Heraklit

Manerblickt in Anaxagoras und Heraklit die letzten Träger der Götterweisheit, die aber schon umgesetzt ist in Ideen und Begriffe. [1] Von Heraklit (535-475 v. Chr.) aus Ephesus ist die Beziehung zu dem Mysterienwesen ohne weiteres durch einen Ausspruch über ihn gegeben, der überliefert ist und der besagt, daß seine Gedanken «ein ungangbarer Pfad seien», daß wer zu ihnen ohne Weihe tritt, nur «Dunkel und Finsternis» finde, daß sie dagegen «heller als die Sonne» seien für den, welchen ein Myste einführt. Und wenn von seinem Buche gesagt wird, er habe es im Tempel der Artemis niedergelegt, so bedeutet auch das nichts anderes, als daß er von Eingeweihten allein verstanden werden konnte. Heraklit wurde der «Dunkle» genannt; aus dem Grunde, weil nur der Schlüssel der Mysterien Licht in seine Anschauungen brachte. Als eine Persönlichkeit mit dem größten Lebensernst tritt uns Heraklit entgegen. Auf dem Grunde einer solchen Gesinnung erwuchs sein berühmter Ausspruch «Alles ist im Fluß», den uns Plutarch mit den Worten erklärt: «In denselben Fluß steigt man nicht zweimal, noch kann man ein sterbliches Sein zweimal berühren. Sondern durch Schärfe und Schnelligkeit zerstreut er und führt wieder zusammen, vielmehr nicht wieder und später, sondern zugleich tritt es zusammen und läßt nach kommt und geht.» Der Mann, der solches denkt, hat die Natur der vergänglichen Dinge durchschaut. Denn Heraklit hat diese Charakteristik auch auf den Menschen ausgedehnt: «Dasselbe ist Leben und Tod, Wachen und Schlafen, Jung und Alt, dieses sich ändernd ist jenes, jenes wieder dies.» In diesem Satze spricht sich eine volle Erkenntnis von der Scheinhaftigkeit der niederen Persönlichkeit aus. Er sagt darüber noch kräftiger: «Leben und Tod ist in unserem Leben ebenso wie in unserem Sterben.» [2] Heraklit. faßte (als alter Eingeweihter) die von ihm gefundenen Wahrheiten in äußere Formeln, die von unzähligen Leuten fortgesponnen wurden. Sie glaubten, sie dächten ursprünglich; das war aber nicht der Fall. Ursprünglich lernt man nur denken, wenn man hinter die Dinge schaut und ihre reale Bedeutung begreifen kann. [3] Ein Ausspruch dieses griechischen Weisen lautet: Einer Seele Grenzen kannst du niemals finden, und wenn du auch alle Straßen abliefest; so umfassend ist der Seele Wesen. [4]

Zu Heraklit waren insbesondere gedrungen die Geheimnisse des Mysteriums von Ephesus, die Tatsachen, die dort die hellsichtigen Menschen ergründen konnten. Das, was er dort als Mitteilung erhalten hatte und was er seiner teilweisen Einweihung verdankte, hat er so verkündet, daß es allgemein verstanden werden konnte. Daher sieht der, welcher die Lehren des Heraklit, des sogenannten «Dunklen», liest, daß da etwas Tieferes zugrunde liegt, so daß man in diesen ursprünglichen Lehren noch durchscheinen sehen kann das unmittelbare Erlebnis, die Erfahrung der höheren Welten. Dann kamen die Nachfolger Heraklits. Sie hatten keine Ahnung mehr, daß dieses Mitgeteilte herausstammte aus den unmittelbaren Erlebnissen der höheren Welten. [5]

Heraklits Weltanschauung wird eine unbefangene Betrachtung ganz unmittelbar als Ausdruck seines cholerischen Innenlebens empfinden müssen. Er gehörte einem der vornehmsten Geschlechter von Ephesus an. Er wurde ein heftiger Bekämpfer der demokratischen Partei. Er wurde dies, weil sich ihm gewisse Anschauungen ergaben, deren Wahrheit sich ihm in unmittelbarem inneren Erleben darstellte. Die Anschauungen seiner Umgebung, an der seinigen gemessen, schienen ihm ganz naturgemäß unmittelbar die Torheit dieser Umgebung zu beweisen. Er kam dadurch in so große Konflikte, daß er seine Vaterstadt verließ und ein einsames Leben bei dem Artemistempel führte (dieser war außerhalb der Stadt). [6]

Diejenigen, die mit Thales haben anfangen lassen die Wissenschaft, haben recht gehabt; vorher war sie immer inspiriert, herausgeboren aus den Mysterien. So war es bei Heraklit, der noch inspiriert war von der alten Mysterienweisheit. Von ihm wird uns gesagt, daß er sein Buch auf dem Altar der Göttin zu Ephesos opferte. [7] Nehmen Sie Aristoteles, Plato, besonders den größten Philosophen des Altertums, Heraklit. Sie finden überall, daß da nicht das Hervorheben des Ich ist, sondern ein noch mehr oder weniger selbstloses – ich bitte den Ausdruck durchaus nicht zu pressen, aber man kann ihn anwenden, relativ – Ergreifen der Welterscheinungen mit dem verständigen Prinzip, ohne daß man sich in einer so scharfen Weise selber heraushebt aus den Welterscheinungen, wie das angestrebt wird im neuen Zeitalter, in dem Bewußtseins(seelen)zeitalter, in dem wir jetzt leben. [8] Heraklit lehrte, daß es eine alles lenkende Vernunft im Weltall gebe und daß es höchste Aufgabe des Menschen sei, diese lenkende Weisheit, die sowohl in der Natur wie im Menschen tätig sei, zu erkennen. Dieser allgemeinen Weisheit gemäß müsse der Mensch leben, nicht im Sinne seiner besonderen Gesetze. In der Erkenntnis, daß alles, was der Mensch tut, ein Ausfluß der höchsten Weisheit ist, findet Heraklit die höchste Einsicht. [9]

Unser Erdendasein fing in seiner ersten Metamorphose an als ein Planet der Wärme, und daraus können Sie schon entnehmen, wie es richtig ist, wenn zum Beispiel der alte Heraklit sagt: Alles ist aus dem Feuer entsprungen. – Ja selbstverständlich! Weil die Erde nur der verwandelte alte Saturn ist, so ist auch alles auf der Erde aus diesem Feuer herausgekommen. Das war eine Wahrheit, die Heraklit aus den alten Mysterien hatte. Das wird auch angedeutet, indem gesagt wird, daß er das Buch, in dem er diese Wahrheit niedergeschrieben hatte, der Göttin zu Ephesus geweiht, auf dem Altar dort niedergelegt hat. Das bedeutet, daß er sich bewußt war, daß er diese Weisheit den Mysterien, den ephesischen Mysterien verdankt, wo in ihrer Reinheit diese Lehre vom Urfeuer Saturn noch immer verkündet worden ist. [10]

Zitate:

[1]  GA 184, Seite 223   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[2]  GA 8, Seite 38ff   (Ausgabe 1959, 194 Seiten)
[3]  GA 96, Seite 102   (Ausgabe 1974, 350 Seiten)
[4]  GA 58, Seite 44   (Ausgabe 1984, 352 Seiten)
[5]  GA 115, Seite 21   (Ausgabe 1965, 318 Seiten)
[6]  GA 18, Seite 54   (Ausgabe 1955, 688 Seiten)
[7]  GA 104a, Seite 90   (Ausgabe 1991, 144 Seiten)
[8]  GA 323, Seite 120   (Ausgabe 1983, 376 Seiten)
[9]  GA 1e, Seite 474 Anm   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[10]  GA 110, Seite 51   (Ausgabe 1981, 198 Seiten)

Quellen:

GA 1e:  J.W. GOETHE: Naturwissenschaftliche Schriften. Band V (1897)
GA 8:  Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums (1902)
GA 18:  Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt (1914)
GA 58:  Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse. Erster Teil (1909/1910)
GA 96:  Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft. Christliche Esoterik im Lichte neuer Geist-Erkenntnis (1906/1907)
GA 104a:  Aus der Bilderschrift der Apokalypse des Johannes (1907/1909)
GA 110:  Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten, Kosmos (1909)
GA 115:  Anthroposophie – Psychosophie – Pneumatosophie (1909/1911)
GA 184:  Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit (1918)
GA 323:  Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie. Dritter naturwissenschaftlicher Kurs: Himmelskunde in Beziehung zum Menschen und zur Menschenkunde (1921)