Inspiration

Wenn wir mit demjenigen, was wir auch in der Imagination erkennen, wenn wir nun dasjenige erfassen, anschauen was nun auch im Vegetabilischen lebt dann bringen wir es auf der einen Seite zu einer intimen Erkenntnis unserer eigenen, übersinnlichen Wesenheit, wenigstens wie sie zwischen Geburt und Tod ist, aber wir bringen es gerade dadurch auch zu einer Anschauung des Fluktuierenden, des sich Metamorphosierenden in der lebendigen Gestaltenwelt. Dadurch verbinden wir uns als Mensch zunächst auf einer ersten Stufe in der Imagination mit der Außenwelt. Wir fügen das Menschliche in unsere Weltanschauung wiederum ein.

Eine nächste Stufe der übersinnlichen Erkenntnis ist die Inspiration. Sie wird dadurch errungen, daß man immer mehr und mehr ausbildet – ich möchte sagen den Gegenpol des Meditierens und Sich-Konzentrierens. Derjenige, der eine gewisse Übung sich angeeignet hat in dem Meditieren und Konzentrieren, der weiß, daß, weil das Denken erkraftet, man zu gleicher Zeit die innere Neigung bekommt, in dem, was sich als ein Teil der Seele, als erkraftetes Denken ergibt, stehen zu bleiben. Man muss sich mehr anstrengen, als beim Verlassen eines anderen Gedankens, beim Verlassen dieser erkrafteten imaginativen Gedanken. Aber wenn man es dazu bringt, dass man nun wirklich wiederum aus dem Bewusstsein herauswerfen kann diese erkrafteten Gedanken, diese ganze imaginative Welt, die man sich zunächst angeeignet hat, wenn man mit anderen Worten das Bewusstsein leer machen kann, nicht leer machen kann auf dem gewöhnlichen Standpunkt, sondern leer machen kann, nachdem man es zuerst innerlich erkraftet hat, dann wird diese Leerheit des Bewusstseins etwas ganz anderes, als was die Leerheit des Bewusstseins im gewöhnlichen Leben ist. Da ist die Leerheit des Bewusstseins das Schlafen.

Die Leerheit des Bewusstseins aber, die auftritt, nachdem man dieses Bewusstsein zuerst erkraftet hat, die wird sehr bald erfüllt von den Erscheinungen einer Umwelt, die jetzt ganz anders sind als alles dasjenige, was man vorher erkannt hat. Jetzt lernt man eine Welt kennen, auf die gar nicht mehr anwendbar sind unsere gewöhnlichen Vorstellungen von Raum und Zeit – jetzt lernt man eine Welt kennen, die eine wirkliche seelisch-geistige, reale Außenwelt ist, die ebenso konkret ist wie unsere reale Sinnenwelt, die aber dadurch in uns hineinfließt, daß man auf einer höheren Stufe das Bewusstsein leer gemacht hat. Nachdem man durchgegangen ist durch diese Vorbereitungen, erst zur Imagination gekommen ist, wobei man sich auf einen geistigen Inhalt konzentrieren kann und indem man außerhalb seines Leibes nun wahrnehmen kann, weil man Aktivität in sich hat – nicht jene Passivität, die beim gewöhnlichen Bewusstsein vorhanden ist –, so dringt jetzt, ebenso wie sonst die Erscheinungen der Farbenwelt, die Erscheinungen der Tonwelt durch die Sinne eindringen, so dringt durch die entwickelte Aktivität des freigewordenen Bewusstseins die geistige Außenwelt ein.

Durch diese geistige Außenwelt gelangt man auf der einen Seite zu der Erkenntnis desjenigen, was wir waren als Mensch bevor wir aus einer geistig-seelischen Welt heruntergestiegen sind in die physische Welt, bevor wir uns vereinigt haben mit dem, was im Mutterleibe durch die Konzeption vorbereitet worden ist als der physische Menschenkeim, man gelangt zu einer Anschauung desjenigen, was erst in einer geistig-seelischen Welt gelebt hat mit dem physischen (sinngemäß: überphysischen) Menschenwesen. Man lernt also dasjenige in einem kennen, was im Grunde genommen ganz unwirksam ist zwischen Geburt und Tod, was gewissermaßen ausgeschlossen ist in unserem sinnlichen Menschen, was aber in uns wirksam war und was in seiner Reinheit wirkte, bevor wir heruntergestiegen sind zu einer physischen Verleiblichung. Das ist das eine: Wir bekommen Menschenerkenntnis, indem wir zu dieser Stufe des übersinnlichen Schauens, die ebenso exakt entwickelt wie die andere, aufsteigen, und diese Erkenntnis, die also wie die reine Luft von außen in unsere Lunge strömt, die wir dann weiter verarbeiten, diese Erkenntnis also, durch die eine geistige Welt in uns einströmt, sodass wir sie weiter in uns verarbeiten – für das gewöhnliche Bewusstsein im Unterbewussten – für dieses entwickelte Bewusstsein aber vollbewusst – dieses Einströmen, das habe ich mir gestattet, die Inspiration in der Erkenntnis zu nennen. Es ist also das die zweite Stufe. Durch sie gelangen wir zunächst dazu, unser Ewiges als Präexistierendes zu erkennen. [1] (11.5.1922, Vortrag in Leipzig).

Inspiration ist das Lebenselement der geistigen Welt, wie Imagination das Lebenselement der astralen Welt ist. Eine wirklich inspirierte Welt ist aus dem Geiste heraus geschaffen. [2] (Bei der) Inspiration strömt jetzt etwas ein, was nicht etwa ein feinerer Stoff ist, sondern was sich zum Stoffe verhält, wie sich zu dem Positiven das Negative verhält. Was das Entgegengesetzte des Stoffes ist, das strömt jetzt in die vom Äther frei gewordene Menschlichkeit herein. [3] Inspiration kann die Erfüllung durch geistige Tatsachen genannt werden. [4] Dasjenige, was man den astralischen Organismus nennen kann, wird durch Inspiration erlebt. [5]

Ebenso wie man das Denken ausbildet und dadurch zum objektiven Denken gelangt, was die erste Stufe (höherer Erkenntnis) ist, so bildet man das Fühlen aus, und es wird auf der Stufe der Imagination eine neue Welt aufgehen. Und ebenso bildet man den Willen aus, und es ergibt sich in der Inspiration die Erkenntnis der niederen devachanischen Welt (siehe: Devachan unteres), und endlich tut sich in der Intuition die höhere devachanische Welt vor dem Menschen auf. [6] Übt man die Kraft (der übersinnlichen Erkenntnis) weiter, dann kann man den Ätherleib auslöschen. Man löscht nicht nur einzelne Vorstellungen aus, man löscht den ganzen Ätherleib aus. Dann tritt in höherem Sinne ein leeres Bewußtsein ein, und vor diesem leeren Bewußtsein tritt unser seelisch-geistiges Leben auf, wie es war in einer seelisch-geistigen Welt, bevor wir als Seele heruntergestiegen sind aus übersinnlichen Welten in diesen Erdenleib. Wir lernen das vorgeburtliche Leben kennen durch (diese) Erkenntnis, die ich Inspirations-Erkenntnis nennen möchte. So wie die äußere Luft durch Inspiration in die Lunge einzieht, so zieht die geistige Welt durch das leer gewordene Bewußtsein ein. Dann atmen wir, jetzt geistig gemeint, gewissermaßen die geistigen Welten ein, wie wir sie kannten, bevor wir heruntergestiegen sind aus geistigen Höhen in das physische Erdendasein. [7]

Die Kräfte, die vom 7. bis zum 14. Jahre, bis zur Geschlechtsreife tätig sind und dann schlafen gehen, drunten in der Menschennatur ruhen, die werden heraufgeholt und bilden die Kraft der Inspiration. [8] Was Pythagoras die Sphärenmusik genannt hat, ist etwas, was der Geistesforscher wirklich erreichen kann. Er taucht unter in die Dinge und Wesen der geistigen Welt und hört, aber hört, indem er ausspricht. Ein sprechendes Hören, ein hörendes Sprechen im Untertauchen in das Wesen der Dinge ist das, was man erlebt. Die wahre Inspiration ist es, die sich also ergibt. [9] Sie nimmt die Weltintelligenz, die Weltgedanken so auf, daß man sie wie geistig hört. Von allen Seiten spricht es, erklingt das Weltenwort mit aller Deutlichkeit. [10]

Geht man von dem Gedanken zur Imagination über, so erlebt man seine Imaginationen im Muskelsystem. Die Inspiration erlebt man, indem man innerlich mit seinen eigenen Organen miterlebt. Man muß nur ja nicht da, wo es sich um Inspiration handelt, den Satz vergessen: «naturalia non sunt turpia» (natürliche Dinge sind nicht schimpflich). Denn unter Umständen werden die wunderbarsten Inspirationen mit den Nieren erlebt oder mit anderen niederen Organen. Dasjenige, was höhere Erkenntnis ist, das nimmt wirklich den ganzen Menschen in Anspruch. [11]

Nehmen wir zum Beispiel an, Sie meditieren so, daß Sie sich in die Kräfte Ihrer Seele versetzen, die sonst im Sprechen zum Ausdruck kommen, ohne zu sprechen, Sie bleiben stumm. Wenn man so das Seelische gleichsam aufhält in seinem Inneren, bevor es in das Körperliche eingreift, so hat man eine Kraft in sich erfaßt, die zu der Inspiration führt, zu dem geistigen Hören. Darauf beruht der okkulte Ausspruch von der sogenannten «schweigenden Erkenntnis». Ein solches Schweigen ist da gemeint, bei welchem man die Kräfte, die sonst in den Kehlkopf fließen, innerlich verwendet. Wenn wir wahrnehmen können mit dieser Kraft, die sonst zum Sprechen verwendet wird, dann treten wir in die Sphäre ein, für die, ohne alles religiöse Vorurteil, das Johannes-Evangelium uns das richtige Verständnis gibt, indem es sagt: «Im Urbeginne war das Wort.» – Dieses «Wort» vernimmt man, wenn man das eigene Wort, die eigene Leiblichkeit so abdämpfen kann, daß man die Kraft, die sonst durch den Kehlkopf spricht, vor dem Kehlkopf aufhalten kann und sie dadurch frei wird. Was war also, das machte, daß die Menschen nicht von Anfang an das Weltenwort wahrgenommen haben? Das war, daß sie sprechen lernen mußten! Je weiter die Menschheitsentwickelung vorschreitet, um so abstrakter wird das Wort, es wird nur zum Zeichen dessen, was es ausdrücken soll. Die Sprache wird immer unorganischer, immer arabeskenhafter, immer fremder dem Menschen. In diesem Fremdwerden der Sprache von der inneren Bedeutung der Worte werden bloßgelegt diejenigen Kräfte, die früher dazu verwendet wurden, die Sprache auszubilden. Das hängt wiederum damit zusammen, daß diese Kraft verwendet werden wird für das Wahrnehmen des Weltenwortes, des geistigen Christus. [12]

Durch Wegschaffen von meditierten Vorstellungen müssen wir uns die Kraft aneignen, den seelischen Koloß unseres bisherigen Lebens zwischen unserem jetzigen Augenblick und der Geburt (steht in der Imagination vor uns) – den müssen wir wegschaffen. Schaffen wir den weg, dann tritt für uns etwas ein, was ich nennen möchte «wacheres Bewußtsein». Dann sind wir bloß wach, ohne daß in dem wachen Bewußtsein etwas darinnen ist. Aber das füllt sich jetzt. Das ist jetzt die Inspiration. Da strömt jetzt etwas ein, was nicht ein feinerer Stoff ist, sondern was sich zum Stoffe verhält, wie sich zu dem Positiven das Negative verhält. Was das Entgegengesetzte des Stoffes ist, das strömt jetzt in die vom Äther frei gewordene Menschlichkeit herein. Wenn ich den Ätherleib weggeschafft habe, komme ich nicht in einen noch feineren Äther hinein, sondern in etwas, was dem Äther entgegengesetzt ist, wie die Schulden dem Vermögen. Und jetzt weiß ich erst aus Erfahrung, was Geist ist. Der Geist kommt durch Inspiration in einen herein, und das erste, was wir jetzt erleben, das ist dasjenige, was vor der Geburt beziehungsweise vor der Empfängnis mit unserer Seele und mit unserem Geiste in einer geistigen Welt war. Das ist das präexistente Leben unseres Seelisch-Geistigen. Vorher haben wir es im Äther geschaut bis zu unserer Geburt hin. Jetzt schauen wir über die Empfängnis hinaus in die geistig-seelische Welt, und kommen dazu, uns wahrzunehmen, wie wir waren, bevor wir heruntergestiegen sind aus geistigen Welten und einen physischen Leib durch die Vererbungslinie angenommen haben. Die Ungeborenheit entdeckt die Initiationserkenntnis vor der Unsterblichkeit. [13]

Es ist eine größere Energie der Seele notwendig, um Bilder, die entweder durch das imaginative Leben oder infolge desselben auftreten, wieder fortzuschaffen, als etwa, um Vorstellungen fortzuschaffen, die ins Bewußtsein eingetreten sind entweder aus dem Gedächtnis heraus oder aus der gewöhnlichen sinnlichen Anschauung. [14]

Wie man etwas, was einem in einer neuen Wahrnehmung entgegentritt, um es sich zu verdeutlichen, mit dem zusammenbringt, was man schon erlebt hat, so bringt man im wirklich freien inspirativen Leben dasjenige, was man als Offenbarungen kosmischer geistiger Wesenheiten erlebt, mit dem zusammen, was man innerhalb der physisch-sinnlichen Welt erlebt hat. Es ist hier so, als ob das Erleben im Geistigen neue Ahnungen gäbe an das, was man früher in der Sinnenwelt durch seinen physischen Leib erlebt hat. Und man muß die volle Besonnenheit haben, diesen höheren Grad der übersinnlichen Erkenntnis, der etwas Überwältigendes hat, in derselben ruhigen Seelenverfassung zu erleben wie das Zusammenbringen einer neuen Wahrnehmung mit einer alten Erinnerung. Jetzt fühlt man durch die Inspiration, wie in dieser ätherischen wogenden Welt, in dieser rhythmisch vibrierenden Welt wie auf den Wellen eines ätherischen Weltenmeeres wirkliche Wesenheiten schweben und sich betätigen. Man fühlt so, was einen an die Sonne erinnert, was an den Mond, an die Planeten und Fixsterne erinnert und auch an die physischen Erdendinge erinnert, an Mineralien und Pflanzen, und das alles in dem Weltenäther drinnen. [15]

Dieses leere Bewußtsein, bei dem der Mensch sonst einschläft, das muß willkürlich herbeigeführt werden. Aber der Mensch muß, indem er alle Bewußtseinseindrücke, auch alle selbstgemachten Bewußtseinseindrücke auslöscht, nur wach sein. Das ist das Bedeutsame: nur wach sein, die Kraft, die innere Aktivität haben, nur wach sein und keine äußeren Eindrücke, keine selbstgemachten Erlebnisse mehr zu haben. Jetzt ist es nicht mehr das eigene Erleben, sondern es ist die auf uns eindringende geistige Welt, die sich nun vor uns hinstellt. Und wenn wir so stark sind, daß wir nicht nur einzelne Partien, die wir uns erarbeitet haben, ausschalten, sondern das ganze Lebenstableau auf einmal ausschalten können, so daß wir es kommen lassen können, wieder ausschalten können, so daß wir, nachdem wir das Lebenstableau gehabt haben, leeres Bewußtsein herstellen, nur wachen dann tritt wiederum als erstes in dieses leere Bewußtsein herein das vorirdische Leben, das der Mensch zugebracht hat, bevor er durch die Empfängnis in einen irdischen Leib heruntergestiegen ist. Dies ist die erste wirklich übersinnliche Erfahrung, die man macht nach Herstellung des leeren Bewußtseins: das eigene vorirdische Leben anzuschauen. [16] Das kosmische Glücksgefühl (als Begleiterscheinung der Imaginationen), das verwandelt sich in diesem Augenblicke, wo wir das leere Bewußtsein mit der Ruhe herstellen, in einen ebenso umfassenden seelischen Schmerz, in ein ebenso umfassendes seelisches Leid. Und wir machen die Erfahrung, daß die Welt aufgebaut ist auf Grundlage des kosmischen Schmerzes, beziehungsweise eines kosmischen Elementes, das vom Menschen nur im Schmerz erlebt werden kann. [17]

Aber erst, wenn das inspirierte Erkennen eintritt, dann tritt mit diesem, das ja gewissermaßen ein fortentwickeltes Vergessen ist, dasjenige ein, was ich charakterisieren muß als ein völliges Auslöschen derjenigen Umgebung, die früher durch die Sinne wahrgenommen worden ist. Also es tritt ein Zustand ein, wo das eigene Innere, und zwar das zeitliche Innere bis zur Geburt hin, Objekt wird, und wo man sich subjektiv, aber subjektiv wie innerlich leer zunächst, erfühlt nun eigentlich in der Außenwelt, nicht innerhalb seines Leibes, sondern in der Außenwelt. [18]

Wenn wir nun aufsteigen von der Imagination zur Inspiration, dann kommen wir nun schon an den luftförmigen Menschen, an dasjenige, was im Menschen luftförmig ist. Wir kommen an eine Auffassungsweise, die sehr ähnlich ist dem Hören musikalischer Töne, Harmonien, Melodien, sehr ähnlich ist dem musikalischen Hören. Die Inspiration hat nichts mehr mit etwas Begriffsmäßigem zu tun, sondern mit etwas, was auch in der Auffassung eine Art Musikalisches ist. Das Musikalische muß nicht immer gehört werden, es kann auch, indem es geistig ist, empfunden werden. Aber im Grunde genommen hat alle Inspiration etwas Musikalisches. Die Form der menschlichen inneren Organe, derjenigen Organe, die eigentlich die werdende Organisation während des Lebens besorgen in der Ernährung, in der Atmung und so weiter, also die Organe, die dem zugrunde liegen, die sind nicht erklärbar aus irgendwelchen mechanischen Gesetzen. Aber nicht einmal imaginativ sind sie zu erklären. Alle kommen sie heraus aus den Gestaltungskräften des Luftförmigen. Diese Gestaltungskräfte atmen wir mit der physischen Substanz der Luft ein. Aber dies, was da vorliegt, daß die Organe des Menschen herausgebildet werden aus den sich gestaltenden Schwingungen der Luft, das ist nur durch Inspiration zu begreifen. Das, was sich herausgestaltet aus dem Luftförmigen, eben Geformtes, das ist in der Auffassung gleich dem Musikalischen, wie den Klangfiguren auch ein Musikalisches zugrunde liegt. Die Inspiration ist der einzige Weg, durch den man die inneren Organe verstehen kann. [19]

Steigt der Erkennende zur Inspiration auf, so wird er gewahr, daß er diese Welt, die sich auf die Denkorganisation stützt, ebenso abstreifen kann wie die irdische. Er durchschaut, wie er auch mit dieser Denkorganisation nicht dem eigenen Wesen, sondern der Welt angehört. Er durchschaut, wie die Weltgedanken durch seine eigene Denkorganisation in ihm walten. Er wird wieder gewahr, wie er denkt, indem er nicht Abbilder der Welt in sich hereinnimmt, sondern wie er mit der Denkorganisation in das Weltdenken hinauswächst. Sowohl in bezug auf die Sinnesorganisation wie auf das Denksystem ist der Mensch Welt. Die Welt baut sich in ihn hinein. Dadurch ist er im Sinneswahrnehmen und im Denken nicht er selbst, sondern er ist da Welt-Inhalt. In die Denkorganisation streckt nun der Mensch das Geistig-Seelische seines Wesens hinein, das weder der Erden- noch der Sternen-Welt angehört, das ganz geistiger Art ist und von Erdenleben zu Erdenleben in dem Menschen west. Dieses Geistig-Seelische ist nur der Inspiration zugänglich. Mit der Sinnesorganisation lebt der Mensch in seinem physischen Leib, mit der Denkorganisation in seinem ätherischen Leib. Nach Abstreifung beider Organisationen durch das erlebende Erkennen ist er in seinem astralischen Leib. [20]

Es gibt solche Inspirationen, die so wirken, daß die Seele das Ergebnis der Inspiration sogleich im Spiegelbilde dem Inspirator entgegenstrahlt. Es gibt aber auch solche Inspirationen, die so wirken, daß der Betreffende, der inspiriert ist, selber es kaum weiß, daß der Keim der Inspiration sich in seine Seele gesenkt hat. Denn dieser Keim muß da drinnen ruhen, unbewußt, Jahre, Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte weilen und harren, bis er die Früchte heraustreiben kann, die dann das Instrument des physischen Leibes soweit überwinden und soweit gebrauchen können, daß aus einer solchen Persönlichkeit dann Kundgebung und Offenbarung höheren Lebens erstrahlen kann. Etwas von dieser Art hatte die Inspiration, die Goethe von geheimnisvoller Seite her in Frankfurt gekommen war. [21]

Für den Menschen, der an die Inspiration herankommt, gibt es keinen Unterschied zwischen einem objektiven Naturgesetz und demjenigen, was er in seiner Seele erlebt als Gedanke, als Seelenerlebnis. Es dehnt sich wirklich das menschliche Interesse über die Naturangelegenheiten aus. Solange man nicht das Leben der Pflanze in sich so vertraut empfindet wie die Erlebnisse des eigenen Herzens, so lange kann in der Inspiration keine Wahrheit sein. Solange man nicht einen fallenden Stein, der auf die Oberfläche des Wassers aufplatscht und Tropfen aufspritzen macht, in derselben Weise empfindet, wie man empfinden kann dasjenige, was im eigenen Wesen vorgeht, so lange ist die Inspiration nicht der Wahrheit entsprechend. Ich könnte auch so sagen: Alles, was im Menschen diesem näher liegt als die Natur in ihrer Fülle, das gehört nicht zu den inspirierten Wahrheiten. Wer nicht wenigstens für einen kurzen Zeitraum loskommen kann von dem, was ihn allein angeht, der kann selbstverständlich zu keiner Inspiration kommen. Er braucht es ja nicht immer; im Gegenteil, er wird gut tun, seine eigenen Interessen scharf abzugrenzen von demjenigen, was Gegenstand seiner Inspiration sein soll. Wenn aber der Mensch sein Interesse über die Objektivität hinaus also ausdehnt, wenn er versucht, das Leben der Pflanze in ihrem Werden so zu empfinden, wenn ihm das, was da draußen wächst und keimt und wird und vergeht, so intim vertraut ist wie das Leben im eigenen Wesen, dann ist er mit Bezug auf alles das, was so an ihn herantritt, inspiriert. [22] – Wir müssen, wenn wir uns den höheren Welten nähern wollen, lernen, der menschlichen Persönlichkeit so objektiv gegenüberstehen zu können, wie wir einer Pflanze oder einem Stein objektiv gegenüberstehen. Wir müssen lernen, Anteil haben zu können auch an der Persönlichkeit derjenigen Menschen, die Taten verrichtet haben, die wir vielleicht im eminentesten Sinne verurteilen müssen. Gerade diese Trennung des Menschen von seinen Taten, die Trennung des Menschen auch von seinem Karma, die muß man vollziehen können, wenn man imstande sein will, ein richtiges Verhältnis zu den höheren Welten zu gewinnen. [23]

Für unser physisches Leben gelangt das Sonnenhafte niemals anders in das Bewußtsein des Menschen herein als dadurch, daß es ihn freut oder abstößt. Nur Gefühle gelangen vom Sonnenhaften herein, und wir müssen entgegenkommen dem Sonnenhaften mit unserem Verständnis, wir müssen hinunterdringen in das dem Menschen sonst Fremde. Das Mondenhafte (der Imagination) ist dem Menschen verwandt, das Sonnenhafte aber ist dem Menschen nicht mehr verwandt. Wir müssen hinunterbringen, hinuntertragen in Regionen, in die wir sonst nicht eindringen, unser Verständnis, wenn wir das Sonnenhafte der Inspiration uns nahebringen wollen. Es ist eine innere Kraftanstrengung notwendig, um in richtiger Weise zu den Erkenntnissen der höheren Welten sich zu stellen. [24]

Wenn der Mensch dasjenige, was aus der geistigen Welt als Inspiration an ihn herankommen will, nicht aufkommen lassen will, dann verwandelt es sich in wilde Emotionen, in animalische Triebe. [25]

Zitate:

[1]  Euro 7/2, Seite 33f   (Ausgabe 2003, 0 Seiten)
[2]  GA 101, Seite 262   (Ausgabe 1987, 288 Seiten)
[3]  GA 305, Seite 87f   (Ausgabe 1979, 264 Seiten)
[4]  GA 60, Seite 216   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[5]  GA 234, Seite 101   (Ausgabe 1994, 168 Seiten)
[6]  GA 107, Seite 59   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[7]  GA 211, Seite 151   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)
[8]  GA 191, Seite 32f   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[9]  GA 153, Seite 22   (Ausgabe 1978, 190 Seiten)
[10]  GA 239, Seite 84   (Ausgabe 1963, 276 Seiten)
[11]  GA 316, Seite 114   (Ausgabe 1980, 246 Seiten)
[12]  GA 150, Seite 95ff   (Ausgabe 1980, 146 Seiten)
[13]  GA 305, Seite 87ff   (Ausgabe 1979, 264 Seiten)
[14]  GA 215, Seite 51   (Ausgabe 1980, 188 Seiten)
[15]  GA 215, Seite 52f   (Ausgabe 1980, 188 Seiten)
[16]  GA 227, Seite 49f   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)
[17]  GA 227, Seite 56   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)
[18]  GA 324, Seite 122f   (Ausgabe 1972, 154 Seiten)
[19]  GA 316, Seite 94f   (Ausgabe 1980, 246 Seiten)
[20]  GA 26, Seite 233f   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[21]  GA 113, Seite 202f   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[22]  GA 164, Seite 71f   (Ausgabe 1984, 286 Seiten)
[23]  GA 164, Seite 73   (Ausgabe 1984, 286 Seiten)
[24]  GA 164, Seite 77f   (Ausgabe 1984, 286 Seiten)
[25]  GA 192, Seite 225   (Ausgabe 1964, 403 Seiten)

Quellen:

Euro 7/2:  Zeitschrift: Der Europäer, Jahrgang 7. Heft Nr. 2/3 (2002/2003)
GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 101:  Mythen und Sagen. Okkulte Zeichen und Symbole (1907)
GA 107:  Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (1908/1909)
GA 113:  Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi (1909)
GA 150:  Die Welt des Geistes und ihr Hereinragen in das physische Dasein. Das Einwirken der Toten in die Welt der Lebenden (1913)
GA 153:  Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt (1914)
GA 164:  Der Wert des Denkens für eine den Menschen befriedigende Erkenntnis. Das Verhältnis der Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft (1915)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 192:  Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen (1919)
GA 211:  Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum (1922)
GA 215:  Die Philosophie, Kosmologie und Religion in der Anthroposophie (1922)
GA 227:  Initiations-Erkenntnis. Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie (1923)
GA 234:  Anthroposophie – Eine Zusammenfassung nach einundzwanzig Jahren. Zugleich eine Anleitung zu ihrer Vertretung vor der Welt (1924)
GA 239:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Fünfter Band (1924)
GA 305:  Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst. Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben (1922)
GA 316:  Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst (1924)
GA 324:  Naturbeobachtung, Experiment, Mathematik und die Erkenntnisstufen der Geistesforschung (1921)