Geschlechtsreife

Während sich herauszieht etwas aus dem kindlichen Organismus im Zahnwechsel, während gewissermaßen der Leib abgestoßen wird von dem Geistig-Seelischen, das dann frei wird, haben wir in der Geschlechtsreife das nunmehr entwickelte Geistig-Seelische, das wiederum zurück will in den Leib, das den Leib durchdringt und durchtränkt. In der Geschlechtsreife haben wir eben umgekehrt ein Untertauchen des Geistig-Seelischen in das Leibliche. [1] Während zwischen Geburt und Zahnwechsel der ätherische Leib gewissermaßen aus dem physischen herausgezogen wird, selbständig wird, zieht man zwischen dem 7. und dem 14. Jahre den astralischen Leib nun nach und nach an; und wenn er ganz angezogen ist, wenn der astralische Leib nicht mehr bloß lose verbunden ist, sondern den physischen und den Ätherleib ganz innig durchdringt, dann ist der Mensch auf dem Lebenspunkt der Geschlechtsreife angelangt. Der astralische Leib zieht langsam in den menschlichen Leib hinein von allen Seiten. Die Linien, die Richtungen, die er verfolgt, das sind die Nervenstränge. [2] Der geschlechtsreife Mensch ist in der Lage, Menschen aus sich hervorzubringen im physischen Sinne; geistig-seelisch kommt er in die Lage, in sich die ganze Menschheit zu erleben. [3]

Diese Geschlechtsreife wird heute außerordentlich einseitig betrachtet. In Wahrheit bedeutet sie, daß der Mensch überhaupt für die Welt aufgeschlossen wird. Während er bis dahin mehr in sich selber lebte, wird er für die Welt aufgeschlossen, wird veranlagt dazu, für die Dinge der Welt Verständnis zu gewinnen, für den anderen Menschen und für die Dinge der Welt. [4] Mit der Geschlechtsreife ist der Mensch ganz in die Erdenverhältnisse hereingestellt, da geht er seine Beziehungen zu den Erdenverhältnissen ein, da ist das Erdenmäßige hereingegliedert in den Menschen, und so ist eigentlich die Hauptsache beim Entstehen des zweiten Menschen zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahr das, was er sich aus dem vorirdischen Dasein mitbringt, daher das eigene Karma erst nach der Geschlechtsreife zu wirken beginnt. Dann wirkt das Irdische herein. Das erreicht einen, Abschluß in der Geschlechtsreife .316.153

Die geistige Welt, die uns unsere Seele gibt, sie arbeitet an unserer Gestaltung bis zum 7. Jahr und wird von da ab unsere Intelligenz. Dieser Intelligenz tritt entgegen – allerdings schon von der Geburt an, aber mit der Geschlechtsreife ganz besonders stark, weil dann der Austausch mit der freigewordenen Intelligenz stattfindet –, tritt entgegen das Willenselement. Und dieser Kampf zwischen äußerem Willenselement und innerem Intelligenzelement, zwischen derjenigen Geistigkeit, die wir durchschlafen, die wir durchmachen vom Einschlafen bis zum Aufwachen, und derjenigen geistigen Welt, die wir durchgemacht haben vor unserer Geburt beziehungsweise Empfängnis, der Kampf zwischen dem, was wir mitgebracht haben, und dem, was wir jede Nacht durchschlafen, er drückt sich aus in dem Werden unseres Kehlkopfes, in dem Werden desjenigen, was bei der Geschlechtsreife im Organismus ist. [5] Es kämpft in diesem Lebensabschnitte der ätherische Leib, der ja seine besonderen Organisationen durchmacht bis zur Geschlechtsreife, gegen den astralischen Leib. Es ist ein wirklicher Kampfzustand, der in dem Kinde stattfindet. Und wenn wir das physische Korrelat ins Auge fassen, das diesem Kampfzustande entspricht, so können wir sagen: Es ist in diesem Lebensabschnitte des Kindes in ausgesprochenem Maße vorhanden ein Kampf zwischen den Wachstumskräften und denjenigen Kräften, die in uns hereinspielen durch die Atmung. Ein großer Teil dessen, was wir an Entwickelung durchmachen, hängt ja an diesem Atmungsprozesse. Daher jene orientalischen Übungen, die sich besonders an den Atmungsprozeß halten (siehe: Atemübungen). Das erste große Bedeutsame, das in leiblicher Beziehung als eine Folge dieses Atmungsprozesses auftritt, das ist die Geschlechtsreife. [6]

Astralleib und Ätherleib führen ihre hauptsächlichste Attacke aus zwischen dem 9. und 10. Lebensjahre. Es findet so recht eine wirkliche Loslösung des Ich und des astralischen Leibes vom ätherischen Leib und vom physischen Leib im Schlafe erst in diesem Zeitpunkte statt. Das Kind ist, namentlich mit seinem Ich, sehr innig verbunden mit seinem physischen und mit seinem ätherischen Leib, auch wenn es schläft. Aber von diesem Zeitpunkt an beginnt das Ich wie ein selbständiges Wesen aufzuleuchten. [7] Die physischen Vorgänge beim Geschlechtsreifwerden hängen vom Saturn ab. [8]

Die Kräfte, die von der Außenwelt durch das Haupt in den Körper hineinwirken – sie schieben sich durch die plastischen Kräfte und wirken mit bei dem, was vom 7. Jahre ab beim Aufbau des kindlichen Körpers geschieht –, ich kann diese Kräfte nicht anders bezeichnen als: es sind dieselben Kräfte, welche in der Sprache und in der Musik wirken. Diese Kräfte sind aus der Welt aufgenommen. Vom 7. Jahre ab wird aber im Ätherleib besonders stark das Musikalische und Sprachliche tätig. Dann wendet sich das Ich und der astralische Leib dagegen: ein willensartiges Element von außen kämpft mit einem willensartigen Element von innen, und das kommt in der Geschlechtsreife zum Vorschein. [9]

Wenn das 14. Jahr herannaht, dann erst erfaßt das Seelisch-Geistige den ganzen Menschen, und es ist interessant zu verfolgen, wie vorher die Muskeln sich gerichtet haben nach dem Herzschlag, Pulsschlag und Atmung. So fangen sie dann an, sich durch die Sehnen mit den Knochen zu befreunden, mit dem Skelett, und passen sich den äußeren Bewegungen an. Vom Kopf geht es aus, das Seelische wächst immer weiter und weiter der Oberfläche des Menschen zu und ergreift zuletzt die Knochen, füllt dann den Menschen ganz aus und verbraucht ihn, befreundet sich immer mehr und mehr mit den Absterbekräften, bis diese Absterbekräfte im Moment des Todes den Sieg davontragen. [10] Wenn der Mensch bei der Geschlechtsreife seine physische Natur nach der Wärmeseite hin entwickelt, dann sind die luziferischen Kräfte tätig. [11]

Mit der Geschlechtsreife erwächst im Menschen nicht nur die geschlechtliche Liebe, sondern auch das, was überhaupt freie soziale Hingabe der einen Seele an die andere ist. Diese freie Hingabe der einen Seele an die andere muß sich aus etwas entwickeln; die muß sich zuerst aus der Hingabe durch das Autoritätsgefühl hindurchwinden. Liebeleere Menschen, antisoziale Menschen entstehen, wenn das Autoritätsgefühl zwischen dem siebten und vierzehnten, fünfzehnten Jahre nicht im Unterrichten und Erziehen lebt.

Die Geschlechtsliebe ist nur gewissermaßen ein Spezifikum, ein Ausschnitt aus der allgemeinen Menschenliebe. [12] Dasjenige, was als Beziehung der Geschlechter auftritt, ist nicht das Ganze; das Überschätzen in dieser Beziehung ist nur eine Folge unserer materialistischen Anschauungen. In Wirklichkeit sind alle Beziehungen zur Außenwelt, die mit der Geschlechtsreife auftreten, im Grunde genommen gleichgeartet. Man sollte daher im Grunde sprechen von einer Erdenreife, nicht von einer Geschlechtsreife, und sollte unter die Erdenreife stellen die Sinnenreife, Atemreife, und eine Unterabteilung sollte auch sein die Geschlechtsreife. Da wird der Mensch erdenreif, da nimmt der Mensch das Fremde wieder in sich hinein, da erlangt er die Fähigkeit, nicht stumpf zu sein gegen die Umgebung. Er wird eindrucksfähig gegenüber der Umgebung. Vorher ist er nicht eindrucksfähig für das andere Geschlecht, aber auch nicht für die übrige Umgebung. [13] Mit der Geschlechtsreife gestalten sich die mehr allgemein gehaltenen Sympathien und Antipathien ins Spezielle hinein; das ist deshalb, weil mit der Geschlechtsreife das eigentliche Schicksal des Menschen beginnt. Vorher steht der Mensch mehr im allgemeinen drinnen, er empfindet das Erdenleben mehr als einen guten Bekannten. Jetzt aber, wenn der Mensch geschlechtsreif geworden ist, treten die einzelnen Ereignisse so an ihn heran, daß er sie schicksalsgemäß empfindet. Indem der Mensch schicksalsgemäß das Leben auffaßt, wird es für ihn erst das richtige individuelle Leben. [14] Dasjenige, was mit dem Geschlechte zu tun hat, entwickelt sich eben erst, wenn der Mensch seinen Durchbruch in die Welt vollzogen hat, wenn er also mit der Welt in Zusammenhang getreten ist.

Jetzt bei der Geschlechtsreife, kommt etwas zu freier seelischer Tätigkeit, das vorher in den Rhythmus der Atmung hineingegangen ist, was sich von da aus noch bestrebte, Rhythmus in das Muskelsystem, sogar in das Knochensystem hineinzubringen. Dieses Rhythmische wird nun frei als Empfänglichkeit des Jünglings oder der Jungfrau für ideale Gebilde, für das Phantasiemäßige. Die eigentliche Phantasie wird im Grunde mit der Geschlechtsreife erst aus dem Menschen herausgeboren, wenn der von Zeit und Raum freie astralische Leib geboren wird, der ebenso wie die Träume Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nach inneren Gesichtspunkten durcheinander gruppieren kann. Der Mensch wird mit der Geschlechtsreife aus dem geistig-seelischen Leben der Welt herausgeworfen und hineingeworfen in die äußerliche Welt, die er nun mit seinem physischen Leib, mit seinem Ätherleib wahrnehmen kann. Und wenn das auch durchaus nicht klar in das Bewußtsein herauftritt, im Unterbewußten spielt es eine um so größere Rolle. Eine solche Rolle, daß nun der Mensch – wie gesagt, unterbewußt oder halbbewußt – die Welt, die er betritt, vergleicht mit der Welt, die er früher in sich gehabt hat. Er hat sie früher in sich nicht vollbewußt wahrgenommen, aber er fand die Möglichkeit in sich, mit ihr zu arbeiten. Das Innere des Menschen gibt die Möglichkeit, frei mit einer Überwelt zu arbeiten, frei mit einem Geistig-Seelischen zu arbeiten. Die äußere Welt gibt das nicht. Da gibt es alle möglichen Hemmungen zu überwinden. Da gibt es den ganzen Tumult, der in dem Verkehre zwischen Mensch und Welt zwischen dem vierzehnten und dem Beginn der Zwanzigerjahre eintritt. [15]

Zitate:

[1]  GA 304, Seite 79   (Ausgabe 1979, 228 Seiten)
[2]  GA 311, Seite 99   (Ausgabe 1963, 148 Seiten)
[3]  GA 303, Seite 243   (Ausgabe 1978, 368 Seiten)
[4]  GA 307, Seite 197   (Ausgabe 1973, 284 Seiten)
[5]  GA 199, Seite 289   (Ausgabe 1985, 318 Seiten)
[6]  GA 206, Seite 99f   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[7]  GA 206, Seite 101ff   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[8]  GA 353, Seite 176   (Ausgabe 1968, 308 Seiten)
[9]  GA 302a, Seite 28f   (Ausgabe 1983, 160 Seiten)
[10]  GA 210, Seite 64   (Ausgabe 1967, 245 Seiten)
[11]  GA 210, Seite 14   (Ausgabe 1967, 245 Seiten)
[12]  GA 192, Seite 193f   (Ausgabe 1964, 403 Seiten)
[13]  GA 317, Seite 18   (Ausgabe 1979, 200 Seiten)
[14]  GA 309, Seite 67   (Ausgabe 1981, 112 Seiten)
[15]  GA 303, Seite 238f   (Ausgabe 1978, 368 Seiten)

Quellen:

GA 192:  Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen (1919)
GA 199:  Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung (1920)
GA 206:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Zweiter Teil:. Der Mensch als geistiges Wesen im historischen Werdegang (1921)
GA 210:  Alte und neue Einweihungsmethoden. Drama und Dichtung im Bewußtseins-Umschwung der Neuzeit (1922)
GA 302a:  Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis (1920-1923)
GA 303:  Die gesunde Entwickelung des Menschenwesens. Eine Einführung in die anthroposophische Pädagogik und Didaktik (1921/1922)
GA 304:  Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage (1921/1922)
GA 307:  Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung (1923)
GA 309:  Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen (1924)
GA 311:  Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit (1924)
GA 317:  Heilpädagogischer Kurs (1924)
GA 353:  Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker (1924)