Vorstellungsleben

Auch wenn Tausende, Millionen von Menschen kämen und sagen: Der pythagoreische Lehrsatz ist nicht wahr –, wir wüßten doch als einzelner Mensch, daß er wahr sein muß, durch innere Anschauung. Woher rührt so etwas? Das rührt lediglich daher, daß wir das Vorstellungsleben nicht erst wie das Gefühls- und Willensleben in dem Physischen ausbilden, sondern daß wir es schon hereintragen durch unsere Geburt in unser physisches Dasein. [1]

Immer beim Einschlafen kehrt zurück die übersinnliche Natur des Menschen in diejenige Region, in der der Mensch ist zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, sein Bewußtsein ist aber dumpf. Und dieses Dumpfwerden des Bewußtseins, dieses innerlich Finsterwerden des Bewußtseins, das entspricht für das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt dem Sich-Annähern der Geburt in das physische Leben. Der Mensch stirbt gewissermaßen für das übersinnliche Leben, wenn er gegen die Geburt hin sich bewegt, und er übergibt dann dem menschlichen Leben auch eine Art Leichnam. Und dieses Geschöpf, das wir dann in uns tragen, das gewissermaßen für das überirdische Leben tot ist, das ist eigentlich unser gewöhnliches Vorstellungsleben das sich nicht befruchten läßt von der übersinnlichen Welt, von Imagination, von Inspiration, von Intuition. So können wir sagen: In unserem Denken tragen wir eigentlich mit uns herum den Leichnam, den wir mitgenommen haben aus der übersinnlichen Welt. Deshalb ist dieses Denken so sehr bloß geeignet, die tote Welt zu begreifen, weil es eigentlich der Leichnam unserer übersinnlichen Wesenheit ist. Daran müssen wir festhalten, daß wir allerdings in diesem Denken haben das einzige bewußte Überbleibsel der übersinnlichen Welt, daß es aber ein totes Geschöpf ist, so wie es in uns als Denken lebt. Wir tragen in der Tat die tote übersinnliche Welt mit dem Denken in uns herum. [2]

Wir würden nur mit der Dumpfheit des Traumlebens vorstellen können, wenn nicht hereinschlüge mit jedem Aufwachen in dieses Vorstellungsleben das Sinnesleben. [3]

Zitate:

[1]  GA 202, Seite 29f   (Ausgabe 1980, 296 Seiten)
[2]  GA 198, Seite 41   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[3]  GA 323, Seite 148   (Ausgabe 1983, 376 Seiten)

Quellen:

GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)
GA 202:  Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physische des Menschen. Die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia (1920)
GA 323:  Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie. Dritter naturwissenschaftlicher Kurs: Himmelskunde in Beziehung zum Menschen und zur Menschenkunde (1921)