Homer

Dessen Hellsehertum von den Griechen ja darin angedeutet ist, daß sie von dem «blinden» Homer sprachen. Homer von dem Reiche spricht, das der Mensch nach dem Tode durchlebt, da nennt er es das «Reich der Schatten, in dem kein Wechsel, keine Veränderung möglich ist». Dieser alte Seher konnte diese Stelle nur dadurch hinschreiben, daß die Wahrheit der spirituellen Welt in seine Seele hereinleuchtete! [1] Dies drückt auch der initiierte Dichter – Homer heißt der «blinde» Dichter, weil er innerlich schaut – in seiner Dichtung aus: «Singe, o Muse, vom Zorn mir, des Peleiden Achilleus». Das ist der göttliche Zorn, von dem der Dichter hier gleich am Anfange der Ilias spricht. In der Ilias wird das Ausleben des Kundalinifeuers auf dem physischen Plan dargestellt. Im Streit zwischen Agamemnon und Achilles flammt der Zorn als göttlicher Zorn auf. [2]

Wenn es einem Choleriker dann gelingt, an seinem Ätherleib doch Veränderungen hervorzurufen, dann erzeugt er in sich dadurch eine ganz besondere Eigenschaft: er wird fähiger als andere Leute, durch seine esoterische Entwickelung ordentlich sachgemäß und tief äußere Tatsachen in ihrem ursächlichen oder geschichtlichen Zusammenhang darzustellen. Tacitus zum Beispiel war im Anfang einer solchen instinktiven esoterischen Entwickelung. Und derjenige, der als Esoteriker den Tacitus liest, weiß, daß diese eigentümliche Art von Geschichtsschreibung herrührt von einer ganz besonderen Hineinarbeitung eines cholerischen Temperamentes in den Ätherleib. Ganz besonders aber tritt das dann hervor, wenn wir Darsteller haben, die eine esoterische Entwickelung durchgemacht haben. Homers plastische grandiose Darstellung verdankt er dem cholerischen Temperament, das in seinen Ätherleib hineingearbeitet hat. [3]

Die Griechen haben in Homer denjenigen gesehen, der erst im Alter geschaffen hat aus der frei gewordenen Seele, die aber miterlebte den verfallenden Organismus. [4] Wir sehen auch in der ganzen Gesinnung des Homer noch etwas von dem Chaldäischen. Dasjenige, was als Weltanschauung den Homerischen Gesängen zugrunde liegt, zeigt noch durchaus das bildhafte, das imaginative Vorstellen, noch jene Anschauung des Menschen, die auf das Bildhafte geht. [5]

Indem wir einatmen, nehmen wir die Schwingungen des Kosmos in uns auf und passen sie unserem inneren Menschen an. Indem wir wieder ausatmen, geben wir dem Atmungsrhythmus etwas mit von dem Vibrieren unseres Pulses in der Blutzirkulation. Das war das Studium, dem Homer oblag, als er insbesondere den Hexameter zur höchsten Blüte entfaltete, denn der ist aus dem Zusammenhange des Menschen mit der Welt herausgeboren. [6]

Zitate:

[1]  GA 141, Seite 24   (Ausgabe 1983, 200 Seiten)
[2]  GA 92, Seite 103   (Ausgabe 1999, 198 Seiten)
[3]  GA 145, Seite 60   (Ausgabe 1976, 188 Seiten)
[4]  GA 304, Seite 186f   (Ausgabe 1979, 228 Seiten)
[5]  GA 325, Seite 110f   (Ausgabe 1969, 173 Seiten)
[6]  GA 216, Seite 51   (Ausgabe 1965, 144 Seiten)

Quellen:

GA 92:  Die okkulten Wahrheiten alter Mythen und Sagen. Griechische und germanische Mythologie. Über Richard Wagners Musikdramen (1904-1907)
GA 141:  Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen (1912/1913)
GA 145:  Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) und sein Selbst? (1913)
GA 216:  Die Grundimpulse des weltgeschichtlichen Werdens der Menschheit (1922)
GA 304:  Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage (1921/1922)
GA 325:  Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum (1921)