Athene – Pallas Athene

Während der hellseherische Blick in einem das Weltbild umspannt, ist es dem intellektuellen Blick vorbehalten, von Weltenstück zu Weltenstück zu gehen, die einzelnen Stücke unserer Weltanschauung miteinander zu verbinden und daraus ein Weltgesamtbild zu machen in dem intellektuellen Wissen, in der intellektuellen Wissenschaft. Der Grieche dachte sich nun die Zentralgewalt für dieses Weltbild, das was wir uns machen für die Gedanken und Phantasiebilder, mit denen wir die Welt umspannen, repräsentiert durch die göttliche Wesenheit der Pallas Athene. In der Tat, das intellektualistische Weltbild, die intellektualistische Weisheit hat den zerstückelten Dionysos gerettet, mit anderen Worten: das alte Einheitsbewußtsein, das in die Leiber hineingezogen war. Es führte das menschliche Bewußtsein wiederum aus sich heraus. Daher diese feine Ausgestaltung der Dionysossage, daß von allen Stücken Pallas Athene das Herz des Dionysos, nachdem er zerstückelt worden war von den Titanen auf Anstiftung der Hera, gerettet und dem Zeus gebracht hat. Was so makrokosmisch dargestellt wird, daß der Dionysos zerstückelt wird und daß sein Herz von Pallas Athene gerettet und dem Zeus gebracht wird, das ist nur das makrokosmische Gegenbild von etwas, was mikrokosmisch in uns vorgeht. Bildlich gesprochen, was wäre geschehen, wenn Pallas Athene nicht das Herz des zerstückelten Dionysos gerettet und dem Zeus gebracht hätte? Dann würden die Menschen herumgehen, ein jeder abgeschlossen in seiner eigenen Leibesgestalt, in denjenigen mikrokosmischen Kräften seiner Leibesgestalt, die lediglich die niederen egoistischen Triebe darstellen. Der Mensch hat sie in sich, diese Kräfte, die zur Zerstückelung des Dionysos hingeführt haben. Es sind die niederen Triebe der menschlichen Natur, die mit einer tierischen, instinktiven Art in der menschlichen Natur wirken und welche die Grundlagen des eigentlichen menschlichen Egoismus sind. Aus diesen Trieben heraus entwickeln sich Sympathie und Antipathie, die Triebe, das Instinktartige, von dem Nahrungstrieb, von sonstigen anderen Trieben bis zum Fortpflanzungstrieb herauf, der durchaus als solcher in die Reihe der niederen Triebe gehört. Wenn es nur auf Hera angekommen wäre, wenn Pallas Athene nicht rettend eingegriffen hätte, würde der Mensch nur Enthusiasmen entwickelt haben, die aus diesen niederen Trieben hervorgehen. Was uns hinwegführt über die niederen Triebe, das ist die Tatsache, daß wir mit unserm Herzen einen anderen Egoismus noch entwickeln können. Wenn unser Herz schlägt für die geistige Welt und für die großen Ideale der geistigen Welt, wenn wir so warm fühlen gegenüber der geistigen Welt, wie der Mensch mit seinen niederen Trieben in dem erotischen Leben fühlt, dann wird die menschliche Natur verklärt und vergeistigt durch dasjenige, was Pallas Athene zu der Tat der Hera hinzugefügt hat. [1]

Ein tiefer Sinn liegt in dieser Gestalt der jungfräulichen Pallas Athene. Sie ist als Weisheitsgöttin selber jungfräulich. Was heißt dieses eigentlich im höheren Sinne? In den (vorgriechischen) Zeiträumen war die Weisheit von den Mysterienpriestern nicht als eine jungfräuliche Macht hingestellt worden, weil sie als Menschen-weisheit immer befruchtet war von der alten atavistischen Hellseherkraft. Erst im vierten nachatlantischen Zeitraum ist die Möglichkeit eingetreten, auch etwas zu wissen aus dem bloßen Hinschauen auf das, was nicht getrieben wird von jenen Kräften, die dem atavistischen Hellsehen zugrunde liegen, von den Affekten, von den Leidenschaften, von alledem, was als Feuer in der menschlichen Wesenheit glimmt, sondern von dem jungfräulichen, von atavistischem Hellsehen unbefruchteten Spiegelbilde der Welt. Von der Maya stammt diejenige Weisheit, die gemeint ist, wenn ihre Repräsentantin hingestellt ist: die Pallas Athene. [2]

Zitate:

[1]  GA 129, Seite 114ff   (Ausgabe 1960, 254 Seiten)
[2]  GA 180, Seite 29   (Ausgabe 1980, 351 Seiten)

Quellen:

GA 129:  Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen (1911)
GA 180:  Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse. Alte Mythen und ihre Bedeutung (1917/1918)