkeit». Das ist die harmonische Zusammenstimmung dieser Tugenden. [10]

Ein solches Leben der Seele, in welcher diese Erziehung zum Starkmut außer acht gelassen wird, wird dadurch gleichsam solche Ursachen legen, die wie inspirierend ins nächste Leben hinüberwirken und dort die Seele zum Selbstling, zum Egoisten machen. Und Gleichgültigkeit gegenüber aller Außenwelt, Interesselosigkeit, Unaufmerksamkeit, selbstsüchtiges verschlossenes Wesen üben, wirken so, daß es gleichsam wie eine Intuition, dieses gegenwärtige Wesen hinüberschickt in die nächste Verkörperung, und diese so intuitiert, daß es dann in seinen Anlagen schon eine Entfremdung mit der Umwelt, ein Nichtzusammenhängen mit der Umwelt erzeugt. Wer der Umwelt entfremdet ist, auf den wirkt sie so, daß sie ihn fortwährend krank macht, und das wirkt dann nicht nur auf die Seele, sondern das wirkt auch bis in den Leib hinein. Krankhafte, ungesunde Anlagen werden wie eine Intuition aus einem vorhergehenden Erdenleben in ein folgendes hineingeschickt. So wird Moral zur gestaltenden Kraft von dem einen Leben in das andere hinüber. [11]

Es ist eine große Täuschung, wenn jemand sich dem Glauben hingibt, daß es jemals eine Sittlichkeit, eine Moral geben kann, die nicht herausgewachsen ist aus der Grundlage eines Bekenntnisses, aus der Grundlage der Gefühlssphäre. Wenn eine Kulturströmung abflutet, flutet zuerst das Bekenntnis ab. Zuerst glaubt man nicht mehr die Dinge, die in dem Bekenntnis gegeben werden. Wenn aber lange schon nicht mehr der lebendige Glaube da ist, der den Menschen mit absoluter Sicherheit auf die Formen hinblicken läßt, dann sind noch immer die Empfindungen und Gefühle da, die sich in diesem Glauben ausgebildet haben. Und wenn auch diese Gefühle nicht mehr da sind, wenn der Mensch nicht mehr die ererbte Freudigkeit haben kann, dann ist noch immer die Moral da. Heute stehen die, welche glauben, eine solch bodenlose Moral gründen zu können, nicht auf dem Boden einer bodenlosen Moral. In Wahrheit leben sie unter den Resten der Moral und der Weltanschauung, die ihnen aus dem Bekenntnis geblieben sind als ererbtes Stück der Kultur. Diejenigen, welche sagen, alles Übersinnliche sei unzugänglich für den Menschen, alles Übersinnliche sei phantastisch, die handeln so, wie sie es tun, weil in ihnen noch die Moral der Vorzeit lebt. Viele Menschen gibt es, die das Bekenntnis glauben überwunden zu haben, doch stehen sie alle noch unter der Moral, die ihnen das Bekenntnis gegeben hat. Es gibt viele Sozialisten, die eine Moral begründen wollen, eine Moral, die aus dem Nichts heraus geboren ist. Warum können sie aber überhaupt über Moral reden? Warum verschwindet denn nicht alle Moral in ein Chaos hinein? Weil sie die alte Moral, die sie bekämpfen, noch in ihren Gliedern haben, weil sie eben staatliche Änderungen auf der Grundlage der überkommenen staatlichen Moral herbeiführen wollen. Sie ist hervorgewachsen aus der Vergangenheit.

Daher wird ein Fortschritt erst unter der Erneuerung der Erkenntnis des Übersinnlichen möglich sein, der übersinnlichen Welt, wenn es möglich ist, dem Menschen etwas zu geben, was ihn hinaufweist in die übersinnliche Welt, was ihn bekannt macht mit den Kräften, die uns umgeben und die hineinspielen in die Welt, die um uns ist. Ist es möglich, ihm diese Weisheit des Übersinnlichen zu vermitteln, dann wird dies eine Gefühlswelt der Lebenssicherheit und eine Moral begründen mit Impulsen für das Handeln. Dann leben wir nicht mehr von ererbten Gütern, sondern von dem, was aus der Zeit, in der wir leben, selbst entsprießen kann. [12]

Zitate:

[1]  GA 159, Seite 128f   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[2]  GA 155, Seite 110f   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[3]  GA 155, Seite 113f   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[4]  GA 155, Seite 115   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[5]  GA 155, Seite 117f   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[6]  GA 155, Seite 119f   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[7]  GA 155, Seite 121f   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[8]  GA 155, Seite 123f   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[9]  GA 155, Seite 125   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[10]  GA 155, Seite 128   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[11]  GA 62, Seite 440f   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[12]  GA 55, Seite 28f   (Ausgabe 1959, 278 Seiten)

Quellen:

GA 55:  Die Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Zeit und deren Bedeutung für das heutige Leben (1906/1907)
GA 62:  Ergebnisse der Geistesforschung (1912/1913)
GA 155:  Christus und die menschliche Seele. Über den Sinn des Lebens. Theosophische Moral. Anthroposophie und Christentum (1912/1914)
GA 159:  Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915)