Gruppenseele

Wenn wir weit zurückgehen in die atlantische Zeit, so sehen wir die Menschen nicht als Einzelwesen, sondern im Bewußtsein miteinander verbunden zu Gruppenseelen. Aber selbst noch in historischen Zeiten finden wir in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten das Gruppenseelenwesen; damals fühlte sich der Mensch in Mitteleuropa als Glied eines Organismus, als Glied eines Stammes. Tacitus erzählt uns davon, wie die einzelnen Cherusker sich nicht als Individualität, sondern als Glieder des Stammes-Ichs empfanden. [1] In älteren Zeiten war es eben so, daß Menschengruppen durch die Blutsbande als Stämme oder später als größere Blutsgemeinschaft, Verwandtengemeinschaft zusammengebunden waren. Aber was da zusammengebunden war, das war nicht so, daß man es einfach hätte zählen können: eins, zwei, drei und so weiter als soundsoviele einzelne Menschen, sondern es war eine Gemeinschaft. Niemals wurde im Mysterienwesen eine solche Gemeinschaft als eine bloße Summe von Menschen aufgefaßt, sondern sie wurde so aufgefaßt, daß ein realer Gemeinschaftsgeist da ist, als nicht inkarniert auf der Erde, der aber immer gegenwärtig ist, wenn es sich darum handelt, daß etwas aus der Gemeinschaft heraus geschehen soll. Über diese Art, mit dem Geistigen in Zusammenhang zu sein, ist ja die Menschheit hinausgewachsen. Aber es liegt im Sinne dessen, was vom Mysterium von Golgatha ausströmt, auf einer höheren Stufe die Menschheit wieder zurückzuführen zu Vereinigungen, die realen Gemeinschaftsgeist haben, so daß sie etwas entwickelt, wodurch eine Wesenheit aus höheren Welten, im Sinne des Christentums ein Diener des Christus selbst, herabsteigt. «Diener des Christus» heißt in diesem Falle: ein Teil des Christus, so daß die Gemeinde nicht allein ist, sondern ein Teil des Christus da ist. In den Zeiten, als das Blut das Gemeinsamkeitsband gegeben hat, war das Hinneigen zu dem Geistigen ein instinktives und bedingt durch physische Grundlage. Im Sinne des Christentums muß das alles zu einem geistigen Niveau heraufgehoben werden. Die Menschen müssen fühlen: wenn sie sich mit freiem Willen versammeln in der Ecclesia, so bedeutet dies, daß sie in gewissem Sinne nur Glieder sind eines gemeinsamen feineren Leibes, der aber auch wirklich beseelt und durchgeistigt ist, und derjenige, der der Priester ist, fühlt sich dann als Träger dieses Gemeinschaftsgeistes. Deshalb ist es notwendig, daß bei der Wirksamkeit des Priesters auch äußerlich hervortrete die Abstreifung des Persönlichen. Der Priester hört bei den wichtigsten gottesdienstlichen Handlungen eigentlich auf, in seiner Persönlichkeit eine Bedeutung zu haben. Er ist da wirklich ein Diener des Wortes. Und das Bekleiden mit den Kultusgewändern hat eben den Sinn des Aufgebens der Persönlichkeit und des Erscheinens als ein Repräsentant einer höheren Ordnung, als es die Menschenordnung auf Erden ist. [2]

Zitate:

[1]  GA 104a, Seite 76   (Ausgabe 1991, 144 Seiten)
[2]  GA 344, Seite 77f   (Ausgabe 1994, 285 Seiten)

Quellen:

GA 104a:  Aus der Bilderschrift der Apokalypse des Johannes (1907/1909)
GA 344:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, III. Vorträge bei der Begründung der Christengemeinschaft (1922)