Urweisheit

Diese Urweisheit waren natürlich nicht etwa in der Luft herumfliegende Begriffe, sondern diese kam von Wesenheiten, die zwar nicht in dem Sinne des Menschen einen physischen Leib annahmen, die aber wegen der damals entwickelten instinktiv hellseherischen Kräfte der Menschen doch in den Menschen lebten; sie kam von denjenigen Wesenheiten, die dann, nachdem der Mond als äußerer Weltenkörper sich von der Erde getrennt hatte, ihr Dasein auf dem Monde fortsetzten. So daß man sprechen muß davon, daß innerhalb der Mondenwesenheit – nicht in dem Lichte, das der Mond als reflektiertes Sonnenlicht zurückstrahlt, und auch nicht in dem, was der Mond sonst vom Weltenall zurückstrahlt, aber daß im Innern dieses Mondenwesens Wesenheiten leben, welche dieselben sind, die einmal unter Erdenmenschen die Begründer der Urweisheit waren. [1]

Was historisch überliefert ist, was erkannt werden kann aus den historischen Urkunden, das gibt kein Bild von dem, was einstmals als eine Urweisheit der Menschen vorhanden war in diesem Asien. Was als chaldäische Sternenkunde, was als indische Brahmanenweisheit, was als ägyptische Weisheit heute ausgekramt wird durch diese oder jene Dokumente, durch diese oder jene Denkmäler, das ist alles (nun) schon ein Spätprodukt. Alle diese Dinge führen zurück auf eine wunderbare, großartige, gewaltige Einsicht in die geistige Welt, führen zurück auf einen großartigen, gewaltigen wissenschaftlichen Zusammenhang, den die Menschen durchschaut haben, zwischen der Erde und dem ganzen Kosmos, der ganzen Sternenwelt. [2]

Glauben Sie nicht, wenn Sie in orientalischen Schriftwerken lesen von Maya und der ihr gegenüberstehenden Wahrheit, daß Sie das, was Sie heute dort lesen, als etwas aufnehmen können, was wirklich von Ihnen verstanden werden kann. Das ist ja nur wie die Zusammenfassung von Dingen, die im Konkreten in der Urweisheit gewußt und dann zusammengefaßt worden sind. [3] Es zeigt sich, daß im Urzustand der Menschheit hohe theoretische Anschauungen vorhanden waren über die geistige Welt, nur daß diese bildlich gegeben waren. Was wir in den Sagen und Legenden haben, das können wir, wenn wir richtig in sie eindringen, nur begreifen, wenn wir es auf eine Urweisheit der Menschheit zurückführen, die auf ganz andere Art zur Menschheit geflossen ist als die intellektualistische Wissenschaft der heutigen Zeit. [4] Mit dieser alten Urweisheit war verbunden die moralische Kraft, moralische Weisheit des Menschen. Die war als ein integrierender Bestandteil darin. [5] Diese Weisheit war nicht eine durch die Menschheit erworbene, sondern sie war eine der Menschheit durch Offenbarung, durch ein Art Inspiration zugekommene. Das ist dasjenige, was die moderne Zivilisation nicht zugeben will. Nicht zugeben will sie, daß auf eine geistige Art dem Menschen eine Urweisheit gegeben ward, wobei er sich eigentlich so entwickelte, daß noch in Griechenland darauf gesehen wurde, das Kind im Menschen bis zum Erdentode zu erhalten. [6] So aber in Gewohnheiten ausbilden wollte das griechische Leben im Grunde genommen das ganze menschliche Erdendasein. Was der Mensch tun sollte bis zu seinem Tode hin von seiner Erziehung an, das sollte eigentlich gewohnheitsmäßig getan werden, so gewohnheitsmäßig, daß man es eigentlich gar nicht unterlassen kann. Dann, wenn man die Erziehung so anlegt, auf so etwas hinorientiert, dann kann man das, was dem Menschen bis zum Zahnwechsel, bis zum siebenten Jahre natürlich ist, forterhalten; dann kann man die kindlichen Kräfte forterhalten, bis der Mensch das Erdendasein durch den Tod vollendet. [7]

Jene alte Weisheit war aber durchaus ohne eine vom Menschen zustande gebrachte Intelligenz, so daß man gar nicht sagen kann, diese alte Weisheit war eine eigentliche menschliche Erkenntnis. Der Mensch nahm gewissermaßen nur teil an einer Erkenntnis, die eigentlich andere Wesen in ihm hatten. Und dies waren Wesen, die zur Hierarchie der Angeloi gehörten. Ein solcher Angelos durchseelte den Menschen und der war es eigentlich, der diese alte Erkenntnis hatte. Der Mensch nahm nur daran teil. Er sah gewissermaßen in das Innere dieses Angelos hinein. Daher nahm er teil an dem, was der Angelos erkannte. Daher hatte auch der Besitzer jener alten Weisheit eine sehr unbestimmte Anschauung von dem, wie er zu seinen Erkenntnissen kam. Er sagte sich einfach: Das ist Eingebung, das ist da – weil er selber diese Erkenntnis nicht zustande brachte, weil das Engelwesen in ihm diese Erkenntnis zustande brachte. Dieses Angeloiwesen hatte einen luziferischen Charakter. Es war gewissermaßen mit seinem ganzen Wesen, mit seiner ganzen Gesinnung zurückgeblieben auf einer früheren Stufe der Entwickelung, auf der Stufe der Mondenentwickelung. So daß man sagen kann: Wesenheiten, die während der Mondenentwickelung eigentlich ihre normale Menschheitsstufe hätten durchmachen sollen, luziferische Wesenheiten beseelten oder durchseelten den Menschen für die ältere Weisheit, und der Mensch nahm an dem, was dieses Engelwesen in ihm erlebte teil. Es war das, was da der Mensch als eine solche Weisheit bekam, eine außerordentlich hohe Erkenntnis. Es war diejenige Erkenntnis, die eben als eine sehr vollendete während der Mondenentwickelung dem Angeloiwesen zuteil geworden war, aber es war eben keine Erkenntnis, die eigentlich für den Menschen so geeignet war, daß er auf der Erde etwas damit anzufangen wußte. Auf der Erde benahm sich der Mensch mehr oder weniger instinktiv, ich möchte sagen, wie ein höheres Tier benahm er sich. Und dann leuchtete aber in dieses gleichsam noch höhere Tierwesen diese hohe Weisheit herein. Diese Weisheit dämmerte ab, als das 8. vorchristliche Jahrhundert heraufzog. Diese Weisheit, die ja in dem angedeuteten Sinne durchaus einen luziferischen Charakter hatte, erstreckte sich eigentlich nur auf alles das, was den Menschen als einen Angehörigen außerirdischer Welten erkennen ließ. Der Mensch hatte sozusagen mit seiner Erkenntnis die Erde noch gar nicht in Wirklichkeit betreten. Er fühlte sich noch innerhalb höherer Sphären mit seiner Weisheit, und auf der Erde hantierte er instinktiv. [8]

Zu je tierischeren Formen wir in der alten Zeit zurückkommen, um so mehr sind diese tierischen Formen durchseelt von uralter Weisheit. [9] Dieses uralte Wissen, es war ein sehr konkretes Wissen, welches intensiv verbunden war mit der geistigen Wirklichkeit der Dinge. Der Mensch bekam etwas herein in seine Seele, indem er wußte von der Wirklichkeit der Dinge. Aber das besonders Eigentümliche war bei dieser alten heidnischen Weisheit, daß die Menschen, die sie empfingen – Sie wissen, die Menschen empfingen sie aus den Mysterien von den Initiierten –, sie so empfingen, daß in dieser Weisheit zu gleicher Zeit enthalten war Naturerkenntnis und Moralerkenntnis. Das historische Wissen reicht nicht so weit zurück, daß man mit ihm die Zeiten erfassen könnte, in denen die Menschen, indem sie zu den Sternen hinaufgeschaut haben, aus den Sternen empfingen diejenige Weisheit, die ihnen in ihrer Art auf der einen Seite erklärte den Sternenlauf, auf der anderen Seite aber auch sagte, wie sich die Menschen verhalten sollen in ihrem Handeln hier auf Erden. Etwas bildlich, aber im Grunde nicht ganz bildlich, sondern bis zu einem gewissen Grade doch gegenständlich gesprochen, könnte man sagen, daß noch die alte ägyptische, die chaldäische Kultur so waren, daß die Menschen Naturgesetze lasen im Sternenlaufe, aber auch lasen aus dem Sternenlauf die Vorschriften für dasjenige, was sie auf der Erde tun sollten. Die Kodizes der alten ägyptischen Pharaonen zum Beispiel enthalten Vorschriften über dasjenige, was Gesetz werden sollte. Es war so, daß über weite Jahrhunderte hin prophetisch vorausgesagt war, was in späterer Zeit Gesetz werden sollte. Aber das alles, was da in diesen Kodizes stand, war abgelesen von den Sternenläufen. Also es gab in jenen alten Zeiten nicht eine Astronomie, wie wir sie jetzt haben, die nur mathematische Gesetze der Sternenbewegung oder der Erdenbewegung enthält, sondern es gab eine Wissenschaft vom Kosmos, die zu gleicher Zeit Moralwissenschaft, Ethik war. Das Bedenkliche der ja nunmehr bis zum Dilettantismus hinreichenden neueren Astrologie besteht darin, daß man in ihr nicht mehr fühlt, daß das, was in ihr gegeben ist, nur dann ein Ganzes ist, wenn mit den Gesetzen, die man in ihr verzeichnet, zugleich Moralgesetze für die Menschen gegeben sind. Nun war es im Menschheitsverlaufe so, daß jene Urwissenschaft der Menschen, jene Urweisheit der Menschen im wesentlichen verlorenging. Und es liegt ja das der Tatsache zugrunde, daß gewisse Geheimschulen immer wieder und wiederum auf die verlorene Wissenschaft, das «verlorene Wort» zurückwiesen. Gewöhnlich wußten die Späteren gar nicht mehr, was sie unter dem Wort «Wort» dabei verstehen sollten. Aber es liegt dem eine gewisse Tatsache zugrunde. Und bei Saint-Martin kann man noch die Nachklänge davon lesen, wie man bis ins 18. Jahrhundert sehr genau gefühlt hat, daß in alten Zeiten die Menschen ein ihnen mit dem Naturwissen zugleich zukommendes Geisteswissen besessen haben, das auch ihre Moralwissenschaft enthielt und das verlorengegangen ist. Man kann sogar sagen: Die ältere griechische Geschichte ist im wesentlichen das allmähliche Verlieren der Urweisheit. Was Heraklit sagt, was Thales, Anaxagoras, Anaximenes sagen, das ist ja so, möchte man sagen, wie wenn die Menschheit vergessen hätte ihre Urweisheit und sich an einzelne fragmentarische Sätze da oder dort erinnert. Und dann finden wir bei Plato noch eine Art deutlichen Bewußtseins von dieser Urweisheit, bei Aristoteles schon alles umgesetzt in äußere menschliche Weisheit. Bei den Stoikern und Epikureern verschwindet dann die Sache immer mehr und mehr. Es bleibt das alte Urwissen nur wie eine Sage zurück. [10]

Die Menschen hätten niemals zur Entwickelung der Freiheit kommen können, wenn die Urweisheit, die ihnen ja auf dem Wege eines atavistischen Hellsehens zugekommen ist, in ihrer ursprünglichen Intensität und Bedeutung für den Menschen geblieben wäre. Aber mit dieser Urweisheit war doch verbunden alles, was an moralischen Impulsen, ich möchte sagen, von Götterhöhen herunter, den Menschen hat zukommen können. Das mußte gerettet werden. Es mußte den Menschen der moralische Impuls gerettet werden. Durch jenes göttliche Prinzip, das durch den Menschen Jesus von Nazareth auf die Erde heruntergestiegen ist, getragen war die moralische Kraft, die allmählich natürlich auch zerstoben, zerklüftet war mit dem Herabdämmern und allmählichen Ersterben der alten Urweisheit. Dieser moralische Impuls mußte gewissermaßen in Schutz und Schirm genommen werden von dem Mysterium von Golgatha, und seine weitere Fortpflanzung für die abendländische Zivilisation war dasjenige, was aus dem Mysterium von Golgatha entsprungen ist als Christus-Impuls, in den hineingetragen wurde dasjenige, was als moralischer Extrakt gewissermaßen von der alten Urweisheit geblieben ist. [11]

Das Ereignis von Golgatha ist hingestellt an das Ende jener Entwickelung, in der die Menschen, indem sie die Sinneswelt anschauten, auch eine Anschauung des Geistigen hatten. So wenig das dem heutigen Menschen liegt, so wenig das dem heutigen Menschen plausibel erscheint, es ist so, daß in der vorchristlichen Zeit die Menschen in der Regel mit dem Sinnlichen zugleich ein Geistiges sahen. Sie sahen nicht bloß Bäume, nicht bloß Pflanzen, sie sahen mit den Bäumen ein Geistiges, mit den Pflanzen ein Geistiges. [12] Dieses Sehen des Göttlich-Geistigen in den Sinnendingen, das war in jenen alten Zeiten abhängig vom Blute. [13] Ein neues Element sollte in die Menschheitsentwickelung eingreifen. Wenn der Mensch in seiner Umgebung das Geistige in den physisch-sinnlichen Dingen schaut, so kann sein Bewußtsein nicht ein solches werden, daß in ihm der Freiheitsimpuls entsteht. Mit der Entstehung dieses Freiheitsimpulses muß verbunden sein gewissermaßen ein Verlassensein des Menschen vom Göttlich-Geistigen, wenn er bloß in die äußere Welt hinaussieht. Es muß verbunden sein mit diesem Freiheitsimpuls die Notwendigkeit, aus der tiefsten Kraft der Seele heraufzuholen die Anschauung des Geistigen. [14]

(Aber) versiegt ist sie niemals, die Urweltweisheit der heiligen Rishis zum Beispiel. Diese uralt-heilige Weisheit, die damals der Menschheit erflossen ist, sie wurde fortgesetzt von Zarathustra und seinen Schülern, von den chaldäischen, ägyptischen Lehrern, sie floß aber auch ein in die Verkündigung des Moses, und sie trat sozusagen eben gerade wie aus einem Jungbrunnen neu hervor mit völlig neuem Impuls durch die Erscheinung des Christus auf der Erde. Aber sie wurde damit zunächst auch so tief, sie wurde so innerlich, daß sie wiederum nur allmählich in die Menschheit einfließen kann. [15]

Zitate:

[1]  GA 228, Seite 78   (Ausgabe 1964, 155 Seiten)
[2]  GA 196, Seite 182   (Ausgabe 1966, 305 Seiten)
[3]  GA 191, Seite 239   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[4]  GA 60, Seite 381   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[5]  GA 191, Seite 129   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[6]  GA 307, Seite 54   (Ausgabe 1973, 284 Seiten)
[7]  GA 307, Seite 56   (Ausgabe 1973, 284 Seiten)
[8]  GA 208, Seite 49f   (Ausgabe 1981, 220 Seiten)
[9]  GA 208, Seite 55   (Ausgabe 1981, 220 Seiten)
[10]  GA 191, Seite 126ff   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[11]  GA 191, Seite 129f   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[12]  GA 198, Seite 61   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[13]  GA 198, Seite 74   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[14]  GA 198, Seite 61f   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[15]  GA 110, Seite 16   (Ausgabe 1981, 198 Seiten)

Quellen:

GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 110:  Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten, Kosmos (1909)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 196:  Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung (1920)
GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)
GA 208:  Anthroposophie als Kosmosophie – Zweiter Teil:. Die Gestaltung des Menschen als Ergebnis kosmischer Wirkungen (1921)
GA 228:  Initiationswissenschaft und Sternenerkenntnis. Der Mensch in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vom Gesichtspunkt der Bewußtseinsentwickelung (1923)
GA 307:  Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung (1923)