Triebe und Instinkte und Begierden

Wenn im Menschen sich ein Instinkt, ein Trieb geltend macht, es mag meinetwillen etwas sehr bösartig Geistiges sein, was sich da geltend macht bei dem einen und bei dem anderen Menschen, aber selbst wenn es der brutalste Trieb ist, Geist ist es, der dahintersteckt. Nur kann der Mensch diesen Geist heute noch nicht fassen. Das Menschengeschlecht ist eben durchaus in Entwickelung begriffen. Es muß sich erst hinbewegen zu einer solchen Geistigkeit, daß wenn der Mensch in sich hineinschaut, und er seine Triebe, Instinkte, Begierden wahrnimmt, er in ihnen überall Geistiges wahrnimmt. Das wird er einmal in der Zukunft tun. Dabei macht es gar keinen Unterschied, ob der Mensch etwa böse oder gute Instinkte hat; es sind dann halt ahrimanische oder luziferische Geistigkeiten, die in ihm stecken, wenn es böse Instinkte sind, aber es sind Geistigkeiten. Mit diesem Vorgeben (des westlichen Menschen), daß wir Triebe, Instinkte haben als die treibenden Motoren im Menschen, ist es nämlich gar nicht anders, als es mit den Gespenstern in bezug auf die Geistigkeit von früher war. Sehen Sie, da war einmal in der Anschauung von dem Orientalen eine alte Geistigkeit vorhanden; das hat sich weiterentwickelt und ist als Endprodukt, also wie gesagt, in dem letzten Jahrtausend vor dem Mysterium von Golgatha, zum Gespensterglauben, zum Gespensteranschauen geworden. Jetzt stehen wir in der Weltenentwickelung so drinnen, daß wir auf der einen Seite hinschauen, wie der Gespensterglaube aus einer alten Geistigkeit herausgekommen ist; aber wir schauen zu gleicher Zeit in der Perspektive nach einer Zukunft hinein; da wird einstmals wiederum eine reine Anschauung kommen. Aber jetzt ist noch ein Gespensterglaube da, ein innerer Gespensterglaube. So wie der Gespenstergläubige meint, die Gespenster seien sinnlich, schauen so aus, wie man mit dem Auge sieht, so sieht der heutige Mensch, der Westmensch, noch nicht die Geistigkeit, wenn er in sich selber hineinschaut, sondern nimmt das Gespenstische wahr. Alle Triebe, Instinkte, Begierden, das sind Gespenster, die heute vorangehen einer Geistigkeit. Man kann also sagen: Vom Osten nach dem Westen entwickelte sich eine alte reine Geistigkeit; es folgt der Gespensterglaube im Laufe der Zeiten, und die Reste sind noch immer unter uns. Vom Westen herein gegen den Osten zu entwickelt sich, an uns herankommend und in einer fernen Zukunft sich realisierend, eine spätere Geistigkeit, die sich in ihren Anfängen zeigt durch etwas, was genauso gespenstig ist wie die alten Gespenster, nämlich Triebe, Instinkte, Begierden und so weiter, so wie sie der heutige Mensch ansieht. Der heutige Gelehrte muß aus der Anschauung heraus, die er hat, den Menschen Triebe, Begierden beilegen und sieht mit Verachtung auf den Gespensterglauben der großen Masse herab. Er weiß nicht, das dieser Gespensterglaube der großen Masse genau ebensoviel Erkenntniswert und Erkenntniswesenheit hat wie sein Glaube an Begierden, Triebe und Instinkte. Er ist gespenstergläubig für die Gespenster des Anfangs, wie die große Masse gespenstergläubig ist für die Gespenster des Endes. Und unsere europäische Zivilisation ist deshalb so chaotisch geworden, weil in ihr zusammenstießen die alten Gespenster mit den neuen Gespenstern. [1]

Zitate:

[1]  GA 212, Seite 167ff   (Ausgabe 1978, 178 Seiten)

Quellen:

GA 212:  Menschliches Seelenleben und Geistesstreben im Zusammenhange mit Welt- und Erdentwickelung (1922)