Visionen

Der Mystiker Heinrich Suso sagt: Ein mittelloses Schauen der bloßen Gottheit, das ist rechte lautere Wahrheit, ohne allen Zweifel; und eine jede Vision, je vernünftiger und bildloser sie ist, derselben bloßen Schauung je gleicher, um so edler ist sie. Auch der Meister Eckhart läßt darüber keinen Zweifel, daß er die Anschauung ablehnt, die in körperlich räumlichen Gebilden, in Erscheinungen, die man wie sinnliche wahrnehmen kann, das Geistige schauen will. Geister von der Art Susos und Eckharts sind somit Gegner einer Auffassung, wie sie sich in dem im 19. Jahrhundert zur Entwickelung gekommenen Spiritismus zum Ausdruck bringt. Zur Wahrheit gelangt man nur durch Vernünftigkeit, nicht durch irgend welche Offenbarungen. [1]

Visionen kommen dadurch zustande, daß der Mensch noch in sich die Fähigkeit trägt, dasjenige, was er im Schlafe erlebt, hinüberzutragen in die wachende Welt, in der wachenden Welt es zur Vorstellung zu erheben, wie er sonst das zur Vorstellung erheben kann, was er von außen durch die Sinne wahrnimmt. Man kann sagen: Visionen entstehen dadurch, daß der Mensch unbewußt Erlebnisse des Schlafes herüberträgt in das Tagleben und daß ihm das Tagleben diese Schlaferlebnisse zu Vorstellungen gestaltet, die dann innerlich viel gesättigter, viel inhaltsvoller sind als die gewöhnlichen Vorstellungen, die schattenhaft sind; indem der Mensch solche Vorstellungen herüberträgt, macht er sie zu solchen lebhaften, farbtönenden Vorstellungen. [2]

Unser Seelenleben strebt eigentlich, wenn die Veranlassung zu der Seelenstimmung da ist, viel mehr als man glaubt, fortwährend dahin, sich umzugestalten im Sinne der Vision. Das gesunde Seelenleben besteht nur darin, daß dieses «Wollen der Vision» beim Streben bleibt, daß die Vision nicht heraufkommt. Dieses Streben nach der Vision, das im Grunde genommen in der Seele aller Menschen ist, kann befriedigt werden, wenn wir das, was entstehen will, aber in der gesunden Seele nicht entstehen soll – die krankhafte Vision – der Seele entgegenhalten in einem äußeren Eindruck, in einer äußeren Gestaltung, in einem äußeren Bildwerk oder dergleichen. [3]

Wenn der Mensch hinuntertaucht in seinen Astralleib, so versetzt er sich künstlich zurück in die Sphäre, die sein Bewußtsein einnahm, als er noch selber im astralischen Leibe lebte. Dadurch entsteht im gegenwärtigen Sinne die Vision. Würde der Mensch hinuntersteigen, ohne etwas von der heutigen Welt zu wissen, so würde er wirklich das Innere der Gegenstände erleben. So aber erscheinen ihm alle Dinge, die ihm sonst in der wahren Gestalt erschienen wären, so, daß sie ihm vorgaukeln, vorspiegeln das, was man nur hier in der Welt des Bewußtseins erleben kann. Das ist das Wahre und das Trügerische der Vision. Wenn jemand hinuntersteigt in die Welt der Vision, so kann er immer sicher sein, daß da Gründe sind, die in der seelischen Umwelt liegen; aber es ist auch sicher, daß das, was ihm als Vision vor Augen tritt, Gaukelbilder sein werden, daß sich ihm die wahre Gestalt der Dinge nicht enthüllt, sondern Nachbilder dessen, was in der Oberwelt geschehen wird. Deshalb erscheinen die Visionen des Menschen zumeist so, daß sie das andeuten, was eben die Menschen in der Gegenwart erleben. In der Vision also färbt der Mensch in abnormen Zuständen das, was er erlebt, wenn er hinuntertaucht in die Welt, aus der er aufgestiegen ist. [4] Während der alten Mondenzeit waren unsere Sinnesorgane noch Lebensorgane. Sie haben noch gewirkt als Lebensorgane. Das atavistische Zurückfallen in Mondenvisionen müssen wir heute als krankhaft bezeichnen. Nicht die Visionen als solche sind krankhaft, denn sonst wäre ja alles, was der Mensch während der Mondenzeit erlebt hat, wo er nur in solchen Visionen lebte, als krankhaft zu bezeichnen. Das Krankhafte liegt nicht in den Visionen als solchen, sondern es liegt darin, daß sie in der gegenwärtigen Erdenorganisation des Menschen so vorhanden sind, daß sie nicht ertragen werden, daß sie so angewendet werden von dieser Erdenorganisation, wie es ihnen als Mondenvisionen nicht angemessen ist. Denken Sie, wenn einer eine Mondenvision hat, so ist diese ja eigentlich nur geeignet zu einem Gefühle, zu einer Tätigkeit, zu einer Handlung zu führen, wie es dem Monde entsprechend war. Wenn er aber eine Mondenvision hier während der Erdenzeit hat und er macht solche Dinge, wie man sie nur mit einem Erdenorganismus tut, so besteht darin das Krankhafte. Und das tut er nur, weil sein Erdenorganismus die Vision nicht erträgt, wenn sich der Erdenorganismus gewissermaßen imprägniert damit. – Nehmen Sie den gröbsten Fall: Jemand wird veranlaßt, eine Vision zu haben. Statt nun mit dieser Vision ruhig zu bleiben und sie innerlich anzuschauen, wendet er sie irgendwie, während sie nur auf die geistige Welt anzuwenden ist, auf die physische Welt an und verhält sich danach mit seinem Leib. Das heißt, er fängt an zu toben, weil die Vision seinen Leib durchdringt, durchkraftet, was sie nicht sollte. Da haben Sie den gröbsten Fall. Die Vision sollte stehenbleiben innerhalb der Region, in der die Vision lebt, und das tut sie nicht, wenn sie heute als atavistische Vision nicht ertragen wird von dem physischen Leib. Wenn der physische Leib zu schwach ist, um aufzukommen gegen die Vision, dann tritt Kraftlosigkeit ein. Wenn der physische Leib stark genug ist, um gegen sie aufzukommen, dann schwächt er die Vision ab. Sie hat dann nicht jenen Charakter, durch den sie einem vorlügt, sie wäre etwas gleich einem Dinge oder Vorgang in der Sinneswelt; denn das lügt ja die Vision demjenigen vor, der dadurch krankhaft wird. [5]

Indem wir uns Visionen hingeben, tauchen wir tiefer in unsere bloße Leiblichkeit hinab, durchziehen wir die Leiblichkeit mit unserem Seelischen, machen uns nicht von ihr frei. [6] Der Mensch taucht bei gesunden Organen nur bis zu einem gewissen Grade unter in seinen physischen Leib. Sind aber die Organe irgendwie krank – oftmals nur bei einem kranken Organ –, so taucht der Mensch mit seinem geistig-seelischen Wesen nicht bloß, wenn die Erkrankung die entsprechende Form annimmt, bis zur Schmerzempfindung unter, sondern er taucht tiefer unter. Er verbindet sich mit seinem geistig-seelischen Wesen mit dem Organismus. Während der Mensch sonst nur seinen Sinnen nach und seinem Nervensystem nach mit seinem Gefühls-Willenswesen verbunden ist, wird er nun mit den niederen animalischen Organen und mit den vegetativen Organen verbunden und gelangt dadurch zu den unfreien Zuständen des Halluzinierens, des visionären Erlebens. Man sieht, daß das Halluzinieren, das visionäre Erleben ebenso wie die anderen Zustände durchaus an den physischen Leib und an den Ätherleib des Menschen gebunden sind, daß sie also nur Erlebnisse darstellen können, die mit dem Tod des Menschen verschwinden, die nicht aufklären können über die übersinnliche Welt, in der sich der Mensch befindet zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. [7]

Man muß den radikalen Unterschied bemerken, der zwischen der richtigen Imagination und der Vision besteht. Die Vision liefert allerdings dem Menschen auch einen bildhaften Inhalt (wie die Imagination), aber der Mensch geht ganz auf in seiner Vision. Während er diese Vision hat, hat sich sein Bewußtsein hinüberverwandelt in diese Vision, und er kann nicht willkürlich von der Vision zum gewöhnlichen Bewußtsein hin und zurück. Der Imaginierende dagegen hat nicht sein gewöhnliches Bewußtsein in eine Vision hineinverwandelt, sondern er hat das gewöhnliche Bewußtsein bereichert um die Imagination. Es ist einfach zu dem, was man im gewöhnlichen Bewußtsein schon hat, das Imaginierte hinzugetreten. Daher weist gerade der Imaginierende das gewöhnliche Visionserlebnis weit von sich, aber er kann auch einsehen, in welcher Lebenssituation der Visionär ist. Denn wer die hier gemeinte Höhe des Erkennens erlangt hat, kann ganz genau anschauen, wie die Seele innerlich aktiv ist, wie sie sich des physischen Organismus bedient, damit er ihr die Gedanken zurückspiegele. Der Imaginierende und Inspirierte kennt die Art des Verhältnisses der Seele zum physischen Leibe im gewöhnlichen normalen Bewußtsein. Deshalb kann er auch den Visionär beurteilen. Beim Visionär ist das der Fall, daß die Seele nicht etwa frei geworden ist vom physischen Leibe. Der Imaginierende weiß, was das heißt, frei sein der Seele vom physischen Leibe, denn er hat seine Seele wirklich herausgeholt aus dem physischen Leib und zur Aktivität getrieben. Wenn er aber den Visionär anschaut, so steckt bei diesem die Seele tiefer im physischen Leibe drinnen als sonst, wenn sie im gewöhnlichen Bewußtsein die Außenwelt wahrnimmt. [8] Löscht die aktive Kraft des Hinschauens die Vision aus, dann gehört sie nur uns selber an. Bleibt sie stehen; wenn man die aktive Kraft des Hinschauens entwickelt, so entspricht sie einer objektiven Tatsache. So kann ein Mensch, der in dieser Beziehung nicht achtgibt, meinetwillen tausend und aber tausend Bilder von der `Akasha-Chronik vor sich haben; wenn er die Prüfung nicht anstellt, ob es ausgelöscht wird oder nicht, bei einem absolut aktiven Hinschauen, dann gelten die Akasha-Bilder, die noch so sehr Tatsachen erzählen können, nur so, daß wir sie ansehen können als Bilder für das eigene Innere. Und es könnte geschehen, daß irgend jemand nichts anderes schaut als sein eigenes Inneres, und daß dieses sich projiziert in ganz dramatischen Bildern, die er ausgedehnt denkt meinetwillen durch die ganze atlantische Welt, durch Generationen von Menschenentwickelung hindurch. Das braucht unter Umständen nichts anderes zu sein, auch wenn es scheinbar mit noch so großer Objektivität auftritt, als nur ein Hinausprojizieren des eigenen Inneren. [9] (Dagegen beim Imaginierenden) machen wir die Entdeckung, daß uns eine übersinnliche Welt umgibt, die nun in das leere, aber wache Bewußtsein hereindringt als die geistige Welt, wie wir vorher die sinnliche Welt um uns hatten. Dabei bleibt immer, weil wir alles das vollziehen mit absolutem Willkür-Bewußtsein, neben diesem erhöhten Bewußtsein das ursprüngliche Bewußtsein des alltäglichen Lebens, das heißt der gesunde Menschenverstand vorhanden; im Gegensatz zu dem Zustand, der eintritt, wenn jemand halluziniert und Visionen hat, denn da geht das ganze Bewußtsein in einzelne Visionen über. [10]

Zitate:

[1]  GA 7, Seite 74   (Ausgabe 1960, 150 Seiten)
[2]  GA 227, Seite 162f   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)
[3]  GA 271, Seite 85f   (Ausgabe 1985, 192 Seiten)
[4]  GA 57, Seite 396f   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[5]  GA 170, Seite 145f   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)
[6]  GA 73, Seite 27   (Ausgabe 1973, 398 Seiten)
[7]  GA 79, Seite 114   (Ausgabe 1962, 274 Seiten)
[8]  GA 215, Seite 131f   (Ausgabe 1980, 188 Seiten)
[9]  GA 143, Seite 109   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[10]  GA 82, Seite 86   (Ausgabe 1994, 264 Seiten)

Quellen:

GA 7:  Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung (1901)
GA 57:  Wo und wie findet man den Geist? (1908/1909)
GA 73:  Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie (1917/1918)
GA 79:  Die Wirklichkeit der höheren Welten. Einführung in die Anthroposophie (1921)
GA 82:  Damit der Mensch ganz Mensch werde. Die Bedeutung der Anthroposophie im Geistesleben der Gegenwart (1922)
GA 143:  Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. (1912)
GA 170:  Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte (1916)
GA 215:  Die Philosophie, Kosmologie und Religion in der Anthroposophie (1922)
GA 227:  Initiations-Erkenntnis. Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie (1923)
GA 271:  Kunst und Kunsterkenntnis. Grundlagen einer neuen Ästhetik (1888/1909)