Evangelien

Was ist das «Evangelium»? Es ist das, was herunterkommt aus den Reichen, die wir öfter in den Hierarchien der höheren Wesenheiten beschrieben haben, wo die Angeloi, die Archangeloi sind, was heruntersteigt durch die Welt, die sich erhebt über der Menschenwelt. Da gewinnt man die Perspektive auf einen tieferen Sinn des Wortes Evangelium. Ein Impuls, der heruntersteigt durch das Reich der Archangeloi, der Angeloi, ist das Evangelium; es ist das diesen Reichen Entsteigende, das in die Menschheit eintritt. Alle abstrakten Übersetzungen treffen im Grunde genommen nur wenig die Sache. In Wahrheit soll schon in dem Worte Evangelium angedeutet werden, daß in einem Zeitpunkt etwas beginnt auf die Erde niederzufließen, was früher nur dort geströmt hat, wo die Angeloi und die Archangeloi sind, was heruntergekommen ist auf die Erde, was hier die Seelen durchrüttelt, und die stärksten Seelen gerade am meisten. Und der Beginn, der also eine Fortsetzung hat, der wird verzeichnet. Das heißt, das Evangelium dauert fort. Es ist der Anfang gemacht in der damaligen Zeit, und im Grunde genommen werden wir sehen, daß die ganze Menschheitsentwickelung seit jener Zeit eine Fortsetzung des Beginns ist des Herunterfließens des Impulses aus dem Reiche der Angeloi, den man Evangelium nennen kann. [1]

Aus den heute bestehenden Übersetzungen der Evangelien kann der Mensch nicht mehr zu dem kommen, auf was die Evangelien eigentlich hinweisen wollen. [2] Die Evangelien sind im Grunde genommen nichts anderes als in gewisser Art umgeschriebene, alte Einweihungsritualien. [3] Also das Mysterium wird hinausgetragen in die Weltgeschichte, hingestellt als historische Tatsache vor aller Welt – so haben wir den Zusammenhang des Mysteriums von Golgatha mit den Mysterien der alten heiligen Tempel aufzufassen. [4] So sind die Evangelien eine Erneuerung der alten Einweihungsschilderungen, der alten Einweihungs-vorschriften, und die Schreiber der Evangelien haben sich gesagt: Weil das, was sich sonst nur in den Tiefen der Mysterien zugetragen hat, sich einmal abgespielt hat auf dem großen Plan der Weltgeschichte, deshalb darf man es mit denselben Worten beschreiben, wie die Einweihungsvorschriften abgefaßt sind. Darum sind aber die Evangelien nie gemeint als äußere Biographien des Christus-Trägers. Das ist eben das Mißverständnis der modernen Evangelienforschung, daß man eine solche äußere Biographie des Jesus von Nazareth darin suchen will. [5]

Wenn der Mensch sich nun hinaufentwickelt in die höheren Welten, dann findet eine Spaltung der drei Kräfte (Denken, Fühlen und Wollen) statt. Wenn die Wesenheiten uns von oben entgegenkommen aus den geistigen Welten und man sieht sie in ihrer eigentlichen Wesenheit, dann treten sie von vornherein scharf abgetrennt auf als denkende Wesen, wollende Wesen und fühlende Wesen. Man hat in alten Geheimschulen nicht alle Kräfte gleichmäßig entwickelt, sondern hat sich, je nach dem Karma des Betreffenden, bei dem einen darauf verlegt, das Denken in die Hellsichtigkeit hinaufzuentwickeln, beim anderen das Fühlen zum Hellfühlen, beim dritten das Wollen zu magischer Kraft. Daher hat man in alten Geheimschulen drei Klassen gehabt. [6] Und eine vierte Klasse oder Kategorie, das waren diejenigen, bei denen in gewisser Weise versucht wurde, von jedem der drei übrigen etwas auszubilden. Daher hat man in alten Geheimschulen drei Klassen gehabt von entwickelten Fähigkeiten, solche Schüler, bei denen entwickelt war besonders die Fähigkeit, durchleuchtet zu sehen weisheitsvoll die geistige Welt. Dann gab es eine andere Klasse von Eingeweihten, damit diesen das Fühlen besonders ausgebildet werden konnte, sah man ab von der Ausbildung des Erkennens und des Wollens. Wenn das Fühlen besonders ausgebildet wird in einem Menschen, dann wird er dadurch zu demjenigen, was heute fast nicht mehr bekannt ist: er wird zum Heiler, zum Arzt. Denn der Arzt hatte in alten Zeiten viel mehr eine von den Gefühlssphären ausgehende geistige Wirkung ausgeübt und die empfängliche Seele geheilt auf dem Wege des entwickelten Fühlens. Diese Eingeweihten hatten das Fühlen ausgebildet bis zur höchsten Opferwilligkeit, bis zur Hingabe aller Kräfte, die sie in sich hatten. [7]

So haben wir von vier Eingeweihten den Christus Jesus geschildert. Derjenige, der den Christus schildert als ein Eingeweihter der Weisheit, das war der Schreiber des Johannes-Evangeliums; derjenige, der ihn schilderte als ein Eingeweihter des Fühlens, das war der Schreiber des Lukas-Evangeliums, derjenige, der ihn schilderte hinsichtlich der magischen Stärke, das war der Schreiber des Markus-Evangeliums; und derjenige, der die harmonische Zusammengestaltung der niederen drei menschlichen Glieder schilderte, das war der Schreiber des Matthäus-Evangeliums. So hat jeder geschildert dasjenige an Christus Jesus, worin gerade er eingeweiht war. [8]

Es ist nun vor allen Dingen die Aufgabe der Theosophie, zu zeigen, wie dieses vor allem von Johannes gebrauchte Wort von dem Fleisch gewordenen Wort wir zu verstehen haben. Denn auch die übrigen Evangelien versteht man in Wahrheit nicht, wenn man nicht von dem Johannes-Evangelium ausgeht. Was die anderen Evangelisten erzählen, es wird licht und hell und klar, wenn man die Worte des Johannes-Evangeliums als eine Interpretation, als eine Erklärung dazunimmt. (Weiteres siehe unter den einzelnen Evangelien). [9]

In den Mysterien bekamen die Leute nicht logische Begriffe im modernen Sinn, sondern sie bekamen Bilder. Alles Wissen, das auf diese Weise errungen wird, wird in Bildern, in Anschauungen errungen. Daher war dasjenige, was «Theologie» bei den Alten war, die Theologie der vorchristlichen Zeit, bildhafte Wissenschaft, Wissenschaft, die in Bildern lebte. Und deshalb darf ich sagen: Diese Theologie war durchaus einer solchen Ausdrucksform ähnlich, wie sie in den Evangelien lebt. [10] Wenn ich selbst an die Evangelien herankomme, es mag noch so oft sein, so habe ich immer eine ganz bestimmte Empfindung, nämlich diese, daß in den Evangelien, wieweit man sie auch verstanden haben mag, was man auch aus ihnen heraus und über sie gedacht und gesagt hat – und man mag eben, ich betone das ausdrücklich, noch so oft an sie herantreten –, immer einem etwas Neues entgegentritt. Über die Evangelien lernt man nie aus. Aber dieses Lernen an den Evangelien ist mit etwas anderem verbunden; es ist damit verbunden, daß man, je weiter man sich mit ihnen beschäftigt, um so mehr Bewunderung empfindet für die Tiefe des Gehaltes, gerade für, ich möchte sagen, das Unermeßliche, in das man untertaucht und das eigentlich die Empfindung hervorruft, daß es kein Ende gibt in dieser Möglichkeit des Untertauchens, daß diese Bewunderung mit jedem Mal der Vertiefung in die Evangelien größer wird. Man hat allerdings mit Bezug auf diesen Weg einige Schwierigkeiten, die darin bestehen, daß man, wenn man einige Schritte hinein in die Evangelien gemacht hat – ich sage ausdrücklich «hinein» –, daß man über die (Text-)Überlieferung stolpert. Für den eigentlichen Geisteswissenschaftler bildet das weniger ein Hindernis, denn ihm stellt sich etwas vor Augen wie die Urevangelien mit ihrem, man möchte fast sagen, wortlosen Text, und das erleichtert dann das Nichtstolpern über die Überlieferung. Die Bewunderung, die scheint mir aber ein unerläßliches Element zu sein, wenn das Evangelienlesen für den einzelnen Menschen die Grundlage abgeben soll für ein religiöses Lehrwirken. [11]

Zitate:

[1]  GA 139, Seite 27   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[2]  GA 131, Seite 107   (Ausgabe 1958, 244 Seiten)
[3]  GA 124, Seite 68   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)
[4]  GA 124, Seite 70   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)
[5]  GA 131, Seite 31   (Ausgabe 1958, 244 Seiten)
[6]  GA 117, Seite 101ff   (Ausgabe 1966, 227 Seiten)
[7]  GA 117, Seite 103f   (Ausgabe 1966, 227 Seiten)
[8]  GA 117, Seite 104f   (Ausgabe 1966, 227 Seiten)
[9]  GA 52, Seite 68   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[10]  GA 343, Seite 26   (Ausgabe 1993, 674 Seiten)
[11]  GA 343, Seite 190f   (Ausgabe 1993, 674 Seiten)

Quellen:

GA 52:  Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung (1903/1904)
GA 117:  Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien (1909)
GA 124:  Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911)
GA 131:  Von Jesus zu Christus (1911)
GA 139:  Das Markus-Evangelium (1912)
GA 343:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, II. Spirituelles Erkennen – Religiöses Empfinden – Kultisches Handeln (1921)