Mysterien ephesische

Die Mysterienstätte von Ephesus, war so, daß sie in ihrem Mittelpunkte das Bildnis der Göttin Artemis hatte. Wenn heute einer die Nachbildung der Göttin Artemis von Ephesus anschaut, so hat er nur die groteske Empfindung einer Frauengestalt mit lauter Brüsten, weil er keine Ahnung hat, wie solche Sachen in alten Zeiten erlebt worden sind. Auf das Erleben dieser Dinge kam es ja in alten Zeiten an. Die Schüler der Mysterien hatten Vorbereitungen durchzumachen, durch die sie dann zum eigentlichen Zentrum der Mysterien geführt wurden. Das Zentrum dieser ephesischen Mysterien war dieses Artemisbildnis. Wenn sie zu diesem Zentrum geführt wurden, so wurden sie eins mit einem solchen Bildnis. Und indem man sich hineinfühlte in das Bildnis der Artemis, bekam man innerlich die Anschauung seines Zusammenhanges mit den Ätherwelten. Man fühlte sich eins mit der Sternenwelt. Man fühlte nicht die irdische Substantialität innerhalb der menschlichen Haut, man fühlte sein kosmisches Dasein. Man fühlte sich im Ätherischen. Und durch dieses Sich-Fühlen im Ätherischen ging einem auf, was frühere Zustände des Erdenlebens des Menschen waren, und des Erdenlebens an sich. [1] In den Mysterien von Ephesus war es so, daß der ganze Dienst, welcher der exoterisch Artemis genannten Göttin von Ephesus dargebracht wurde, eigentlich darauf gerichtet war, das geistige Weben und Leben innerhalb des Äthers der Welt, innerhalb des Äthers des Kosmos, mitzuerleben. Man kann schon sagen, wenn die Angehörigen des Mysteriums von Ephesus sich dem Götterbilde nahten, dann war es eine Empfindung, die sich aber steigerte bis zum Anhören, und die etwa so auszudrücken ist, wie wenn es die Sprache der Göttin wäre: Ich freue mich über alles Fruchttragende im weiten Weltenäther. Und innig verwandtes Fühlen mit dem Sprießen und Sprossen war ja insbesondere etwas, was wie ein Zauberhauch die Atmosphäre, die geistige Atmosphäre von dem ephesischen Heiligtum durchströmte. [2] Und mannigfache von denjenigen Wanderern, die von Mysterium zu Mysterium gingen, um das Ganze des Mysterienwesens auf sich wirken zu lassen, haben doch immer wieder versichert: so hell, so innig, wie ihnen in Ephesus erklungen ist die Sphärenharmonie aus dem Wahrnehmen vom Mondengesichtspunkte aus, wo ihnen erschienen ist das leuchtende Astrallicht der Welt, indem sie es verspürt haben in dem den Mond umglimmenden Sonnenlichte, das durchgeistigt ist, so wie der Mensch beseelt ist, durchgeistigt ist vom Astrallichte, so haben sie an anderen Orten das nicht, wenigstens nicht mit jener Freudigkeit, mit jener inneren Künstlerauffassung wahrnehmen können. [3]

Es war dieses Mysterium schon so angeordnet, so eingerichtet, daß man sagen kann, nirgends ist eigentlich so mitgelebt worden mit dem Wachsen des Pflanzenwesens, mit dem Sprießen und Sprossen der Erde in das Pflanzenwesen hinein, als in Ephesus. Das führte denn auch dazu, daß gerade an diesem ephesischen Mysterium mit besonderer Deutlichkeit der Unterricht gegeben werden konnte, wenn ich es so nennen darf, der darauf hinausging, besonders das Mondengeheimnis an das Gemüt der zu Ephesus Gehörigen heranzubringen. Es war etwas, was jeder wie sein eigenes Erlebnis hatte, sich zu fühlen als Lichtgestalt, weil das so lebendig gemacht wurde vor den ephesischen Schülern und Initiierten. Derjenige, der diese Einrichtung in der Weihestätte auf sich wirken lassen konnte, der wurde wirklich ganz hineinversetzt in dieses sich Herausbilden aus dem den Mond umwandelnden Sonnenlichte. Dann tönte es an ihn heran, wie wenn es von der Sonne herübertönte: J O A. Dieses J O A, von dem er wußte, daß es regsam macht sein Ich, seinen astralischen Leib; J , O – Ich, astralischer Leib, und das Herankommen des Lichtätherleibes in dem A = J O A. Jetzt fühlte er sich, indem vibrierte in ihm das J O A, jetzt fühlte er sich als Ich, als astralischen Leib, als ätherischen Leib. Und dann war es, wie wenn von der Erde heraufklänge, denn der Mensch war versetzt in das Kosmische, wie wenn von der Erde heraufklänge dasjenige, was das J O A durchsetzte eh-v. Das waren die Kräfte der Erde, die heraufkamen in dem eh-v. Und nun fühlte er, in dem J eh O v A fühlte er den ganzen Menschen. Das Vorgefühl des physischen Leibes fühlte er angedeutet in den Konsonanten, die hinzugehörten zu dem Vokalischen, was in dem J O A andeutet Ich, Astralleib, Ätherleib. Dieses sich Einleben in dem J eh O v A, das war es, was den ephesischen Schüler erfühlen ließ die letzten Schritte für das Heruntersteigen aus der geistigen Welt. Aber es war zu gleicher Zeit diese Erfühlen des J O A so, daß man sich fühlte im Lichte drinnen als diesen Klang J O A. Dann war man Mensch: klingendes Ich, klingender astralischer Leib, in lichtglänzendem Ätherleib. Dann war man Klang im Licht. So ist man als kosmischer Mensch. Dann fühlte sich dieser Schüler wirklich, wenn er in sich trug dieses J O A, wie versetzt in die Mondensphäre. Er nahm teil an demjenigen, was beobachtet werden konnte vom Gesichtspunkte des Mondes aus. [4]

Der Schüler hob sich hinaus mit seinem ganzen inneren Erleben und Empfinden vom bloßen Erdenleben, er hob sich in das Erleben des Weltenäthers hinein. Ihm wurde zunächst vermittelt, was eigentlich die menschliche Sprache ist. Und an der menschlichen Sprache, also dem menschlichen Abbild, dem menschlichen abbildlichen Logos gegenüber dem Welten-, dem kosmischen Logos, an dem wurde ihm klargemacht, wie das Weltenwort schöpferisch durch den Kosmos webt und wallt. Der Schüler wurde besonders aufmerksam darauf gemacht, wirklich zu erleben, was da geschieht, wenn der Mensch spricht, wenn er dem Atmungsaushauch das Wort einprägt. Der Schüler wurde zum Erleben dessen geführt, wie dasjenige, was er da durch seine eigene innere Tat in Leben überführt, in dem luftigen Elemente geschieht, daß aber mit dem, was da im luftigen Elemente geschieht, zwei andere Vorgänge verbunden sind. Während dieser Aushauch, zu Worten geformt, aus unserer Brust nach außen strömt, geht nach unten die rhythmische Schwingung über in das flüssige Element, das den menschlichen Organismus durchzieht. Und würde nicht mitschwingen das wäßrige Element im Menschen, die Sprache ginge neutral nach außen, gleichgültig nach außen; der Mensch würde nicht mitfühlen mit dem Gesprochenen. Nach oben aber, nach dem Kopf, geht das Wärmeelement, und es begleiten die Worte, die wir dem Aushauche einprägen, die nach oben strömenden Wärmewellen, die unser Haupt durchdringen, und die da bewirken, daß wir die Worte mit Gedanken begleiten. So daß, wenn wir sprechen, wir es zu tun haben mit dreierlei: mit Luft, Wärme, Wasser oder Flüssigkeit. Dieser Vorgang, der erst ein Gesamtbild dessen gibt, was im menschlichen Sprechen webt und lebt, dieser Vorgang wurde zum Ausgangspunkt genommen bei dem Schüler von Ephesus. Und dann wurde ihm klargemacht, wie dieses, was da im Menschen sich abspielt, ein vermenschlichter Weltenvorgang ist, daß in einer gewissen älteren Zeit die Erde selber so gewirkt hat, daß in ihr nun nicht das luftförmige, aber das wäßrige, das flüssige Element, als flüchtig-flüssiges Eiweiß, in einer solchen Wellenbewegung war. So wie dann im Menschen im Kleinen die Luft beim Aushauche ist, wenn er spricht, so war dereinst das die Erde als Atmosphäre umgebende flüchtig-flüssige Eiweiß. Und das ging dann über, so wie hier das Luftförmige in das Wärmeelement, in eine Art Luftelement, und unten in einer Art erdigen Elementes. So daß, wie bei uns in unserem Körper durch das flüssige Element die Gefühle entstehen, so entstanden in der Erde die Erdenbildungen, die Erdenkräfte, alles dasjenige, was in der Erde wirkt und wellt an Kräften. Und es entstand darüber im luftigen Element dasjenige, was webende kosmische Gedanken sind, die da schaffend wirken im Irdischen. Das war ein majestätischer, gewaltiger Eindruck, den der Mensch in Ephesus bekam, wenn er aufmerksam darauf gemacht wurde, daß in seiner Sprache der mikrokosmische Nachklang dessen lebt, was einmal makrokosmisch war. (Der Schüler lernte): Ebenso, wie in dir das Menschlichste der mikrokosmische Logos ist, so war einstmals der Logos im Urbeginn, und war bei Gott, und war selber ein Gott. Das wurde in Ephesus gründlich, weil durch den Menschen und am Menschen selber, verstanden. [5]

Der Mysterien-Unterricht in Ephesus verwies zunächst auf dasjenige, was in der menschlichen Sprache erklingt. Der Schüler wurde immer wieder und wieder ermahnt: Fühle in deinen eigenen Sprachwerkzeugen, was da eigentlich vorgeht, indem du sprichst. Die Vorgänge im Sprechen sind nicht durch grobe Empfindung wahrzunehmen, denn sie sind fein und intim. Und von diesem Äußerlichen des Sprechens wurde ja bei den ephesischen Mysterien im Unterrichte zunächst ausgegangen.

Da wurde der Schüler aufmerksam gemacht, wie das Wort aus dem Munde erklingt. Es wurde ihm immer wieder und wiederum gesagt: Merke auf, was du empfindest, wenn das Wort aus dem Munde erklingt. Und der Schüler sollte zunächst merken, wie gewissermaßen vom Worte etwas nach oben sich wendet, um den Gedanken des Hauptes in sich aufzunehmen; und wie dann wiederum von demselben Worte etwas nach unten im Menschen sich wendet, um den Empfindungsgehalt des Wortes innerlich zu erleben. Immer wieder und wieder wurde der Schüler darauf verwiesen, die äußersten Extreme des Sprechens sich durch die Kehle zu drängen und dabei das Auf- und Abwogende, das im Worte, das aus der Kehle dringt, wahrzunehmen ist, zu beobachten. Ich bin, ich bin nicht: eine positive, eine negative Behauptung sollte in einer möglichst artikulierten Weise der Schüler sich durch die Kehle dringen lassen und dann beobachten, wie gefühlt wird im: Ich bin – mehr das Aufsteigen, im: Ich bin nicht – das Abwärtsdringende. Aber nun wurde der Schüler mehr noch auf die intimen inneren Empfindungen und Erlebnisse des Wortes verwiesen, wie er wahrnehmen konnte: Vom Worte steigt etwas auf wie Wärme nach dem Kopfe hin, und diese Wärme, dieses Feuer, fängt den Gedanken ab. Und nach unten fließt etwas wie wäßriges Element; das ergießt sich nach unten, wie sich eine Drüsenabsonderung in den Menschen ergießt. Und dann wurde der Schüler eingeführt in das eigentliche Geheimnis des Sprechens. Aber dieses Geheimnis hängt zusammen mit dem Geheimnis des Menschen. Dasjenige, was als Luft aus der Kehle dringt, verwandelt sich im Herausdringen abwechselnd in das nächste, höhere Element, in das Wärme- oder Feuerelement – und wiederum in das Wasserelement. [6] Und der Schüler fühlte allmählich, wie wenn er mit seinem eigenen Leibe als einer Hülle das Weltengeheimnis, das aus seiner Brust tönt und im Sprechen lebt, umschließen würde. [7] Es wurde das, was große Welt war, das makrokosmische Mysterium, zum mikrokosmischen Mysterium der Menschensprache. Und auf das makrokosmische Mysterium, die Übersetzung in die Maya, in die große Welt, deutet der Beginn des Johannes-Evangeliums hin: «Im Urbeginne war der Logos. Und der Logos war bei Gott. Und ein Gott war der Logos». Denn das war dasjenige, was lebte und webte noch in der Tradition zu Ephesus, auch als der Evangelist, der Schreiber des Johannes-Evangeliums, in der Akasha-Chronik zu Ephesus lesen konnte dasjenige, wonach sein Herz dürstete: die richtige Einkleidung für das, was er das Geheimnis des Weltenwerdens der Menschheit sagen wollte. [8]

Erst in Ephesus waren die Mysterienschüler auf ihre eigene Reife, nicht mehr auf Jahreszeitenlauf angewiesen. Da war zuerst die erste Spur von Persönlichkeit aufgetreten. Da hatten auch Aristoteles und Alexander der Große in früheren Inkarnationen den Impuls der Persönlichkeit empfangen. Wenn die Schüler nur eine Spur jener Schulung hatten, die in Ephesus zu erlangen war, dann kam es, indem sie sich besannen, daß auftauchten in ihrer Seele, wie heute die Erinnerungen an das persönliche Leben auftauchen, die Ereignisse des vorirdischen Daseins und auch die Ereignisse, die der Erdentwickelung in den einzelnen Reichen der Natur vorangegangen sind: Mondenentwickelung, Sonnenentwickelung. Da konnte man in sich hineinschauen, und man schaute Kosmisches, Verbindung des Menschen mit Kosmischem, gleichsam das Hängen des Menschen an dem Kosmischen. Das, was in der Seele lebte, war Selbsterinnerung. [9]

Die älteren ephesischen Schülern brauchten keine Geschichtsbücher. Aufschreiben dasjenige, was geschehen ist, wäre ihnen lächerlich erschienen. Denn man mußte nachdenken, genügend tief nachdenken, dann kam herauf aus dem Untergrunde des Bewußtseins dasjenige, was geschehen ist. Und kein moderner Medikus war da, der das als Psychoanalyse darstellte, sondern es war gerade das Entzücken der Menschenseele, in dieser Weise heraufzuholen aus einem lebendigen Erinnern dasjenige, was einstmals da war. Dann kam die Zeit, in der die Menschheit als solche vergessen hatte und notdürftig aufschreiben mußte dasjenige, was geschehen ist. Aber während die Menschheit das verkümmern lassen mußte, was früher in der Menschenseele kosmische Erinnerungskraft war, während die Menschheit stümperhaft anfangen mußte aufzuschreiben die Weltereignisse, Geschichte zu schreiben und so weiter, während der Zeit entwickelte sich im menschlichen Inneren das persönliche Gedächtnis, die persönliche Erinnerung. [10]

Es waren allerdings in Ephesus uralte Erkenntnisse noch herrschend, aber sie waren auch bewahrt in Ephesus bis in jene Zeiten hinein, in denen Homer gewirkt hat, ja, bis in die Zeiten hinein, wenn auch dann schwächer, in denen Heraklit eingeweiht worden ist. Und es wurden schon große Geheimnisse des Daseins, tief spirituelle Geheimnisse in die menschlichen Worte hineingezogen, wenn die Gespräche geführt wurden, etwa unmittelbar nachdem die an den Mysterien Teilnehmenden ihre mächtigen Impulse empfangen hatten bei den Kulten und bei den Einzelheiten der Kulte im Tempel zu Ephesus (der als eines der sieben Weltwunder betrachtet wurde). Und es waren tiefe Gespräche, die das dann fortsetzten, wenn die am Kultus Teilnehmenden herausgetreten sind aus diesem Tempel (der außerhalb der Stadt war) und dann, etwa gerade dann, wenn die äußere Welt am fruchtbarsten ist für solche Dinge, in der Abenddämmerung, jenen Weg angetreten haben, der von der Tempelpforte hineinführte in eine Waldung, die wunderbare Gänge hatte, in jene Waldung, mit schwärzlich-grünen Bäumen bewachsen, wo sich die Wege in schöner Perspektive nach den verschiedenen Seiten von Ephesus verloren. Gespräche von solcher Art möchte ich in ein unvollkommenes Bild bringen. Da war es so, daß derjenige, der von der einen Seite initiiert war in die Geheimnisse von dazumal, dann wohl ins Gespräch kam mit einem Schüler oder einer Schülerin. Denn bemerkt werden muß, daß in jenen alten Zeiten die Gleichberechtigung des männlichen und weiblichen Geschlechtes viel lebendiger war, als sie etwa in unserer Zeit ist. Und gerade der Proserpina-, der Persephoneia-Mythus in seiner spirituellen Gestalt war in jenen Gesprächen ganz lebendig. Der Eingeweihte konnte etwa das Folgende zu seinem Zögling sagen: Schaue die Majestät, die Größe, aber auch das Sprießende, Sprossende des Lebens oben und unten. Und dann schaue dich selbst an. Bedenke, wie in dir lebt und webt ein ganzes Weltenall, wie in alledem, was in dir zirkuliert, in alledem, was in dir sein Dasein in Geschehnissen hat, eine Fülle von Tatsachen, eine Fülle von Wesensverwandlungen in jedem Augenblicke vorhanden ist. Fühle, wie du selber eine ganze Welt bist, die geheimnisvoller, großartiger, wenn auch dem Raume nach kleiner ist als das Universum. Und dann empfinde, wie du jetzt aus deiner Welt herausschaust in die Welt, die von der Erde bis zu den Sternen reicht. Du wirst dann vom Schlaf umfangen sein, dann wirst du in der Welt sein, die du jetzt überschaust von der Erde bis zu den Sternen, dann wirst du in deiner Außenwelt leben und wirst zurückschauen auf dasjenige, was du als eine Welt in dir bist. [11]

Und es konnte in jenen alten Zeiten noch so gesprochen werden von dem Lehrer zu dem Zögling, denn es war eben noch das äußere Anschauen während des Tagwachens nicht so konturiert, sondern so wie ich es Ihnen (s. oben: Mysterien eleusinische) beschrieben habe. Und es war das Schlafen noch nicht von völliger Finsternis durchdrungen, und man wies hin auf Erlebnisse, wenn man auf den schlafumfangenen Zustand hinwies: Um dich ist jetzt Proserpina oder Persephoneia, Kore. Kore lebt in den Sternen. Kore lebt in den Sonnenstrahlen und Mondenstrahlen. Kore lebt in den aufwachsenden Pflanzen. Überall ist es Persephoneias Wirksamkeit, die da lebt, denn sie hat das Kleid gewoben, aus dem alles das ist. Und hinter alledem ist Demeter, ihre Mutter, für die sie das Kleid gewoben hat, das du jetzt schaust als äußere Welt. Und sieh, wenn einer länger wach bleiben wird als du – so sagte der Lehrer zu seinem Zögling –, dann wird der, während du schläfst, dasjenige, was äußerlich als Gestalt der Proserpina in Pflanzen, in Bergen, in Wolken, in Sternen auftritt, ebenso sehen wie du, denn das ist die Illusion, wie man das sieht. Nicht die Proserpina ist die Illusion, nicht dasjenige, was sie schafft, sondern so wie du schaust, das ist die Illusion. Und du wirst schlafen. Durch deine Augen, durch dieses wunderbare Daseinsrätsel Auge wird in dich einziehen Kore-Persephoneia. Und es wurde das so lebendig hingestellt, weil es so lebendig erlebt wurde, daß der Einschlafende nicht bloß fühlte: jetzt erlischt mein Sehvermögen, jetzt erlischt mein Hörvermögen, sondern daß der Einschlafende wahrnahm, wie untertauchte Persephoneia durch das Augenpaar in den Leib, in den physischen Leib, in den ätherischen Leib, die von dem Seelisch-Geistigen im Schlafe verlassen wurden. Die Oberwelt, man ist in ihr im Wachen; die Unterwelt, man ist in ihr im Schlafen. Persephoneia ist durch das Auge in den schlafenden physischen und Ätherleib eingezogen. Persephoneia ist bei Pluto, dem Herrscher über den Schlafzustand im physischen und ätherischen Leibe. Die Wirksamkeit des Pluto im Vereine mit Persephoneia erlebte der schlafende Zögling, der durch diese Direktion, die er bekommen hatte dadurch, daß ihm der Einzug der Kore durch die Tore der Augen klargemacht worden war, der das ins Lebendige umgesetzt hat und im Schlafe nun die Taten des Pluto und der Persephoneia erlebte, während sein Lehrer anderes Entsprechendes erlebte, das mehr zusammenhing mit den Formdingen.

Dann, wenn sie wieder zusammenkamen, dann hatten sie beide ihre Geheimnisse erlebt. Dann konnten sie sprechen über eine Pflanze, über einen Baum. Dann schilderte wohl der Lehrer, wie sich die Formen bilden, denn das hatte sich ihm gerade dargestellt während des Schlafes. Dann drang er ein in die Formen der Blätter, des Stammes, in die Figuration der Welt, in jene Figurationen, die sich sozusagen von oben nach unten senken. Und vielleicht hatte der Zögling das andere erlebt: Er konnte vielleicht dasjenige erlangen, wovon der Lehrer sprach, wenn er von den Geheimnissen des Chlorophylls, von den Geheimnissen der Pflanzensäfte, die von unten nach oben in der Pflanze sich ausbreiten, erzählte. So ergänzten sich wunderbar die Gespräche, indem im lebendigen Umfassen der Göttin Proserpina, die die andere Seite zeigte den Menschen während des Schlafens in der Unterwelt, diese Geheimnisse in die menschliche Seele herein sich offenbarten. Und so lernte in jenen alten Zeiten der Schüler von dem Lehrer, der Lehrer von dem Schüler. Denn auf der einen Seite waren die Offenbarungen geistig-seelisch, auf der anderen Seite seelisch-geistig. Und ein Gespräch, das in dieser Weise unter Menschen sich abspielte, gab in Menschengemeinschaft, in gemeinschaftlichem menschlichen Erleben die höchsten Erkenntnisse. [12]

Das ist der große Umschwung im Mysterienwesen vom alten Orient nach Griechenland herüber, daß die alten orientalischen Mysterien unterworfen waren den Bedingungen von Erdenort und Erdenraum, daß die griechischen Mysterien diejenigen waren, wo der Mensch in Betracht kam mit dem, was er den Göttern entgegenbrachte. Mitten drinnen zwischen den alten orientalischen und den griechischen Mysterien stand das von Ephesus. Es hatte eben seine besondere Stellung. Denn in Ephesus konnten jene, die dort die Einweihung gewannen, durchaus noch etwas von den gigantischen, majestätischen Wahrheiten des alten Orients erfahren. Sie wurden noch berührt von dem inneren Empfinden und Fühlen des Zusammenhanges des Menschen mit dem Makrokosmos und dem göttlich-geistigen Wesen des Makrokosmos. Und die Identifizierung mit der Artemis, mit der Göttin des Mysteriums von Ephesus, die brachte eben noch jenen lebendigen Zusammenhang: Die Pflanzenwelt ist die deine, die Erde hat sie nur aufgenommen. Die Tierwelt hast du überwunden, du hast sie zurücklassen müssen. Du mußt möglichst mit Mitleid schauen auf die Tiere, die auf dem Wege zurückbleiben mußten, damit du Mensch werden konntest. – Dieses Sich-eins-Fühlen mit dem Makrokosmos, das wurde noch aus den unmittelbaren Erlebnissen, noch aus den Realitäten dem Eingeweihten von Ephesus überliefert. Aber es war in Ephesus schon als dem ersten Mysterium, das gegen das Abendland zugekehrt war, die Unabhängigkeit von den Jahreszeiten oder von dem Jahrhundertlauf, kurz, von Ort und Zeit auf Erden. In Ephesus kam es schon an auf die Exerzitien, die der Mensch machte, auf die Art und Weise, wie er sich durch Opferung und Hingabe an die Götter reif gemacht hatte. So daß in der Tat das Mysterium von Ephesus auf der einen Seite durch den Inhalt der Mysterienwahrheiten noch hinweist nach dem alten Oriente, und dadurch, daß es schon herangerückt war an die menschliche Entwickelung, an das Menschentum, war das Mysterium von Ephesus wiederum dem Griechentum schon zugeneigt. Es war sozusagen das letzte Mysterium da drüben im Osten, wo noch die alten gigantischen Wahrheiten an die Menschen herantraten, herantreten konnten. Denn im Osten waren sonst die Mysterien schon in die Dekadenz gekommen. [13]

Heraklit, viele der größten Philosophen, auch Platon, Pythagoras, sie alle haben noch von Ephesus gelernt. Ephesus war wirklich dasjenige, was bis zu einem gewissen Punkte bewahrt hatte die alten orientalischen Weistümer. Und auch diejenigen Individualitäten, die in Aristoteles und Alexander der Große waren, in Ephesus konnten sie erfahren (in einer Vorinkarnation), etwas später als Heraklit, was dann noch an altem Wissen in den orientalischen Mysterien war, das als Erbstück geblieben ist in dem Mysterium von Ephesus. Innig verbunden insbesondere mit der Alexanderseele war dasjenige, was in Ephesus an Mysterienwesen lebte. [14]

Es waren gewisse geistige Mächte am Werke, die in der Persönlichkeit des Herostrat, ich möchte sagen, nur ihren äußeren Ausdsruck gefunden haben. Herostrat war sozusagen der letzte Degen, den vorstreckten gewisse geistige Mächte von Asien. Und als Herostrat die Brandfackel in den Tempel von Ephesus hineinschleuderte, waren hinter ihm, gewissermaßen ihn nur haltend als das Schwert oder als die Fortsetzung der Brandfackel, dämonische Wesenheiten, welche im Grunde genommen vorhatten, kein Spirituelles hinüberzulassen in diese europäische Zivilisation. [15] Man stelle sich vor, was hätte werden müssen, wenn dieses gigantische Dokument, das Mysterium von Ephesus (das Weltwunder), dagewesen wäre , wenn also auch in der Alexander-Inkarnation Alexander der Große das Mysterium von Ephesus noch angetroffen hätte! Man stelle sich das vor, und man würdige die Tatsache, daß an dem Tage, an dem Alexander geboren wurde, Herostrat die Brandfackel in das Heiligtum von Ephesus geworfen hat, so daß das Artemision an dem Tage, an dem Alexander geboren wurde, durch Frevlerhand abgebrannt ist. Es war nicht mehr gefunden dasjenige, was gerade geknüpft war an seine Denkmal-Dokumente. Das war nun nicht mehr da; das war im Grunde genommen allein jetzt als historische Mission in der Seele des Alexander und in seinem Lehrer Aristoteles. Und nun werden Sie verstehen können, daß ja mit Ephesus wie ausgelöscht war dasjenige, was im Orient real, reale Offenbarung des Göttlich-Geistigen war. Die anderen Mysterien waren im Grunde genommen nur noch Dekadenzmysterien, in denen Traditionen aufbewahrt wurden, wenn auch manchmal sehr lebhafte Traditionen, und Traditionen, die in besonders veranlagten Naturen allerdings hellseherische Kräfte hervorriefen. Aber die Großartigkeit, das Gigantische der alten Zeit war nicht da. Mit dem Artemision von Ephesus war ausgelöscht dasjenige, was aus Asien herübergekommen war. Nun würdigen Sie den Entschluß in der Seele Alexanders des Großen: Diesem Orient, der verloren hat dasjenige, was er einst hatte, muß es wenigstens gebracht werden in der Form, in der es in Griechenland im Schattenbilde sich bewahrt hat. [16] Aber indem dieser Tempel brannte spielte sich ja etwas ab. Wie viel Geistiges an Licht und Weisheit ist durch diese Tempelräume gegangen. Und alles, was da durch diese Tempelräume ging, ist ja mitgeteilt worden, während die Flammen herausschlugen aus dem Tempel zu Ephesus, ist ja mitgeteilt worden dem Weltenäther. So daß man sagen kann: das kontinuierliche Osterfest zu Ephesus, das in den Tempelräumen eingeschlossen war, ist seither eingeschrieben, wenn auch mit weniger deutlich wahrnehmbaren Lettern, in den ganzen Weltendom, insofern der Weltendom ätherisch ist. [17]

Zitate:

[1]  GA 233, Seite 56   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)
[2]  GA 233a, Seite 157   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[3]  GA 233a, Seite 161   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[4]  GA 233a, Seite 157ff   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[5]  GA 233, Seite 68ff   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)
[6]  GA 232, Seite 90f   (Ausgabe 1974, 222 Seiten)
[7]  GA 232, Seite 93   (Ausgabe 1974, 222 Seiten)
[8]  GA 232, Seite 98   (Ausgabe 1974, 222 Seiten)
[9]  GA 233, Seite 101f   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)
[10]  GA 233, Seite 103   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)
[11]  GA 243, Seite 86ff   (Ausgabe 1983, 246 Seiten)
[12]  GA 243, Seite 88f   (Ausgabe 1983, 246 Seiten)
[13]  GA 233, Seite 88f   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)
[14]  GA 233, Seite 91f   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)
[15]  GA 233, Seite 107   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)
[16]  GA 233, Seite 92f   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)
[17]  GA 233a, Seite 161f   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)

Quellen:

GA 232:  Mysteriengestaltungen (1923)
GA 233:  Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung und als Grundlage der Erkenntnis des Menschengeistes (1923/1924)
GA 233a:  Mysterienstätten des Mittelalters. Rosenkreuzertum und modernes Einweihungsprinzip - Das Osterfest als ein Stück Mysteriengeschichte der Menschheit (1924)
GA 243:  Das Initiaten-Bewußtsein. Die wahren und die falschen Wege der geistigen Forschung (1924)