Gilgamesch und Eabani

Es war einmal ein großer König, namens Gilgamesch. Aber schon aus dem Namen erkennt derjenige, der solche Namen zu beurteilen vermag, daß wir es nicht bloß mit einem physischen König zu tun haben, sondern mit einer dahinterstehenden Gottheit, mit einer dahinterstehenden geistigen Individualität, von der der König von Erek besessen war, die durch ihn wirkte. Er bedrückt die Stadt Erek, so wird uns erzählt. Die Stadt Erek wendet sich an ihre Gottheit Aruru, und diese Gottheit läßt einen Helfer erstehen: aus der Erde heraus wächst dieser Held. Eabani, eine Art von menschlicher Wesenheit, welche im Verhältnis zu Gilgamesch ausschaut wie eine niedere Wesenheit, denn es wird erzählt, daß er Tierfelle hatte, daß er mit Haaren bedeckt war, daß er wie ein Wilder war; aber in seiner Wildheit lebte Gottbeseeltheit, altes Hellsehen, Hellwissen. Eabani lernt eine Frau aus Erek kennen, und er wird dadurch in die Stadt gezogen. Er wird der Freund des Gilgamesch und dadurch zieht Friede in die Stadt ein. Äußerlich ist uns dieser Eabani so dargestellt, daß er in Tierfelle gekleidet ist. Es wird uns damit seine Wildheit angedeutet; aber eben durch diese Wildheit ist er noch mit alter Hellsichtigkeit begabt einerseits, und auf der anderen Seite ist er eine junge Seele, die viel weniger Inkarnationendurchlebt hat, als andere auf der Höhe der Entwickelung stehende Seelen. So stellt uns Gilgamesch dar eine Wesenheit, die zur Initiation reif war, die nur diese nicht mehr erreichen konnte, denn der Gang nach Westen (siehe unten) ist der Gang zu einer Initiation, die nicht zu Ende geführt worden ist. Wir sehen auf der einen Seite den eigentlichen Inaugurator der chaldäisch-babylonischen Kultur in Gilgamesch und hinter ihm wirksam eine göttlich-geistige Wesenheit, eine Art Feuergeist, und dann neben ihm eine junge Seele, den Eabani; eine Individualität, die spät erst zur Erdeninkarnation heruntergekommen ist. Von dem Austausch dessen, was diese beiden wissen, hängt die babylonisch-chaldäische Kultur ab, und wir werden sehen, daß die ganze babylonisch-chaldäische Kultur ein Ergebnis dessen ist, was von Gilgamesch und Eabani herrührt. Dieser Prozeß von zweien, die nebeneinander wirken, von denen der eine dem andern notwendig ist, das spiegelt sich nun ab im späteren vierten Kulturzeitraum, im griechisch-lateinischen, und zwar auf dem physischen Plan. [1]

Wie das Schattenbild des Gilgamesch steht Alexander der Große im vierten, im griechisch-lateinischen Zeitraum, wie die Projektion eines Geistigen auf den physischen Plan. Und der Eabani, der ist, projiziert auf den physischen Plan, Aristoteles, der Lehrer Alexanders des Großen. [2]

Bei Gilgamesch war die Sache so, daß von vornherein diejenige Wesenheit, die sich durch ihn offenbaren sollte und die sich nur offenbaren konnte durch ihn, indem sie ihn nach und nach zu einer Art Initiation führte, daß diese Wesenheit sozusagen immer ihre Hand über ihn hielt. Es wurde ihm ein Freund an die Seite gegeben, dessen Barbarei, dessen Unzivilisiertheit uns dadurch angedeutet wird, daß er halb tierisch an äußerer Gestalt ist. Es wird gesagt, daß dieser Freund Tierfelle am Leibe trug, das heißt, daß er sozusagen noch wie die Menschen des Urzustandes behaart war, daß seine Seele so jung war, daß sie einen Leib sich aufbaute, der den Menschen noch in verwilderter Gestalt zeigt. So hatte Gilgamesch, der fortgeschrittenere, in Eabani einen Menschen neben sich, der durch seine junge Seele und seine dadurch bedingte Leibesorganisation noch ein altes Hellsehen hatte. Um sich selber zu orientieren, war ihm dieser Freund beigegeben worden. Mit Hilfe dieses Freundes gelang es ihm dann, gewisse Dinge auszuführen, wie – sagen wir – die Zurückführung jener geistigen Macht, die uns im Mythos unter dem Bilde der Stadtgöttin von Erek, Ischtar, dargestellt wird. Die Stadtgöttin war gestohlen worden von der Nachbarstadt und die beiden, Gilgamesch und Eabani begannen Krieg gegen die Nachbarstadt. Sie besiegten den König und die Stadtgöttin wurde wieder zurückgeführt. [3]

So etwas war in älteren Zeiten noch in den alten Stadtgemeinden, selbst in Griechenland, vorhanden. Ein gemeinschaftlicher Geist, eine Volks-Ichheit, eine Stammes-Ichheit, lebte und webte durch die einzelnen Volkspersönlichkeiten hindurch. Und man spricht nicht bloß figürlich, sondern in einer gewissen Weise real und richtig, wenn man sagt, eine solche Tempelstätte war wirklich wie eine Wohnung für das Stadt-Ich, für die Gruppenseele. Nun war die Verwaltung solcher Tempelstätten mit gewissen Geheimnissen verbunden, und viele Kämpfe in den alten Zeiten spielten sich so ab, daß die Tempelpriester einer Stadt von der Nachbarstadt als Gefangene hinweggeschleppt wurden, daß also sozusagen mit den Tempelpriestern die wichtigsten Geheimnisse einer Stadt weggeschleppt wurden. Da haben Sie die reale Tatsache, welche dem Bilde entspricht, daß die Stadtgöttin Ischtar, die Volksseele von Erek, geraubt wird durch die Nachbarstadt. [4]

Und solche Dinge konnte Gilgamesch in der Seelenverfassung, in der er sich zunächst befand, nicht selber wahrnehmen; aber eine jüngere Seele konnte ihm sozusagen wie der hellseherische Sinn dienen, der ihm half, den Tempelschatz für seine Vaterstadt zurückzuerobern. So lernte Gilgamesch wirklich von Eabani das Zurückschauen in frühere Inkarnationen. Das war etwas, was schon außerhalb der normalen Fähigkeiten des Gilgamesch lag. [5]

Gerade dadurch aber, daß er nicht in der Zeit, in der er wirkte, sozusagen seine eigenen persönlichen Impulse auslebte, das, was seine Kraft war, der Welt mitteilte, war er ganz besonders dazu imstande, durch sich durchwirken zu lassen eine der geistigen Wesenheiten, die wir zur Klasse der Feuergeister, also der Archangeloi rechnen. Solch eine Wesenheit wirkte durch Gilgamesch, und die Ordnung der babylonischen Verhältnisse, die treibenden Kräfte derselben, für die Gilgamesch das Werkzeug war, haben wir bei einem solchen Feuergeist zu suchen. So haben wir uns diesen Gilgamesch so recht vorzustellen unter einem Bilde, das uns geben konnte das Symbolum des alten Kentauren. Solche alte Symbole, sie entsprechen mehr der Wirklichkeit als man gewöhnlich denkt. Ein Kentaur, halb Tier, halb Mensch, sollte immer darstellen, wie in den mächtigeren Menschen der alten Zeiten wirklich in gewisser Weise auseinanderfiel das höchste spirituelle Menschentum und dasjenige, was die einzelnen Persönlichkeiten mit der tierischen Organisation verband. Wie ein Kentaur, so wirkte dieser Gilgamesch auf diejenigen, die ihn beurteilen konnten, und so wirkt er heute noch auf diejenigen, die ihn beurteilen können. [6]

Aber so klar es für diese Persönlichkeit in der damaligen Zeit war, daß sie gewissermaßen die Doppelheit ist zwischen dem Geistig-Seelischen, in das die Götter hereinragen, und dem Physisch-Ätherischen, in das die Erden- und Kosmossubstanzen, die physischen und die ätherischen Substanzen hineinragen, so sehr ist auch dieses eine Tatsache, daß in der Zeit, in der diese Persönlichkeit, von der das Gilgamesch-Epos spricht, lebte, gerade die charakteristischen Menschen, die repräsentativen Menschen bereits in einer Übergangsepoche zur späteren Menschheitsentwickelung standen. Und dieser Übergang bestand darinnen, daß das Ich-Bewußtsein, das verhältnismäßig kurz vorher beim Geistig-Seelischen oben war, wenn ich mich so ausdrücken darf, hinuntergesenkt sich hatte in das Leiblich-Ätherische, so daß also Gilgamesch gerade unter denen war, die anfingen, nicht zu seinem Geistig-Seelischen, in dem die Götter gefühlt wurden, Ich zu sagen, sondern zu dem, was irdisch-ätherisch an ihm war. Das war diese neue Seelenverfassung. In dieser Persönlichkeit waren zugleich noch jene alten Gewohnheiten, vorzugsweise dasjenige nur gedächtnismäßig zu erleben, was im Rhythmus erlebt wurde, und es war jene innere Empfindung da, welche fühlte, man muß mit den Kräften des Todes bekannt werden, weil eigentlich nur die Kräfte des Todes dasjenige ergeben, was den Menschen zur Besonnenheit bringt. Die Berechtigung sozusagen der Eroberergewohnheiten und des rhythmischen Gedächtnisses fingen an, nicht mehr für die Erde zu gelten. [7]

Eabani kam in innige Freundschaft mit Gilgamesch, und zusammen konnten sie wirklich haltbare soziale Zustände in der Stadt Erek in Vorderasien herstellen. Das war namentlich dadurch möglich, daß Eabani verhältnismäßig viel geblieben war von jenem Wissen, das durch die wenigen Erdeninkarnationen noch bewahrt geblieben war aus dem kosmischen Aufenthalte außerhalb der Erde. Es war in jener Stadt ein Mysterium einer Göttin, und dieses Mysterium bewahrte außerordentlich viele Geheimnisse der Welt. Aber es war im Sinne der damaligen Zeit eine Art, ich möchte sagen, synthetischen Mysteriums, das heißt, da waren gesammelt in diesem Mysterium die verschiedensten Mysterienoffenbarungen Asiens. Und zu den verschiedenen Zeiten wurden die Mysteriengehalte in einer variierten, metamorphosierten Weise dort gepflegt und gelehrt. Das verstand zunächst Gilgamesch nicht, klagte an diese Mysterienstätte, daß sie Widerspruchsvolles lehre.

Und so wandte sich dann die Priesterschaft der Ischtarmysterien an diejenigen geistigen Mächte, an die sie sich sonst immer gewendet hatten, wenn sie Erleuchtungen wollte, und da kam denn das zustande, daß diese geistigen Mächte eine gewisse Strafe über die Stadt verhängten. Man drückte das dazumal so aus, daß man sagte: Etwas, was eigentlich eine höhere geistige Kraft ist, wirkt in Erek als tierische Gewalt, als gespensterhafte tierische Gewalt. – Es kam allerlei über die Bewohner, physische Krankheiten, aber namentlich seelische Zerrüttungen. Und die Folge davon war, daß Eabani infolge dieser Schwierigkeiten starb, aber eigentlich zur Fortsetzung der Mission der anderen Persönlichkeit auf Erden auch nach dem Tode geistig bei dieser Persönlichkeit verblieb. Eingebungen, Erleuchtungen des Gilgamesch fanden von seiten des Eabani in der Folgezeit statt, so daß Gilgamesch allein fortdauernd handelte nicht nur aus seinem eigenen Willen heraus, sondern aus dem Zusammenflusse des Willens der beiden. Und aus dem, was sich auf diese Weise aus dem Zusammenflusse der zwei Willen ergab, stieg in Gilgamesch vor allen Dingen eine ziemlich klare Erkenntnis davon auf, in welcher historischer Lage er sich eigentlich befindet. Er fing an, gerade durch den Einfluß des ihn inspirierenden Geistes zu wissen, daß das Ich sich heruntergesenkt hat in den sterblichen physischen und in den Ätherleib, und es fing für Gilgamesch an, das Problem der Unsterblichkeit eine intensiv starke Rolle zu spielen. Alle seine Sehnsucht ging darauf hin, irgendwie hinter dieses Problem der Unsterblichkeit zu kommen. Die Mysterien, die dasjenige bewahrten, was über Unsterblichkeit auf Erden in der damaligen Zeit zu sagen war, die öffneten sich zunächst Gilgamesch nicht. Diese Mysterien hatten ja noch die Tradition, während auf der Erde die Urweisheit in der atlantischen Zeit waltete. [8]

Aber durch den übersinnlichen Einfluß des Freundes kam der innere Drang des Gilgamesch, Wege in der Welt aufzusuchen, durch die er imstande sein könne etwas über die Unsterblichkeit der Seele zu erfahren. [9] Und so trat er denn diese Wanderung an. Gilgamesch traf in einem Gebiet des sogenannten Burgenlandes ein altes Mysterium. [10] Im Burgenland, der buckligen Welt fand Gilgamesch den Xisuthros. [11] Der Oberpriester dieses Mysteriums wird im Gilgamesch-Epos Xisuthros genannt. Er traf ein altes Mysterium, das eine echte Mysterien-Nachform der alten atlantischen Mysterien war, natürlich in einer Metamorphose, wie das in einer so späten Zeit der Fall sein konnte. In dieser Mysterienstätte wußte man die Erkenntnisfähigkeit des Gilgamesch zu beurteilen, zu würdigen. Man wollte ihm entgegenkommen. Es wurde ihm eine Prüfung auferlegt, die dazumal vielen Schülern der Mysterien auferlegt worden ist. Die Prüfung bestand darin, gewisse Exerzitien zu machen bei vollem Wachsein durch sieben Tage und sieben Nächte. Das ging für ihn nicht. Und so unterwarf er sich denn nur dem Surrogat einer solchen Prüfung. Es wurden ihm gewisse Substanzen zubereitet, die er in sich aufnahm, und durch die er in der Tat eine gewisse Erleuchtung bekam, wenn auch, wie es auf diesem Felde immer der Fall ist, wenn nicht gewisse Ausnahmebedingungen garantiert sind, diese in gewissem Sinne zweifelhaft waren. Aber eine gewisse Erleuchtung war nun bei Gilgamesch vorhanden, eine gewisse Einsicht in die Weltenzusammenhänge, in das geistige Gefüge der Welt. So daß, als Gilgamesch diese Wanderung vollendet hatte und wiederum zurückkehrte, in ihm in der Tat eine hohe geistige Einsicht vorhanden war. [12] (Siehe auch: karmische Reihen: Alexander).

Zitate:

[1]  GA 126, Seite 16uf   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[2]  GA 126, Seite 21   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[3]  GA 126, Seite 40   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[4]  GA 126, Seite 41f   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[5]  GA 126, Seite 42   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[6]  GA 126, Seite 46   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[7]  GA 233, Seite 46f   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)
[8]  GA 233, Seite 48ff   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)
[9]  GA 233, Seite 51   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)
[10]  GA 233, Seite 52   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)
[11]  Stra, Seite 137   (Ausgabe 1947, 0 Seiten)
[12]  GA 233, Seite 52f   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)

Quellen:

GA 126:  Okkulte Geschichte. Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge von Persönlichkeiten und Ereignissen der Weltgeschichte (1910/1911)
GA 233:  Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung und als Grundlage der Erkenntnis des Menschengeistes (1923/1924)
Stra:  Alexander Strakosch: Lebenswege mit Rudolf Steiner (1947)