Apokalypse des Johannes
► Einführung

Das, was wir heute als Theosophie lehren, das ändert sich nicht seinem Wesen, aber seinen Formen nach. Wenn die Seelen der heutigen Zeit wiedergeboren werden, so werden sie in kommenden Zeiten ebenso reif sein, andere höhere, zukünftige Formen des Geisteslebens aufzunehmen. Unsere Erklärung der Apokalypse wird veralten; künftige Zeiten werden darüber hinausgehen. Aber die Apokalypse selbst wird darum nicht veralten. Sie ist weit größer als unsere Erklärungen und sie wird noch tiefere, noch höhere Erklärungen finden. [1] Wenn Sie sich den Priester Johannes so vorstellen, die Erscheinung Jesu Christi vor sich, so selbstlos für sich verschwindend, wenn Sie ihn so von den Engeln empfangen sehen den siebenfach versiegelten Brief Gottes, und wenn Sie entstehen sehen den Entschluß, den Brief des Gottes selbst zu entsiegeln und den Inhalt der Menschheit mitzuteilen –, dann haben Sie das Bild, die Imagination, die am Ausgangspunkt der Apokalypse steht. Denn im Auf­genommenen müssen wir das Wort, das dasteht deuten, daß es so ist, wie ich es in der Imagination beschrieben habe. – Das will der Verfasser der Apokalypse sagen. Deshalb spricht er: Selig ist, wer da lieset und höret die Worte des Makrokosmos, und der da aufnimmt und in sich bewahrt, was geschrieben ist in dem Buch – wenn der Mensch es versteht –, denn die Zeit ist gekommen. Im Wesen des Mysteriums war es so, daß der Schreiber eines solchen Dokumentes sich durchaus nicht als dessen Verfasser fühlte in dem Sinne, wie wir heute den Verfasser eines Werkes auffassen, sondern er fühlte sich gewissermaßen als das Werkzeug des geistigen Schreibers. Er fühlte, daß in dem unmittelbaren Aufschreiben nichts Persönliches mehr enthalten sei. [2]

Die Apokalypse ist in einer wunderbaren Weise als Meditationsbuch zu gebrauchen, sie ist in dieser Beziehung ganz großartig. Wenn Sie in der Apokalypse an eine Stelle kommen, die Ihnen zunächst für das Vorstellen, für das Erfassen etwas Paradoxes bietet, so hören Sie ja auf zu denken und beginnen Sie zu meditieren, denn das ist immer auch eine Stelle, wo Sie spiritueller werden können, indem Sie das, was Sie intellektuell nicht mehr erfassen können, innerlich aufnehmen, so führen gerade die scheinbaren Paradoxa der Apokalypse dazu, das, was der heutige Mensch ja so gewöhnt ist, das bloß intellektuelle Verlaufen seines Seelenlebens, übergehen zu lassen in spirituelles Verlaufen. [3] Zum Lesen der Apokalypse gehört das Dabeisein mit dem Wollen. Und das ist auch natürlich, denn die Apokalypsen sind immer entstanden durch Inspirationen des Willens. Es gibt heute schon Leute, die in gewisser Beziehung apokalyptisch erzogen werden, aber sie werden apokalyptisch so erzogen, daß sie eine Art und Weise der Willenserziehung erhalten, die spezifisch auf die römisch-katholische Kirche hinorientiert ist: das sind die Jesuiten. In der Jesuitenerziehung, namentlich in den Jesuitenexerzitien, liegt etwas stark Apokalyptisches. Die Jesuitenexerzitien enthalten eine Schulung des Willens, wie sie immer dem Schauen des Apokalyptischen zugrunde liegt. Indem die Apokalypse, dieses grandiose Bild, dieses weissagende Bild der Evolution richtig aufgenommen wird, das heißt, wenn es in den astralischen Leib und namentlich in die Ich-Organisation aufgenommen wird, dann tragen Ich und astralischer Leib im schlafenden Zustande eine solche Offenbarung – die ja unmittelbar von der geistigen Welt selber kommt, die eigentlich eine Art Brief ist, eine unmittelbare verbale Offenbarung aus der geistigen Welt, mit Visionen verknüpft –, dann tragen Ich und astralischer Leib im schlafenden Zustande eine solche Offenbarung hinaus in die Welt der Erdenaura. Und das, meine lieben Freunde, das bedeutet, daß allmählich von allen denjenigen, die die Apokalypse mit innerem Verständnis aufgenommen hatten, der Inhalt eingegraben wurde in den Äther der Erdenaura. So daß man sagen kann: den Grundton innerhalb der Erdenaura gibt die Anwesenheit des Christus, der weiterwirkt in der Erdenaura. Dieser Christus-Impuls influenziert jede Nacht, wenn der astralische Leib und das Ich aus dem physischen und dem Ätherleib draußen sind, zunächst in tiefer Weise den Ätherleib des Menschen. Nur ist der Mensch zumeist nicht imstande, wenn er in den physischen Leib zurückkehrt, dasjenige wiederzufinden, was da an Christus-Impuls im ätherischen Leib enthalten ist. Indem nun im weiteren von den Johannes-Schülern der Inhalt der Apokalypse aufgenommen wird, gräbt sich der Sinn der Worte in den Äther der Erdenaura ein. Und dann wirkt vom Einschlafen bis zum Aufwachen auf den menschlichen Ätherleib dasjenige, was da in der Erdenaura eingegraben ist, was eingegraben wurde schon durch die großen bedeutsamen Impressionen, die der Verfasser, oder besser gesagt, der Empfänger der Apokalypse selbst erhalten hat von den göttlich-geistigen Wesenheiten. Das bedeutet, daß diejenigen Menschen, die eine Hinneigung haben zum Mysterium von Golgatha, in ihren Schlafzuständen ihren Ätherleib dem Inhalte der Apokalypse aussetzen können. Es ist das eine reale Sache. Man kann durch die richtige Christus-Gesinnung sich einen solchen Schlafzustand herbeiführen, daß das von dem Inhalt der Apokalypse im Erdenäther Bewirkte, durch das Eintreten des Christus in der Erdenevolution Liegende, sozusagen in den menschlichen Ätherleib eingegraben wird. Das ist der reale Vorgang. Das ist als die fortwährende Tat der Apokalypse da. Indem aber der Apokalyptiker in das sich entwickelnde Christentum hineingestellt ist, wird es ihm möglich, dasjenige, was er in konkreter Weise schildert, was in der Evolution des Christentums durch die verschiedenen Epochen hindurch bis in die Zukunftszeiten hinein ist, dem Ätherleib des Menschen einzuverleiben. Damit haben wir etwas in der Erdenevolution, was gegenüber den alten Mysterienlehren ein wesentlich Neues ist. Denn was haben die alten Mysterien eigentlich dem Initiaten vermittelt? Sie haben ihm dasjenige vermittelt, in das man hineinschauen kann, wenn man das sozusagen von Ewigkeit her in der Welt Veranlagte in seiner geistigen Wesenheit überblickt, wenn man innerhalb des äußeren physischen Wirkens findet die von Ewigkeit her in ihren Bahnen wirkende göttliche Wesenheit. Der Initiierte der alten Mysterien hat gar nicht Anspruch darauf erhoben, etwas anderes in seinen Ätherleib hereinzubekommen als das, was man eben durch die Ergebnisse der Initiation bekommt. Der christliche Initiierte bleibt dabei nicht stehen. Er will das, was erst im Lauf der Zeiten in die Erdentwickelung eingetreten ist, alles, was mit dem Mysterium von Golgatha und mit Christus zusammenhängt, in seinen Ätherleib aufnehmen. So daß in der Tat für die Christenheit eine beginnende Initiation in der Offenbarung der Apokalypse liegt. Diese Offenbarung ist eine Art von beginnender Initiation, nicht des einzelnen, aber eine beginnende Initiation für die ganze Christenheit; und der einzelne kann sich vorbereiten, so daß er daran teilnehmen kann. Damit aber, so kann man sagen, ist der Weg erst eröffnet, um über das Natur-Vaterprinzip hinauszukommen. Im Grunde genommen ist alle alte Initiation der Form nach eine Vater-Initiation. Man suchte die Natur und den Geist in der Natur und konnte damit zufrieden sein. Denn der Mensch stand selbst in dieser Welt der Natur darinnen. Nun ist der Christus dagewesen in der Erde. Nun bleibt er da. Er hat seine Tat auf Golgatha verrichtet und bleibt nun da. Das, was durch das Mysterium von Golgatha geschehen ist, kann man nicht durch die bloße alte Initiation in sich aufnehmen, sondern da muß man sich erheben in eine Welt des Geistes, die nicht dieselbe ist, die durch die alten Mysterien strömte. Was durch die alten Mysterien strömte, erhoffte bloß, daß das Mysterium von Golgatha auch einmal durch die neuen Mysterien strömen sollte. Jetzt aber setzt sich der Mensch nicht mehr durch die Natur, sondern unmittelbar durch den Christus mit dem Geist in Verbindung. Der alte Initiat wählte immer den Umweg durch die Natur. Der neue Initiat – das war ja nicht im allerersten Jahrhundert, aber besonders in den späteren Jahrhundenen nach dem Mysterium von Golgatha die Ansicht vieler halb oder teilweise Initiierter –, der neue Initiat setzt sich in Verbindung mit dem Geistwesen der Welt durch das, was durch Christus in die Welt eingeflossen ist und durch das, was auf Christus aufbaut. So betrachtete ein solcher Initiat damals die Apokalypse. Er betrachtete sie als etwas, von dem er so sprach: Die Natur ist der eine Weg, um in die geistige Welt hineinzukommen; das, was durch die Apokalypse an grandiosem Wissen geoffenbart ist, ist der andere Weg, um in die geistige Welt hineinzukommen. [4]

Derjenige, der sich zum Priester gemacht fühlte durch den Christus Jesus selber, der Verfasser der Apokalypse, die uns beschäftigen soll, er fühlte gewissermaßen als der erste, was nachher kaum je oder wenigstens nur von sehr wenigen wiedererlebt worden ist; er fühlte das Aufgehen des apokalyptischen Inhaltes in dem eigenen Ich. Denn der astralische Leib war es, der das Echo in sich aufnahm, von dem ich gesprochen habe, wo der Gott das Apokalyptische gab als Gegengabe gegenüber dem Worte. Derjenige, der die Apokalypse des Johannes verfaßt hat, der fühlte sein vollbewußtes Ich eins mit jenem Inhalt, den er niedergelegt hat in der Apokalypse. Das war so, daß gerade aus dem längst verglommenen Opferdienst von Ephesus (siehe: Mysterien ephesische) aus inspirierende Anregung kam für den von Christus Jesus selber sich gesalbt fühlenden Priester, den Verfasser der Apokalypse, so daß er sich fühlte wie in einem fortwährenden Zelebrieren der uralt heiligen Weihehandlung. Er fühlte, wie dieses völlige Erfülltsein des Ich mit dem Sinn der Weihehandlung nun auch ein völliges Erfülltsein mit dem Inhalt des Apokalyptischen war. So ist die Apokalypse so aus Johannes herausgesprochen, wie eigentlich im gewöhnlichen Bewußtsein einzig das «Ich» herausgesprochen wird aus dem Menschen. Wenn der Mensch «Ich» sagt, spricht er sein Inneres aus in diesen wenigen Lauten. Es kann nichts anderes damit gemeint sein als die eine, individuelle menschliche Wesenheit. Aber dieses eine enthält einen reichen Inhalt. Und ein reicher Inhalt ist der Inhalt der Apokalypse. [5]

Zitate:

[1]  GA 104a, Seite 64   (Ausgabe 1991, 144 Seiten)
[2]  GA 346, Seite 57f   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)
[3]  GA 346, Seite 253   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)
[4]  GA 346, Seite 129ff   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)
[5]  GA 346, Seite 40f   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)

Quellen:

GA 104a:  Aus der Bilderschrift der Apokalypse des Johannes (1907/1909)
GA 346:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, V. Apokalypse und Priesterwirken (1924)