Hellsichtigkeit

Das hellsichtige Bewußtsein, zu dem sich die Menschenseele entwickeln kann, ändert an der Natur und Wesenheit des Menschen nichts, als alles dasjenige, was in dieses Bewußtsein hereintritt, schon vorher in der Menschennatur vorhanden war. Indem man eine Sache erkennt, schafft man sie nicht, sondern man lernt nur wahrnehmen, was als Tatsache schon vorhanden ist. So selbstverständlich dieses ist, so muß es doch hervorgehoben werden, weil man einmal den Gedanken darauf hinlenken soll, daß die Wesenheit des Menschen in den verborgenen Untergründen des Daseins liegt, und daß sie nur heraufgeholt wird aus diesen verborgenen Untergründen des Daseins durch das hellseherische Erkennen. Daraus folgt nämlich, daß die wirkliche, wahre Wesensnatur des Menschen durch nichts anderes an den Tag treten kann als durch das hellsichtige Bewußtsein. [1]

Würden wir von der atlantischen Zeit hinabsteigen in die altindische, in die urpersische, in die ägyptisch-chaldäische Zeit, ja bis in die griechisch-lateinische Zeit noch hinein, so würden wir zahlreiche Menschen finden, viel mehr als die heutige Menschheit sich träumen läßt, die Erbstücke dieses alten Hellsehens hatten, denen der astralische Plan offen war, die hineinsahen in die verborgenen Tiefen des Daseins. Den ätherischen Leib des Menschen zu sehen, war selbst noch in der griechisch-lateinischen Zeit für einen großen Teil der Menschen etwas ganz Gewöhnliches. Namentlich den Kopfteil des Menschen zu sehen, umgeben von jener ätherischen Wolke, die sich freilich nach und nach ganz in dem Innern des Kopfteiles verborgen hat, das war etwas Gewöhnliches; (dies wird symbolisch in dem Helm dargestellt auf dem Kopf der Pallas Athene oder des Perikles beispielsweise). [2]

Die dämmerhafte Hellsichtigkeit vieler Menschen dauerte bis in Zeiten herauf, die keineswegs lange hinter unserer Gegenwart zurückliegen. [3] Obzwar wirkliches atavistisches Hellsehen immer seltener wird, so findet man doch, wenn man hinausgeht in elementare ländliche Zustände, immerhin Menschen, die sich etwas bewahrt haben aus früheren Zeiten, so daß man Anklänge an die Zeiten des früheren Hellsehens findet. [4] Es kann einem vorkommen, daß man über irgend etwas aus der Geisteswissenschaft heraus vorträgt, sagen wir über die vorhergehende Verkörperung der Erde, über die Mondenverkörperung. Man gibt allerlei an. Irgend jemand liest das, oder hört zu, der in ganz atavistischer Weise hellsichtig ist. Das kann eine Persönlichkeit sein, die äußerlich unlogisch ist, die im gewöhnlichen Leben keine fünf Worte in logischer Weise aneinanderreihen kann, (dazu noch) überall tapsig ist. Nun hört solch eine Persönlichkeit das, was man eben über die Konfiguration irgendeiner Mondenzeit sagt, und die betreffende Persönlichkeit, die im äußeren Leben dumm und ungeschickt und so ist, daß sie kaum bis fünf ordentlich zählen kann, die aber atavistisch hellsichtig ist, die kann nun das aufnehmen, was sie da gehört hat, und sie kann es erweitern, kann weiteres ausbilden, und Dinge, die nicht gesagt worden sind, dazu finden. Aber die Dinge, die diese Persönlichkeit dann dazu findet, können von einer außerordentlich scharfsinnigen Logik durchzogen sein, von einer Logik, die bewunderungswürdig ist. Das kann durchaus sein; denn wenn jemand atavistisch hellsehend ist, so fügt seine Bilder – und die Bilder kann er selber finden – in logischer Weise nicht sein Ich zusammen, sondern es fügen sie zusammen allerlei geistige Wesenheiten, die in ihm stecken. Deren Logik lernt man dann kennen, nicht seine Logik lernt man dann kennen. [5]

Hellsichtig sein heißt, sich der Organe seines Ätherleibes bedienen können. Wenn man sich nur der Organe des astralischen Leibes bedienen kann, so kann man zwar innerlich fühlen und empfinden, innerlich erleben die tiefsten Geheimnisse; aber man kann sie nicht «schauen». Erst wenn das, was im astralischen Leibe erlebt wird, sich sozusagen seinen Abdruck verschafft im Ätherleibe, kann Hellsichtigkeit eintreten. Auch das alte dumpfe Hellsehen der Menschheit war dadurch zustande gekommen, daß der noch nicht vollständig in den physischen Leib hineingedrungene Ätherleib Organe hatte, derer sich die alte Menschheit noch bedienen konnte. [6]

Der ganze Unterschied der wirklichen Hellsichtigkeit von dem gewöhnlichen wachen Tagesleben besteht darin, daß das wache Tagesleben, um zum Bewußtsein der seelischen Tätigkeit zu kommen, eines anderen Spiegels bedarf, indem es sich der Leiblichkeit dazu bedient, während die Tätigkeit des Hellsehers, wenn sie als Seelentätigkeit ausstrahlt, so stark ist, daß der ausfallende Strahl in sich selber zurückgezogen wird. So findet gleichsam eine Spiegelung an dem eigenen inneren Erleben, an einem Geistorganismus statt. In diesem Geistorganismus ist im Grunde genommen unsere Seele auch dann, wenn wir keine Geistesforscher sind, in der Nacht. [7]

Welche Fähigkeit erlangt nun der Geistesforscher, indem ihm im Schlafe auch Dinge bewußt werden, wenn er sich auch nicht auf sein Gehirn stützt? Da erlangt er die Fähigkeit, in etwas wahrzunehmen und seine Seelentätigkeit spiegeln zu können, was so für ihn zwischen den Dingen webt und lebt (der Äther), daß es im wachen Tagesbewußtsein ebenso wahrzunehmen ist wie der eigene Ätherleib. Der Ätherleib des Menschen ist aus dem gewoben, wodurch der hellsichtige Mensch wahrnimmt; so daß für den hellsichtigen Menschen die äußere Welt (als Äther) spiegelnd wird, wie für das Seelenleben des normalen Menschen die physische Leiblichkeit spiegelnd wird. Denn in der Tat müssen wir nicht nur den physischen Leib als einen Spiegelungsapparat betrachten, sondern auch den Ätherleib, denn solange die äußere Welt auf uns einen Eindruck macht, ist es in der Tat der physische Leib, der wie ein Spiegelungsapparat wirkt. Wenn wir aber still in uns selber werden und das, was die äußere Welt an Eindrücken auf uns gemacht hat, verarbeiten, dann arbeiten wir in uns selber, unsere Gedanken aber sind trotzdem real. Wir leben unsere Gedanken, und wir fühlen auch, daß wir von etwas Feinerem abhängig sind, als unser physischer Leib ist, nämlich von dem Ätherleib. Dann ist der Ätherleib dasjenige, was im einsamen Sinnen, dem keine äußeren Eindrücke zunächst zugrunde liegen, in uns sich abspiegelt. [8]

Das Leibesleben ist uns immer ein Hemmnis. Aber wir bringen es bis zu einem gewissen Grade dahin, das Leibesleben zu gebrauchen. Man braucht ja überall «Hemmungen». Wenn eine Lokomotive über die Schienen fährt, sind es auch die Hemmungen, die Reibungen, wodurch sie fahren kann. Unsere Leibesvorgänge sind in Wahrheit das, was unserem Seelenleben hemmend entgegentritt, und diese Hemmungsvorgänge sind zu gleichen Zeit die Spiegelungsvorgänge. [9]

Niemand könnte abstrakt denken, wirkliche Gedanken und Ideen haben, wenn er nicht hellsichtig wäre. Diese Gedanken und Ideen entstehen genau durch denselben Prozeß der Seele, durch den die höchsten Kräfte entstehen. Und es ist ungeheuer wichtig, daß man zunächst verstehen lernt, daß der Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz Alltägliches eigentlich ist: man muß nur die übersinnliche Natur der Begriffe und Ideen erfassen. Man muß sich klar sein, daß aus den übersinnlichen Welten die Begriffe und Ideen zu uns kommen, dann erst sieht man recht. Es wurde als ein großes Wort eines großen Aufklärers (Kant) gehalten, das dieser gesagt hat: Mensch, erkühne dich, deiner Vernunft dich zu bedienen. – Heute muß ein größeres Wort in die Seelen klingen, das heißt: Mensch, erkühne dich, deine Begriffe und Ideen als die Anfänge deines Hellsehertums anzusprechen. [10]

Gute Götter haben dafür gesorgt, daß wir nicht bewußt dabei sein können, wenn in der Nacht hineinströmen muß die richtige Kraft in unseren physischen und Ätherleib. Sie haben nämlich für diesen Zustand das Bewußtsein des Menschen abgedämpft während des Schlafes, damit er durch seine Gedanken, die dann wirken würden, nicht verderben kann, was er ganz zweifellos verderben würde. Das ist auch das, was bei dem Aufstiege in die höheren Welten auf dem Erkenntnispfad, wenn wir gründlich zu Werke gehen, uns die meisten Schmerzen macht. Der Mensch muß, wenn er beginnt aus der Welt der Imagination heraus sich das Schlafbewußtsein zu durchleuchten mit Wissen, mit Erfahrungen, mit Erlebnissen, in der Tat sehen, wie er wegkommt, damit er richtig ausschaltet aus seinem Bewußtsein alle Quellen für die Zerstörung seines physischen und seines Ätherleibes. Das ist es, was die Notwendigkeit hervorruft bei diesem Aufsteigen in die höheren Welten, sich nun wirklich ganz genau zu kennen. Die Selbstliebe hört meistens auf, wenn man anfängt, sich zu kennen, und dieses Sichlieben, das ja bei dem Menschen, der nicht zur Selbsterkenntnis gekommen ist, immer vorhanden ist – denn es ist Täuschung, wenn jemand glaubt, daß er sich nicht liebt, er liebt sich mehr als alles in der Welt –, diese Selbstliebe muß man überwunden haben, um sich selbst ausschalten zu können. Man muß tatsächlich bei diesem Aufsteigen in die Lage kommen, sich zu sagen: Wie du nun einmal bist, mußt du dich beseitigen. Denn wenn du das, was du sonst an dir liebst, was du an Irrtümern, Kleinlichkeiten, Vorurteile, Sympathien, Antipathien und so weiter hast, wenn du das nicht beiseiteschieben kannst, dann wird das Aufsteigen so vor sich gehen, daß durch deine Irrtümer, Kleinlichkeiten, Vorurteile – Kräfte sich mischen in das, was einströmen muß, damit man hellsichtig werden kann. Die strömen in deinen physischen und Ätherleib ein; soviel Irrtümer, soviele zerstörende Prozesse gibt es dann. Solange wir kein Bewußtsein im Schlaf haben, solange wir nicht vermögen, in die Welten der Hellsichtigkeit aufzusteigen, solange schützen uns gute Götter davor, daß diese Kräfte in die Strömungen aus der Welt des waltenden Willens und der Welt der waltenden Weisheit in unseren physischen und Ätherleib einströmen. Dann aber, wenn wir unser Bewußtsein hinauftragen in die Welt der Hellsichtigkeit, dann schützen uns keine Götter mehr – denn der Schutz den sie uns geben, besteht gerade darin, daß sie uns unser Bewußtsein nehmen –, dann müssen wir alles selber beseitigen, was Vorurteile, Sympathien und Antipathien und so weiter sind. Alles das müssen wir beiseiteschieben; denn wenn wir da noch etwas haben von Eigenliebe, von den Wünschen, die uns als Persönliches anhaften, wenn wir in der Lage sind, aus dem Persönlichen heraus dieses oder jenes Urteil zu fällen, dann sind alle diese Dinge Gründe, daß wir unsere Gesundheit, nämlich unseren physischen Leib und Ätherleib, schädigen, indem wir uns in die höheren Welten hinaufentwickeln. [11]

Es ist ungeheuer wichtig, daß wir dies scharf ins Auge fassen. Deshalb können wir die Überzeugung in uns aufnehmen, wie bedeutsam es ist, daß dem Menschen im gewöhnlichen Leben bei Tag ein jeglicher Einfluß auf seinen physischen und Ätherleib entzogen ist, indem unsere Gedanken, so wie wir sie fassen, wenn wir innerhalb des physischen und des Ätherleibes sind, mit der Wirklichkeit gar nichts zu tun haben, unwirksam sind und daher auch keine Entscheidung herbeiführen können über das Wirkliche. In der Nacht können sie schon eine Entscheidung herbeiführen – jeder falsche Gedanke würde den physischen Leib und Ätherleib zerstören. Da würde uns alles das vor Augen treten, was jetzt beschrieben worden ist. Da würde uns die Sinneswelt erscheinen als ein Meer von waltendem Willen, und dahinter würde erscheinen, wie wirksam durch diesen Willen und diesen Willen auf- und abpeitschend, die die Welt konstruierende Weisheit, aber so, daß sie mit ihrem Wellenschlag fortwährend die Prozesse des Entstehens und Vergehens, der Geburt und des Todes hervorruft. Das ist die Welt des Wahrhaftigen, in die wir da hineinblicken, die Welt des waltenden Willens und die Welt der waltenden Weisheit; die letztere aber ist die Welt des Entstehens und Vergehens, der fortwährenden Geburten und der fortwährenden Tode. Das ist ja die Welt, die die unsrige ist und die zu erkennen ungeheuer wichtig ist. Denn erkennt man sie einmal, dann fängt man an, tatsächlich ein wichtiges Mittel zu immer höher und höher gehender Ergebung zu finden, weil man weiß: mit allem, was man tut, steht man in irgend etwas von Entstehen und Vergehen. Jetzt fängt der Mensch an zu wissen: Das Gute ist etwas im Weltenall, das schöpferisch ist, das die Welt des Entstehens überall bedeutet. Und von dem Bösen fühlt der Mensch überall, daß es sich ausgießende Verwesung ist. [12]

Bisher sorgten gute Götter für die Menschen, jetzt aber ist die Zeit gekommen in unserer fünften nachatlantischen Kulturepoche, wo dem Menschen mehr oder weniger die Schicksale, wo ihm wieder Gut und Böse in die Hand gegeben werden. Dazu ist nötig, daß die Menschen wissen werden, was das Gute bedeutet als schöpferisches, und was das Böse bedeutet als todbringendes Prinzip. [13]

Zitate:

[1]  GA 147, Seite 50   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[2]  GA 114, Seite 47   (Ausgabe 1955, 225 Seiten)
[3]  GA 13, Seite 295   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[4]  GA 153, Seite 135   (Ausgabe 1978, 190 Seiten)
[5]  GA 199, Seite 197   (Ausgabe 1985, 318 Seiten)
[6]  GA 114, Seite 67   (Ausgabe 1955, 225 Seiten)
[7]  GA 60, Seite 147   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[8]  GA 60, Seite 149f   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[9]  GA 60, Seite 151   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[10]  GA 146, Seite 35   (Ausgabe 1962, 163 Seiten)
[11]  GA 134, Seite 43f   (Ausgabe 1979, 126 Seiten)
[12]  GA 134, Seite 44f   (Ausgabe 1979, 126 Seiten)
[13]  GA 134, Seite 46   (Ausgabe 1979, 126 Seiten)

Quellen:

GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 114:  Das Lukas-Evangelium (1909)
GA 134:  Die Welt der Sinne und die Welt des Geistes (1911/1912)
GA 146:  Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita (1913)
GA 147:  Die Geheimnisse der Schwelle (1913)
GA 153:  Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt (1914)
GA 199:  Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung (1920)