Bewußtseinszustände heute

Das Menschenleben wechselt in der Regel zwischen vier Zuständen. Der erste ist die Wahrnehmung der Außenwelt. Der zweite Zustand ist derjenige, den wir Phantasie, Vorstellungsleben nennen können, der etwas Verwandtes mit dem Traumleben hat, sogar dazugehört. Der dritte Zustand ist der traumlose Schlaf. Und der vierte Zustand ist derjenige, in welchem der Mensch in der Erinnerung lebt, das ist schon Abgezogenes, Geistiges. Hätte der Mensch keine Erinnerung, so könnte er überhaupt keine geistige Entwickelung erhalten. Inneres Leben fängt sich an zu entwickeln durch innere Beschaulichkeit und Meditation. Da macht der Mensch dann über kurz oder lang die Wahrnehmung, daß er nicht mehr in chaotischer Weise träumt, sondern daß er in höchst bedeutsamer Weise träumt, und daß sich ihm im Traume merkwürdige Dinge enthüllen, die er nach und nach anfängt als Offenbarung geistiger Wahrheiten zu erkennen. Die nächste Stufe ist die, wo wir die Träume mit Bewußtsein lenken. [1]

Wir haben jetzt das gewöhnliche Bewußtsein des Tages im Herzen. Rückt man hinauf über das Herz mit seinem Bewußtsein, dann wird das Bewußtsein dünner; man kommt einer Ohnmacht nahe; rückt man unter das Herz hinunter, verdichtet sich das Bewußtsein. Man kommt in die Welten hinein, die Wirkliches sind. Man muß es nur ertragen können. Sie pressen, sie schmerzen. Aber wenn man mit dem nötigen Mut hineinstößt, so kommt man hinein. So haben wir jetzt das gewöhnliche Bewußtsein des Tages im Herzen, ein zweites Bewußtsein im Kehlkopf, ein drittes Bewußtsein in der Augengegend, ein viertes Bewußtsein im Kopf oben, das schon ganz in den Kosmos hinausführt, und dann ein fünftes Bewußtsein (unterhalb des Herzens), das einem jetzt nicht in die Raumeswelten hinaus, sondern in die Zeiten zurückführt. In der Zeit macht man einen Weg, wenn man an dieses fünfte Bewußtsein herankommt; den Weg, den der Tote zurückgeht, den macht man. Man ist aus dem Raum herausgetreten, in die Zeit eingetreten. Man lernt Welten kennen, wenn man sich in andere Bewußtseinszustände versetzt. Der Mensch lebt hier auf Erden in einer Welt, weil er nur ein Bewußtsein hat, weil er die anderen Bewußtseinszustände verschläft. Verschläft man sie nicht, versetzt man sich in diese anderen Bewußtseinszustände, dann erlebt man die anderen Welten. Das ist das Geheimnis des Erforschens anderer Welten, daß der Mensch selbst in seinem Bewußtseinswesen ein anderer wird. Denn nicht durch ein Spintisieren oder Forschen mit denselben Mitteln, die man im gewöhnlichen Leben hat, kommt man in andere Welten hinein, sondern durch die Transformation des Bewußtseins in andere Bewußtseinsformen. [2]

In den alten Zeiten wurde den Leuten homöopathische Hochpotenz von Metallen verabreicht, um die Übungen der Seele zu unterstützen. Der Mensch musste sich jahrelang trainieren, bevor ihm hochpotenziertes Kupfer verabreicht worden ist. Geben Sie in derselben Lage einem Menschen der Gegenwart hochpotenziertes Kupfer, dann wirkt das auch, aber es bewirkt, daß er kehlkopfkrank wird, und weiter zunächst nichts. Diesen Unterschied zwischen der alten Organisation und der neueren Organisation des Menschen muß man eben kennen, dann wird man nicht mehr die Begierde und Sehnsucht entwickeln, wie es in alten Zeiten noch üblich war, ja, im Mittelalter noch vielfach geübt worden ist, durch äußeres Einnehmen sich in andere Bewußtseinzustände zu versetzen. [3]

Sage ich jemandem: Du sollst dich auf einen bestimmten Seeleninhalt, zum Beispiel «Im Lichte strahlt Weisheit» jeden Morgen und jeden Abend konzentrieren, dann wirkt es, wenn er das wirklich tut, in seiner Seele. Und es wirkt geradeso, als wenn ich ihm gesagt hätte: Lerne die Natur des Kupfers nach allen Seiten kennen und konzentriere dich auf das Kupfer. – Nur ist das eine Mal vom Moralischen, das andere Mal vom rein Physikalischen, Chemischen ausgegangen. Und es ist für denjenigen, der nicht gerade Chemiker ist, viel besser, wenn er auf dem moralischen Wege in die geistige Welt hineinkommt. [4] Jede Störung im menschlichen Organismus, die man eine Krankheit nennt, ist auch verbunden mit dem Hervorrufen eines anderen Bewußtseinszustandes. [5] Man kann sagen, das einzige, wodurch im gewöhnlichen Leben der Mensch etwas über diese sinnliche Welt hinausblickt, ist der Traum. Aber der Traum ist doch so, wie er im gewöhnlichen Leben heute erfahren wird, nur ein schwacher Abklatsch desjenigen, was man Erleben der übersinnlichen Welt nennen kann. Man muß gewissermaßen, um die überphysische Welt zu erleben, sein Bewußtsein steigern, zu einem Zustande kommen, der so ist, daß das gewöhnliche Leben, das gewöhnliche Bewußtsein sich dazu verhält wie der Schlaf zu diesem gewöhnlichen Bewußtsein oder wenigstens wie der Traum zu diesem gewöhnlichen Bewußtsein. Es muß also eine Art Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewußtsein stattfinden. [6]

Zitate:

[1]  GA 54, Seite 219f   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)
[2]  GA 243, Seite 67f   (Ausgabe 1983, 246 Seiten)
[3]  GA 243, Seite 70f   (Ausgabe 1983, 246 Seiten)
[4]  GA 243, Seite 72   (Ausgabe 1983, 246 Seiten)
[5]  GA 243, Seite 74   (Ausgabe 1983, 246 Seiten)
[6]  GA 198, Seite 116   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)

Quellen:

GA 54:  Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906)
GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)
GA 243:  Das Initiaten-Bewußtsein. Die wahren und die falschen Wege der geistigen Forschung (1924)