Johannes der Evangelist

Johannes heißen alle, die erweckt sind. Das ist ein Gattungsname, und die Auferweckung des Lazarus im Johannes-Evangelium ist nichts anderes als die Beschreibung dieser Erweckung. Der Schreiber des Johannes-Evangeliums nennt sich nie anders als «der Jünger, den der Herr lieb hat». Das ist die Bezeichnung für die intimsten Schüler, für diejenigen, bei denen es dem Lehrer und Meister gelungen ist, den Jünger zu erwecken. Die Beschreibung einer solchen Erweckung gibt der Verfasser des Johannes-Evangeliums in der Auferweckung des Lazarus. [1]

Es konnte der Christus Jesus nicht den Zarathustra als den berufenen Repräsentanten des 2. nachatlantischen Zeitalters auferwecken (weil er kurz vorher den physischen Plan verlassen hatte). Doch war gleichsam stellvertretend eine andere Individualität auf Erden verkörpert in jener Zeit, deren Entwickelung und für die Menschheit bedeutsamste Mission in merkwürdiger Weise derjenigen des Zarathustra parallel ging. Es war dies Lazarus, der wiedergeborene Hiram-Abiff, der bedeutungsvollste der Kainssöhne, der gleichsam gearbeitet hatte an der Erdenmission von dem menschlichen Ich aus, wie es Zarathustra im alten Persien getan hatte. Er wird «krank», er «stirbt» und wird ins Grab gelegt. Der Christus Jesus erfährt von seiner Krankheit und er spricht zu seinen Jüngern von dem Tode des Lazarus. «Da sprach Thomas, der genannt ist der Zwilling, zu den Jüngern: Laßt uns mitziehen, daß wir mit ihm sterben» (Joh.11,16). In dieser Auferweckung, die mit Lazarus stattfinden soll, werden die Seelen, die dem zweiten nachatlantischen Zeitalter angehören – wie das «Volk aus der Stadt» bei der Auferweckung des Jünglings zu Nain das dritte nachatlantische Zeitalter repräsentiert (die ägyptisch-chaldäische Kultur war eine Städtekultur) – dargestellt von Thomas, dem «Zwilling». Denn der zweite nachatlantische Zeitraum war der Zeitraum der Zwillinge. Des Thomas, sonst völlig sinnlosen Worte, bezeugen, daß der zweite nachatlantische Zeitraum bereit ist von dem Christus auferweckt zu werden. Das, was als Kulturkeim in der alten persischen Zeitepoche gelebt hat, ist nicht gestorben. Es handelt sich nicht um die Auferweckung eines Toten, sondern um die Einweihung eines Lebendigen. Das ist der große Unterschied zwischen der Erzählung dieser Auferweckung und den beiden anderen. Daher spricht der Christus-Jesus: «Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.» Und Christus Jesus kommt zu dem Grab, in das man den totgewähnten Lazarus gelegt hat, und er spricht die sakramentalen Worte vor allem Volk: Lazarus, komm heraus! «Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Händen und Füßen und sein Angesicht verhüllt mit einem Schweißtuch. Und der Christus Jesus spricht die Worte, die gleichsam andeuten, daß von der Stunde an dieser Eingeweihte wird anfangen zu wirken. «Löset ihn auf und lasset ihn gehen». [2]

Bei der Auferweckung des Lazarus drang von oben her bis zur Bewußtseinsseele die geistige Wesenheit Johannes des Täufers, der ja seit seinem Tode der die Jüngerschar überschattende Geist gewesen ist, ein und von unten her die Wesenheit des Lazarus, so daß die beiden sich durchdrangen. Das ist dann nach der Auferweckung des Lazarus Johannes, der Jünger, den der Herr lieb hatte. [3] Und als eine weitere Erklärung ist überliefert: «Lazarus konnte aus den Erdenkräften heraus sich in dieser Zeit nur voll entwickeln bis zur Gemüts- und Verstandesseele; das Mysterium von Golgatha findet statt im vierten nachatlantischen Zeitraum, und in dieser Zeit wurde entwickelt die Verstandes- oder Gemütsseele. Daher mußte ihm von einer anderen kosmischen Wesenheit von der Bewußtseinsseele aufwärts Manas, Buddhi und Atma verliehen werden. Damit stand vor dem Christus ein Mensch, der von den Erdentiefen bis in die höchsten Himmelshöhen reichte, der in Vollkommenheit den physischen Leib durch alle Glieder bis zu den Geistesgliedern Manas, Buddhi, Atma in sich trug, die erst in ferner Zukunft von allen Menschen entwickelt werden können.» [4]

Es gab solche Menschen, die aus dem Manas heraus der Buddhi ein hochentwickeltes Seelenorgan entgegenbrachten. Das muß so sein. Es mag noch so viel Licht scheinen, wenn kein Auge da ist, wird es nicht wahrgenommen. So ist es auch mit Buddhi. Es gab einen Namen für alle die Menschen, die ein solches Organ entwickelt hatten, die durstig waren nach der Buddhi, einen Gattungsnamen: Johannes. [5]

Lazarus ist nicht ein Jüngling wie der Jüngling zu Nain, er ist ein Mann im vollen Besitze seiner Geisteskräfte. Und der auferweckte Lazarus wird der Schreiber des Johannes-Evangeliums. Er ist derjenige, der am Kreuze steht und zu dem der Christus Jesus vom Kreuze herab spricht, hinweisend auf die Mutter Sophia-Maria: «Siehe, das ist deine Mutter!» So wird noch einmal bekundet sein eigentümliches stellvertretendes Verhältnis zu dem Ich des Zarathustra, der als der salomonische Jesus wirklich als der Sohn dieser Mutter geboren wurde. [6] (In dem Mysterium von Golgatha) sollte sich der Sonnenlogos mitteilen der Erde, ein Bündnis schließen, der Geist der Erde werden. Der Weg, durch den er das getan, besteht darin, daß er im 30. Jahre des Jesus von Nazareth in dessen Leiber eingezogen ist, drei Jahre darin gewirkt hat und dann für die Erde erhalten worden ist. Und nun handelt es sich darum, daß in dem wirklichen Christen eine Wirkung dieses Ereignisses (Mysterium von Golgatha) sein muß, daß es etwas geben muß, wodurch der wirkliche Christ nach und nach die Anlage zu einem im christlichen Sinne geläuterten astralischen Leib erhält. Es mußte für den Christen etwas da sein, wodurch er seinen astralischen Leib nach und nach ähnlich machen kann einer «Jungfrau Sophia», um dadurch den Heiligen Geist in sich aufzunehmen, der ja sonst auch ausgebreitet sein könnte auf der Erde, aber nicht empfangen werden könnte von dem, dessen astralischer Leib nicht ähnlich ist der «Jungfrau Sophia». Es mußte etwas da sein, was die Kraft in sich enthält, den menschlichen Astralleib zu einer «Jungfrau Sophia» zu machen. Diese Kraft liegt darin, daß der Christus Jesus dem Jünger, den er lieb hatte, also dem Schreiber des Johannes-Evangeliums, die Mission übertragen hat, aus seiner Erleuchtung heraus wahr und getreulich die Vorgänge in Palästina aufzuschreiben, damit die Menschen sie auf sich wirken lassen können. Lassen die Menschen das genügend auf sich wirken, was im Johannes-Evangelium aufgeschrieben ist, dann ist ihr astralischer Leib auf dem Wege, eine «Jungfrau Sophia» zu werden, und er wird dann empfänglich für den Heiligen Geist. Er wird allmählich empfänglich durch die Stärke der Impulse, die vom Johannes-Evangelium ausgehen, wahres Geistiges zu fühlen und später zu erkennen. Das hat der Christus Jesus dem Schreiber des Johannes-Evangeliums gegeben, diese Mission, diesen Auftrag. Sie brauchen nur das Evangelium zu lesen, Sie finden es darin: Am Kreuze stand Jesu Mutter – die «Jungfrau Sophia» im esoterischen Sinne des Christentums – und vom Kreuz herab spricht der Christus zu dem Jünger, den er lieb hatte: «Das ist fortan deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.» Das heißt: Diejenige Kraft, die in meinem astralischen Leib war und ihn befähigt hat, ein Träger zu werden für den Heiligen Geist, diese Kraft übertrage ich auf dich; du sollst niederschreiben das, was dieser astralische Leib durch seine Entwickelung erlangen konnte! – «Und der Jünger nahm sie zu sich», das heißt: Er schrieb das Johannes-Evangelium. Und das Johannes-Evangelium ist dasjenige Evangelium, in dem der Schreiber verborgen hat die Kräfte zur Entfaltung der «Jungfrau Sophia». [7]

Derjenige, der das Johannes-Evangelium geschrieben hat, ist von dem Christus Jesus selbst initiiert worden. Dadurch konnte er etwas geben, was sozusagen den Keim enthält nicht nur für die gegenwärtige Wirksamkeit des Christus-Impulses, sondern für die Wirksamkeit des Christus-Impulses in die fernste Zeit hinein. Er verkündet etwas, was noch Gültigkeit haben wird in die fernste Zukunft hinein. Er ist einer von den Adler-Eingeweihten, die den normalen Punkt übersprungen hatten. Das Normale für die damalige Zeit gibt der Markus-Schreiber. Was über diese Zeit hinausreicht, was uns zeigt, wie der Christus in die fernste Zukunft wirkt, was alles das überfliegt, was an der Erde haftet, das finden wir bei Johannes. Daher bringt die Tradition den Johannes zusammen mit dem Symbolum des Adlers. [8]

Johannes hatte im Traumzustand die astralen Visionen gehabt von dem, was in Palästina Geschichte wurde. Was seine Erlebnisse in höheren Welten waren, seine Schauungen, das wurde im irdischen Erleben dann Erfahrung. [9] Nun ist ja auch der Name des Johannes verknüpft mit der Stadt Ephesus (siehe: Mysterien ephesische). Und derjenige, der ausgerüstet mit dem imaginativen Anschauen der Weltgeschichte, herantritt an diese bedeutungsvollen Worte: «Im Urbeginne war der Logos. Und der Logos war bei Gott. Und ein Gott war der Logos», der wird durch einen inneren Weg immer und immer wiederum verwiesen nach dem alten Tempel der Diana (Artemision) in Ephesos. [10]

Den äußeren Weg (in die geistige Welt) hat uns zum ersten Mal der Schreiber der Apokalypse gewiesen. Er zeigt uns, wie man sich ganz von der Person loslösen muß, um ihn zu gehen. In anspruchsloser Weise sagt er, daß er im Geiste entrückt gewesen sei auf der Insel Patmos. Das hat aber eine ganz bestimmte Bedeutung. Um diesen äußeren Weg zu gehen, das heißt, um die Vereinigung mit dem zu finden, ist es nötig, daß man einen festen Punkt wählt, von dem aus man sich konzentriert. So berechnete Johannes, der Theologe, geistig die Konstellation, die die Sterne am 30. September 395 haben würden, und von diesem Punkte aus hatte er seine Visionen. An diesem 30. September des Jahres 395 stand die Sonne im Sternbild der Jungfrau, das heißt vor derselben; der Mond unter ihr. Dieses Bild haben wir ausgedrückt in einem der sieben Siegel (siehe unten).

5. Siegelbild

Dieser Zeitpunkt läßt sich auch exoterisch ausrechnen. Die Gelehrten haben es getan und daraus geschlossen, daß die Apokalypse erst um diese Zeit durch den damals lebenden Johannes Chrysostomos geschrieben sei. In Wirklichkeit berühren wir da aber ein großes Geheimnis; denn die Apokalypse ist natürlich viel früher entstanden, und der Schreiber hat sich nur in das Jahr 395 versetzt. [11]

In den Aufgang dieser beiden Weltanschauungen, der Gnosis auf der einen Seite, die nur bis zum Nous (siehe: Nus) kam, und des Montanismus auf der anderen Seite, der eben steckengeblieben ist in einer materialistischen Auffassung (von Christi Wiederkehr), in diesen Gegensatz, wie er vorhanden war im ersten christlichen Jahrhundert, ist hineingestellt der Schreiber des Johannes-Evangeliums. Er schaut auf der einen Seite hin auf die Gnosis, die er seinerseits als eine Verirrung ansieht, weil ein Gott war der Nous, und der Nous ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt; und Simon von Kyrene hat dem Christus das Kreuz abgenommen und hat in einem Menschenbilde dasjenige vollzogen, was dann (auf Golgatha) erfolgte, nachdem der Christus nur bis zur Kreuztragung gegangen und dann von dem Irdischen hinwegverschwunden ist. – Vor dem Blick des Gnostikers verschwindet ja der Christus allerdings in dem Augenblicke, als er Simon von Kyrene das Kreuz übergibt. Das war eine Abirrung. Wohin kommt man, wenn man darauf sich einläßt, alles Gedankliche unter den Menschen zu lassen und nicht mehr haben zu wollen das Geistige? Nein, so empfindet der Schreiber des Johannes-Evangeliums, so ist es nicht. Nicht war im Urbeginne der Nous, nicht war der Nous bei Gott und ein Schleier liegt über all dem, was mit dem Christus-Mysterium zusammenhängt, sondern: Im Urbeginne war der Logos (Wort), und der Logos war bei Gott, und ein Gott war der Logos und der Logos ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnet. – So verbindet sich dasjenige, was die ersten Akte des ganzen Golgatha-Dramas sind, mit den letzten Akten: eine Einheit wird daraus, wenn wir es erfassen im Geiste. Wir wollen etwas, das uns nicht in übermenschliche Höhen hinausführt, wohin uns der Nous führen muß, weil der nur die eine Perspektive des Geistigen ist. Soviel Geistiges, daß dieses Geistige hinreicht, um den Menschen Jesus und den Gott Christus in einer Gestalt zu begreifen, soviel Geistiges liegt in dem Logos. Wenn wir uns an den Nous halten, kommen wir nur zum Christus, wenn wir uns an das montanistische Sehen halten, kommen wir nur zu dem Jesus, der in unbegreiflicher Weise als der Christus wiederkommt, wiederum nur als der physische Jesus. Nein, wir müssen uns nicht hinwenden zu dem uns aus der Menschheit herausreißenden Nous, wir müssen uns hinwenden zum Logos, der in dem Christus Mensch geworden ist und unter uns gewandelt ist. [12]

Zitate:

[1]  GA 94, Seite 245   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[2]  GA 264, Seite 231f   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)
[3]  GA 238, Seite 174   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)
[4]  GA 265, Seite 431   (Ausgabe 1987, 521 Seiten)
[5]  GA 94, Seite 250   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[6]  GA 264, Seite 232   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)
[7]  GA 103, Seite 114f   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[8]  GA 112, Seite 153f   (Ausgabe 1959, 292 Seiten)
[9]  GA 94, Seite 232   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[10]  GA 232, Seite 89   (Ausgabe 1974, 222 Seiten)
[11]  GA 266/2, Seite 144   (Ausgabe 1996, 517 Seiten)
[12]  GA 343, Seite 276   (Ausgabe 1993, 674 Seiten)

Quellen:

GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 103:  Das Johannes-Evangelium (1908)
GA 112:  Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium (1909)
GA 232:  Mysteriengestaltungen (1923)
GA 238:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Vierter Band. Das geistige Leben der Gegenwart im Zusammenhang mit der anthroposophischen Bewegung (1924)
GA 264:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904 bis 1914. Briefe, Rundbriefe, Dokumente und Vorträge (1904-1914)
GA 265:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule von 1904 bis 1914 (1906-1924)
GA 266/2:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band II (1910-1912)
GA 343:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, II. Spirituelles Erkennen – Religiöses Empfinden – Kultisches Handeln (1921)