Bilderbewußtsein

Theoretisch – aber nicht nur theoretisch, sage ich ausdrücklich – wäre es auch möglich, daß wir auf eine andere Weise (als durch Lektüre) zum Inhalt der «Göttlichen Komödie» kämen: von innen heraus, indem einfach in einem gewissen Lebensalter der Inhalt in unsere Seele heraufstiege, in unser Wachbewußtsein durch einen Traum. Es ist dies nicht nur theoretisch, sondern es könnte ganz gut sein, wenn die Welt nicht so eingerichtet wäre, daß wir erst durch Maya hindurchgehen müßten. Dann wäre nämlich die Sache so: Das, was schon geleistet ist, sagen wir von Homer, Dante, Plato und so weiter, würden wir eines schönen Tages heraufsteigen sehen wie einen Traum. Wir brauchten uns nicht durch eine Vermittlung von außen Kenntnis davon zu verschaffen. Raffael hätte nicht seine Bilder zu malen, sondern sie nur lebendig in seinem Geiste zu fassen gebraucht, und es würden diejenigen, die nachher leben, ohne daß die etwas anderes bekommen würden als eine Art Direktion hin zu Raffael, sie aus sich selber aufstehen lassen können. Auf dem Monde verhielt es sich so mit uns, da wurde alles so vermittelt. Es mußte einmal dagewesen sein; dann aber stieg es aus dem Innern heraus. Aber frei konnte man nicht sein. Man war ganz und gar wie ein Automat der Vorzeit. Die Vorzeit ließ alles in einem erstehen. [1] Für das traumhaft-imaginative Mondenbewußtsein waren die Gedanken vorgedacht von Wesen der höheren Hierarchien, zum Teil auch von elementarischen Wesenheiten; dann werden sie nachgedacht von Menschen der Mondenzeit. Dadurch werden sie so sichtbar, daß sie sichtbar bleiben. [2]

Alles was in den Tiefen unseres Wesens drunten vorhanden ist, nicht nur die unbestimmten Liebesgefühle, sondern alles was in den unterbewußten Tiefen der Seele vorhanden ist, was das Ergebnis ist früherer Erdenleben, hängt mit dem Mondendasein zusammen. Mit demjenigen, was unser gegenwärtiges Dasein ist, mit dem entreißen wir uns dem Mondendasein. [3]

Zitate:

[1]  GA 170, Seite 50f   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)
[2]  GA 170, Seite 208   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)
[3]  GA 234, Seite 49   (Ausgabe 1994, 168 Seiten)

Quellen:

GA 170:  Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte (1916)
GA 234:  Anthroposophie – Eine Zusammenfassung nach einundzwanzig Jahren. Zugleich eine Anleitung zu ihrer Vertretung vor der Welt (1924)