Dionysos – Urdrama des Menschen

Der Grieche liebte die Welt; und der Tod hatte für ihn etwas Furchtbares. Achilles, der von Odysseus in der Unterwelt getroffen worden ist, hat bekanntlich gesagt, daß er lieber ein Bettler sei auf der Oberwelt, als ein König im Reiche der Schatten. Aber zu dieser gewöhnlichen griechischen Weltauffassung sollten die Mysterien ein Gegenbild abgeben. Sie sollten den Wert des Ewigen, Dauernden darstellen gegenüber dem Irdisch-Vergänglichen. Und so bedeutet die Oberwelt in der Persephonesage eigentlich die himmlischen Regionen, in denen Persephone als unsterbliche ist. Und die Unterwelt ist ein Sinnbild der Erde. Ursprünglich stammt die Seele aus himmlischen Regionen. Sie wird aber von Zeit zu Zeit auf der Erde verkörpert. Sie genießt hier, auf der Erde, von deren Früchten [Granatapfel] und muß deshalb immer wieder zurückkehren. Das heißt, die Seele hat die Begierde zum Irdischen, und wird dadurch zu immer neuen Verkörperungen getrieben. Die Erdenseele [Demeter] möchte ihrer Tochter, der Menschenseele, die Unsterblichkeit geben. Deshalb sucht Demeter das ihr anvertraute Kind im Feuer zu läutern, zu heilen von der Sterblichkeit. Nun wurde in Zusammenhang mit diesem Drama von der Menschenseele das Schicksal des Gottes Dionysos gebracht. Dionysos ist der Sohn des Zeus und einer sterblichen Mutter, der Semele. Zeus entreißt das noch unreife Kind der vom Blitze erschlagenen Mutter und bringt es zur Reife in der eigenen Hüfte. Hera, die Göttermutter, reizt die Titanen gegen das Kind auf. Sie zerstückeln es. Aber Athene rettet das Herz des Knaben und bringt es dem Zeus. Dieser erzeugt daraus zum zweiten Male den Dionysos. Der von Unsterblichem und Sterblichem abstammende Dionysos ist das Sinnbild des Menschengeistes. Und in dem Menschengeist ist ein Teil des göttlichen Geistes selbst zu erkennen. Dieser Geist erscheint in dem Menschen nicht rein, sondern in dem Gewande der Leidenschaften. Die Titanen sind das Sinnbild dieser Leidenschaften. Sie lassen in dem einzelnen Menschen nicht den ganzen, reinen Gottesgeist wirken, sondern immer ein Stück desselben. Aber trotzdem gibt es in jedem Menschen den Quell des Göttlichen [das Herz]. Dieser wird durch die Weisheit [Athene] gerettet. Die Läuterung, die Heilung des durch die titanischen Leidenschaften zerstörten Gottesgeistes wird in dem Dionysosdrama dargestellt. Nimmt man nun die beiden Dramen, das Persephone- und Dionysosdrama zusammen, so ergibt sich das menschliche Urdrama, wie es den Griechen dargestellt wurde, die zu den eleusinischen Mysterien (siehe: Mysterien eleusinische) zugelassen wurden. Aus Geist und Seele besteht der innere, der höhere Mensch. Die Seele entstammt der unsterblichen Erdseele, der Geist dem ewigen Gottesgeiste. Die Erdenlaufbahn stellt für die Seele eine Unterbrechung, für den Geist eine Zerstückelung dar. Beide müssen geläutert, gereinigt von dem Irdischen werden. Die irdischen Leidenschaften müssen, zu geistigen werden. Der Mensch, der die beiden Dramen sah, sollte angeregt werden, mit der eigenen Seele und dem eigenen Geiste diese Läuterung vorzunehmen. In dem Schicksale der Persephone und des Dionysos sollte er das eigene sehen. Die große Selbsterziehung, welche er mit sich vorzunehmen habe, wurde ihm in diesen Dramen vorgeführt. [1]

Zitate:

[1]  GA 34, Seite 154ff   (Ausgabe 1960, 627 Seiten)

Quellen:

GA 34:  Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften «Luzifer» und «Lucifer – Gnosis» 1903 – 1908 (1903-1908)