Intellektualismus

Der heutige Intellektualismus geht von Begriffen aus, nicht von den Tatsachen, und wenn die Tatsachen mit den Begriffen nicht stimmen, so deutet er die Erscheinungen nach seinen Begriffen um. [1] Trotzdem die Menschen immer glauben, daß sie von Erfahrungen, von der Wirklichkeit, von dem praktischen Leben ausgehen, gehen sie eigentlich in Wirklichkeit doch überall nur von dem Begriffsleben, von Definitionen aus, statt von den Tatsachen. Die Menschen glauben, irgend etwas verstanden zu haben, wenn sie sich einen Begriff von der Sache verschafft haben. [2] Wenn wir hier in der physischen Welt leben und diese Welt auf uns wirken lassen, so unterscheiden wir für das heutige Bewußtsein, logisch, möchte ich sagen, richtig und unrichtig; wir nennen es auch wahr und falsch. Und wir prüfen nach logischen oder äußeren Wirklichkeitsgründen, ob etwas richtig oder unrichtig, wahr oder falsch ist. Dadurch kommen wir aber eben gerade in die Abstraktion, in das intellektualistische Leben hinein. Denn alles logische Unterscheiden, ob etwas wahr oder falsch ist, bewegt sich eben in abstrakten Begriffen, wenn man nur äußere Sinnesanschauung, in der Beobachtung oder im Experiment, zugrunde legt. Mit seinem Erkennen bewegt man sich trotzdem eben in abstrakten Begriffen. Dieselbe Abstraktheit der Begriffe können wir nicht beibehalten, wenn wir in die höheren Welten hinaufgehen. Da wird alles viel lebendiger, und es nimmt sich ähnlich dem Lebendigen aus, nicht bloß dem Gedachten. [3]

Man braucht nicht die intellektualistische Verarbeitung, wenn man den Inhalt des übersinnlichen Schauens in sich trägt, denn er hat die logische Struktur durch seine eigene Wesenheit in sich. Aber eben die Fähigkeit, zu diesem übersinnlichen Inhalte zu kommen, die ging allmählich der Menschheit verloren. Und die letzte Phase war dasjenige, was in der Gnostik erhalten ist (siehe: Gnosis). Aber die Gnostik ist nun schon durchsetzt von Intellektualismus. So daß man sagen kann, daß für die Menschheitsentwickelung in gewisser Beziehung der Intellektualismus aus der Gnostik herausgeboren wird. Er wird geboren aus übersinnlichem, aus spirituellem Inhalte. Der spirituelle Inhalt versiegt und das Intellektuelle bleibt zurück. Der in erster Linie tonangebende Geist, der nun schon ganz mit Intellektualismus arbeitet und bei dem man schon klar sieht – bei Plato tritt das noch nicht hervor –, wie die ältere Spiritualität aufgehört hat und der Mensch versucht, zu einer Weltanschauung zu kommen durch intellektuelle innere Arbeit, das ist Aristoteles. [4]

Das Streben, nur äußere sinnliche Empirie hereinzunehmen in das Wissen, ist durchaus ein Nachklang einer aus der christlichen Dogmatik hervorgehenden Seelengewohnheit. [5] Man versteht diese neuzeitliche Geistesentwickelung und man versteht auch den Materialismus nicht, wenn man sich nicht klar darüber ist, daß er nichts anderes ist als eine Fortsetzung mittelalterlichen Denkens, nur mit Weglassung der Anschauung, daß man aufsteigen müsse vom Denken zu dem, was übersinnlich ist, eben nicht durch menschliche Vernunft und menschliche Beobachtung, sondern durch Offenbarung, die in der Dogmatik gegeben ist. Das Zweite hat man einfach weggelassen. Aber die Grundüberzeugung für den einen Teil des Erkennens, für den auf die Sinneswelt bezüglichen, hat man beibehalten. Es ist wirklich ganz besonders wichtig, dieses Hervorgehen der neueren Naturanschauung aus der Scholastik ernsthaft anzuschauen, weil man immer glaubt, diese neuere Naturwissenschaft hätte sich im Gegensatze zur Scholastik gebildet. Wirklich, ebensowenig wie die neueren Universitäten in ihrer Struktur verleugnen können ihr Hervorgehen aus christlichen Unterrichtsanstalten des Mittelalters, ebensowenig kann die Struktur des neueren wissenschaftlichen Denkens ihr Hervorgehen aus der Scholastik verleugnen, von der sie nur etwas abgestreift hat, wie ich vorhin sagte (das Offenbarungswissen). Eine bis ins höchst Anerkennenswerte gehende Ausarbeitung der Begriffe und der Denktechnik, die ist auch verloren gegangen; daher werden gewisse Dinge, die sich da ergeben und die für den wirklichen Denker unbefriedigend sind, in der modernen naturwissenschaftlichen Erwägungsweise mit Eleganz übergangen. Aber dasjenige, was als Geist, als Sinn lebt in dieser modernen Naturerkenntnis, ist Kind der Scholastik. [6]

Die intellektualistische Weltanschauung liefert niemals Weltanschau-ungsgesetze, sie führt zuletzt zum vollständigen Luziferianismus. Sie luziferianisiert in Wirklichkeit die Welt. [7] So wie sich der menschliche Leichnam zum Menschen verhält, der gestorben ist, so verhält sich der Intellektualismus zum Wesen des Geistes. Er trägt noch die Form, aber das Leben des Geistes ist aus dem Intellektualismus gewichen. Und so wie der menschliche Leichnam durchdrungen werden kann von Ingredienzien, die seine Form konservieren, was die ägyptischen Mumien zeigen, so kann man, indem man den Leichnam des Geistes mit Beobachtungsresultaten, mit Experimentierresultaten ausstaffiert, auch ihn konservieren. Dieses Tote kann in wunderbarer Weise das Tote in der Welt wiedergeben. Aber man bekommt im Intellektualismus kein wirklich Geistiges, ebensowenig wie aus der Mumie ein wirklicher Mensch gemacht werden kann. Solange es sich darum handelt, gerade dasjenige zu konservieren, was durch die Ehe zwischen Beobachtung und Intellekt konserviert werden soll, solange kann man nur sagen: Die Leistungen der neueren Zeit sind großartig. In dem Augenblick, wo der Mensch sich selber die Aufgabe setzen muß, sich im Tiefsten seiner Seele nur mit dem, was sein Geist sich innerlich selber vorhält, zu verbinden, in dem Augenblicke gibt es keine Verbindung zwischen dem Intellektualismus und der Menschenseele. Dann gibt es nur das eine, daß der Mensch sich sagt: Ich dürste nach etwas, und alles, was mir aus intellektualistischen Untergründen aus der Welt entgegentritt, gibt mir nicht Wasser für diesen Durst. [8]

Was man intellektualistisch kann im 60. Lebensjahre, das kann man auch schon im 19. Der Intellektualismus ist eben eine Etappe, die einmal während der Bewußtseinsseelenzeit erreicht wird, aber keinen Fortschritt mehr erfährt im Sinne einer Vertiefung, sondern nur im Sinne der Übung. [9]

Dasjenige, was intellektualistischer Seeleninhalt ist, ist im besten Falle nur Bild des Geistigen, es ist sterblich wie der menschliche Leib. Denn gerade das Intellektualistische wird restlos durch den Leib vermittelt. Alles Seelenleben, das intellektualistisch vermittelt wird, entsteht nach der Geburt und geht mit dem Tode zugrunde. Dasjenige, was in der Seele ewig ist, ist erst hinter dem Intellektualistischen. Also, kein abstrakter Begriff geht durch die Todespforte mit uns, sondern nur dasjenige, was wir über abstrakte Begriffe hinaus im Leben erlebt haben. Daher ist es auch so, daß aus der jetzigen Bevölkerung heraus viele Seelen nach dem Tode ein langes Schlafleben führen müssen, weil sie nur eingespannt waren in Intellektualität und weil die Intellektualität abdämmert nach dem Tode und der Mensch sich dann erst in langer Zeit einen überintellektualistischen Inhalt erobern muß, den er wiederum verarbeiten kann für das nächste Erdenleben. Es ist tatsächlich so, daß vieles von der jetzigen Lebenszeit durch das intellektuelle Leben für die Menschen in ihrer Gesamtentwickelung verlorengeht. [10]

Zitate:

[1]  GA 209, Seite 77   (Ausgabe 1982, 200 Seiten)
[2]  GA 209, Seite 93   (Ausgabe 1982, 200 Seiten)
[3]  GA 209, Seite 81f   (Ausgabe 1982, 200 Seiten)
[4]  GA 206, Seite 63   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[5]  GA 206, Seite 69   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[6]  GA 206, Seite 72f   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[7]  GA 196, Seite 19   (Ausgabe 1966, 305 Seiten)
[8]  GA 217, Seite 70f   (Ausgabe 1988, 206 Seiten)
[9]  GA 217, Seite 147   (Ausgabe 1988, 206 Seiten)
[10]  GA 342, Seite 96   (Ausgabe 1993, 164 Seiten)

Quellen:

GA 196:  Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung (1920)
GA 206:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Zweiter Teil:. Der Mensch als geistiges Wesen im historischen Werdegang (1921)
GA 209:  Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse. Das Fest der Erscheinung Christi (1921)
GA 217:  Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation. Pädagogischer Jugendkurs (1922)
GA 342:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, I. Anthroposophische Grundlagen für ein erneuertes christlich-religiöses Wirken (1921)