Persephone

Der alte Grieche sah zu jener Göttin auf, die die Regentin des alten an die menschliche Natur gebundenen Hellsehens war, und nannte sie Persephone. Und dann sagte er sich: an die Stelle der alten Seherkultur wird immer mehr und mehr eine andere treten, die von Menschen dirigiert wird, von Menschen geboren wird, denen das alte Hellsehen schon verloren gegangen ist. – In derjenigen Kultur, die der alte Grieche anknüpfte an die Namen Agamemnon, Odysseus, Menelaos, ist das gegeben, was wir heute als unsere äußere, nicht mehr von hellseherischen Kräften berührte geistige Kultur erkennen. [1]

Was ist denn geschehen im Sinne unserer Geisteswissenschaft mit der alten hellseherischen Fähigkeit der Menschenseele? Ja, wir können sagen, dieser Raub der Persephone hat sich eben vollzogen seit der ältesten Kultur bis in unsere Zeiten herein; die alte hellseherische Kultur ist verschwunden. Aber in Wahrheit verschwindet nichts in der Welt, in Wahrheit verwandeln sich die Dinge nur. In das unterbewußte Seelenleben, in das, was in dem Menschen wirkt heute, ohne daß er mit seinem Bewußtsein sich verständige, intellektuelle Rechenschaft gäbe, da ist Persephone, da sind die alten hellseherischen Kräfte hinuntergezogen. Während sie in den uralten Zeiten in der Menschenseele so wirkten, daß diese Seele hellseherisch in geistige Welten hineinschauen konnte, wirken diese Kräfte heute in den Untergründen der menschlichen Seele, in den Seelentiefen, wirken mit bei der Ausbildung und Formung unseres Ich, machen dieses Ich immer fester und fester. Diese Persephonekräfte sind umschlungen von dem, was in den Tiefen der menschlichen Seele ruht, sie sind geraubt in einer gewissen Beziehung von den Tiefen der menschlichen Seele. Und so hat sich im Laufe des geschichtlichen Werdens der Menschheit dieser Raub der Persephone vollzogen durch jene Kräfte der Menschenseele, die tief in ihren Untergründen sitzen und äußerlich in der Natur repräsentiert werden durch Pluto, der im Sinne der griechischen Götterlehre das Unterirdische der Erde beherrscht. Aber der Grieche war sich bewußt, daß dieselben Kräfte, die in den Tiefen der Erde wirken, auch in den Tiefen der menschlichen Seele wirken. Nun ist Persephone die Tochter der Demeter, und wir werden dadurch auf die Anschauung geführt, daß wir in Demeter eine noch ältere Regentin sowohl der äußeren Naturkräfte wie auch der Kräfte der menschlichen Seele zu sehen haben. [2] Von dem Dichterwerden des menschlichen Leibes rührt das Gefangennehmen der hellseherischen Kräfte im Innern der Menschennatur her. Und indem man noch im alten Griechenlande fühlt, daß der alte – sagen wir symbolisch – weiche menschliche Leib in sich selber dichter wird, nimmt er die Kräfte auf, die im Innern der Erde wirksam sind, während er früher mehr von den Kräften beherrscht war, die den Luftkreis in Anspruch nahmen und dadurch ihn weicher machten. [3]

Persephone ist in das Irdische untergetaucht, um die Pflanzenwelt davon zu befreien, bloß vom Irdischen sich bilden zu müssen. Das ist der Niederstieg eines göttlich-geistigen Wesens in die Natur der Erde. Auch Persephone hat ja eine Art «Auferstehung», aber jährlich in rhythmischer Folge. [4]

So bedeutet die Oberwelt in der Persephonesage eigentlich die himmlischen Regionen, in denen Persephone als unsterbliche ist. Und die Unterwelt ist ein Sinnbild der Erde. Ursprünglich stammt die Seele aus himmlischen Regionen. Sie wird aber von Zeit zu Zeit auf der Erde verkörpert. Sie genießt hier, auf der Erde, von deren Früchten (Granatapfel) und muß deshalb immer wieder zurückkehren. Das heißt, die Seele hat die Begierde zum Irdischen, und wird dadurch zu immer neuen Verkörperungen getrieben. Die Erdenseele (Demeter) möchte ihrer Tochter, der Menschenseele, die Unsterblichkeit geben. Deshalb sucht Demeter das ihr anvertraute Kind im Feuer zu läutern, zu heilen von der Sterblichkeit. Nun wurde in Zusammenhang mit diesem Drama von der Menschenseele das Schicksal des Gottes Dionysos gebracht. Dionysos ist der Sohn des Zeus und einer sterblichen Mutter, der Semele. Zeus entreißt das noch unreife Kind der vom Blitze erschlagenen Mutter und bringt es zur Reife in der eigenen Hüfte. Hera, die Göttermutter, reizt die Titanen gegen das Kind auf. Sie zerstückeln es. Aber Athene rettet das Herz des Knaben und bringt es dem Zeus. Dieser erzeugt daraus zum zweiten Male den Dionysos. Der von Unsterblichem und Sterblichem abstammende Dionysos ist das Sinnbild des Menschengeistes. Und in dem Menschengeist ist ein Teil des göttlichen Geistes selbst zu erkennen. Dieser Geist erscheint in dem Menschen nicht rein, sondern in dem Gewande der Leidenschaften. Die Titanen sind das Sinnbild dieser Leidenschaften. Sie lassen in dem einzelnen Menschen nicht den ganzen, reinen Gottesgeist wirken, sondern immer nur ein Stück desselben. Aber trotzdem gibt es in jedem Menschen den Quell des Göttlichen (das Herz). Dieser wird durch die Weisheit (Athene) gerettet. Die Läuterung, die Heilung des durch die titanischen Leidenschaften zerstörten Gottesgeistes wird in dem Dionysosdrama dargestellt. Nimmt man nun die beiden Dramen, das Persephone- und Dionysosdrama zusammen, so ergibt sich das menschliche Urdrama, wie es den Griechen dargestellt wurde, die zu den eleusinischen Mysterien zugelassen wurden. Aus Geist und Seele besteht der innere, der höhere Mensch. Die Seele entstammt der unsterblichen Erdseele, der Geist dem ewigen Gottesgeiste. Die Erdenlaufbahn stellt für die Seele eine Unterbrechung, für den Geist eine Zerstückelung dar. Beide müssen geläutert, gereinigt von dem Irdischen werden. Die irdischen Leidenschaften müssen zu geistigen werden. Der Mensch, der die beiden Dramen sah, sollte angeregt werden, mit der eigenen Seele und dem eigenen Geiste diese Läuterung vorzunehmen. In dem Schicksale der Persephone und des Dionysos sollte er das eigene sehen. Die große Selbsterziehung, welche er mit sich vorzunehmen habe, wurde ihm in diesen Dramen vorgeführt. [5]

Zitate:

[1]  GA 129, Seite 17   (Ausgabe 1960, 254 Seiten)
[2]  GA 129, Seite 34f   (Ausgabe 1960, 254 Seiten)
[3]  GA 129, Seite 37   (Ausgabe 1960, 254 Seiten)
[4]  GA 26, Seite 163   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[5]  GA 34, Seite 155f   (Ausgabe 1960, 627 Seiten)

Quellen:

GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 34:  Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften «Luzifer» und «Lucifer – Gnosis» 1903 – 1908 (1903-1908)
GA 129:  Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen (1911)