Alchimie

Sie ist eine Lehre, die von dem Grundsatze ausgeht, daß an jeder Naturerscheinung ein zweifaches zu beachten ist: Erstens der äußere Verlauf, wie wir ihn mit den Sinnen wahrnehmen können; zweitens ein innerer Prozeß, der nichts weiter ist als ein Abbild des großen, unendlichen Weltprozesses im Kleinen. Was sich in den Tiefen des Universums abspielt, das spielt sich auch in dem Wesen jedes einzelnen Dinges ab. Wenn der Alchimist Stoffe chemisch behandelt, so sieht sein inneres Auge in dem Prozesse, der sich abspielt, genau dasselbe, was sich zum Beispiel auch im Menschen selbst abspielt. Die Stufenfolge von Erscheinungsweisen, die zum Beispiel der Schwefel beim Verbrennen durchmacht, sind auch die, welche der Mensch durchmacht, der zur geistigen Vollkommenheit strebt. [1]

Wer hineinschauen kann in eine Seele des 9. Jahrhunderts, der sieht, wie da jenes Ich-Bewußtsein, das später dem einfachsten Menschen eigen ist, sich erst herausbildet, indem zugleich jenes alte Anschauen aufhört, durch das man zum Beispiel dasjenige ausbilden konnte, was Alchimie war: ein Durchsetzen desjenigen, was Augen sehen, mit demjenigen, was die Seele in den Dingen erlebte. [2] Während ein paar Jahrhunderte nach der Entstehung des Christentums, die Astrologie eigentlich schon dahin war, blieb die Alchimie eigentlich noch vorhanden. Der Umgang mit den Naturgeistern war noch durchaus in späteren Zeiten möglich. Wenn wir jetzt hineinschauen in das, was im Mittelalter, sagen wir im 14. Jahrhundert ein wirklich rosenkreuzerisches alchimistisches Laboratorium war, da finden wir darinnen Instrumente, die verhältnismäßig manchmal sogar schon ähnlich sehen den heutigen Instrumenten, wenigstens kann man sich nach den heutigen Instrumenten schon Vorstellungen machen, was diese Instrumente der damaligen Zeit waren. Aber wenn wir dann geistig hineinschauen in diese rosenkreuzerischen Mysterien, so finden wir eigentlich überall drinnen die ältere, noch ernstere und noch tiefer tragische Persönlichkeit, die dann zu dem Faust, namentlich zu dem Goetheschen Faust geworden ist. [3] Alle diese Menschen sind gesteigerte faustische Naturen in dem älteren Mittelalter, denn sie fühlen eines tief: Wenn wir experimentieren, dann sprechen die Naturgeister zu uns, die Geister der Erde, die Geister des Wassers, die Geister des Feuers, die Geister der Luft (siehe: Elementarwesen). Sie hören wir in ihrem Raunen, in ihrem Lispeln, in ihren eigentümlich verlaufenden, summend beginnenden Lauten, die dann übergehen in Harmonien und Melodien, um in sich zurückzukehren. So daß Melodien ertönen, wenn Naturvorgänge stattfinden. Die Naturgeister, mit denen jene Menschen noch verkehrten, die reichten gerade hin, um die Sehnsucht nach den kosmischen Intelligenzen, zu denen die (früheren) Menschen gekommen sind, zu erwecken. Aber man konnte den Weg zu den kosmischen Intelligenzen nicht mehr finden, mit demjenigen, was gerade damals an Erkenntnismitteln aufgewendet werden konnte. [4] Gehen Sie zurück in die Zeiten der älteren Medizin, da hat kein Mensch daran gedacht, der mit Medizin etwas zu tun hatte, bloß die äußeren abstrakten Naturkräfte und Naturstoffe zu untersuchen. Da arbeiteten die Leute in ihrem Laboratorium so, daß ihnen aus den Vorgängen der Natur überall die Wirkungsweisen der elementarischen Kräfte entgegenleuchteten. Eigentlich haben ja die Menschen immer gefragt: Wie nimmt sich dasjenige, was irgend so ein Schwefel- oder anderer Prozeß ist mit einem anderen Stoffe zusammen, wie nimmt sich das aus hinter der bloßen sinnlichen Erscheinung? Wie wirken da die Wesen der elementarischen Reiche drinnen? – Die Menschen machten ihre Experimente, um gewissermaßen bei so einer Verwandlung, welche ein Stoff durchmacht, indem er sich mit einem andern verbindet, oder indem er aus einem anderen hervorkommt, zu erlauschen, wie da namentlich in dem Übergange, bei dem Farbenwechsel eines Stoffes, herauslugt aus dem elementarischen Reiche in die sinnliche Welt herein dasjenige, was Wesen der elementarischen Reiche sind. Noch Paracelsus, wenn er Sulfur, Salz, Merkur beschrieben hat, hat nicht die gewöhnlichen physischen Stoffe beschrieben, sondern das, was ihm, wenn diese Stoffe Verwandlungen durchmachten, aus dem elementarischen Reiche herauslugte. Das aber sind die wirklich heilenden Kräfte. [5] Was heute ein Naturforscher ist, war damals ein Alchimist. Man muß nur allen Aberglauben und Schwindel besonders von dem Wort Alchimie freihalten, um zu dem innerlichen, rein geistigen Sinn des Wesens der Alchimie zu kommen. [6] Die Menschen waren sich darüber klar – worauf schon ein späteres Zeitalter wieder kommen wird, heute sind diese Dinge nur sehr verborgen –, daß die äußere Erscheinungsform zum Beispiel eines Metalles nicht ein so festes Gefüge ist, als daß sie nicht in ein anderes übergehen könnte. Nur sahen sie den Übergang als geistgetragen an, als Wirkung des Geistes in die Natur hinein. Diese Vorgänge waren veranlaßt durch das Handhaben geistiger Kräfte. [7] Was über Alchimie gedruckt ist, handelt nur von rein äußeren Experimenten, ist nur von denen geschrieben, welche die Alchimie als Selbstzweck betrieben. Der falsche Alchimist ging darauf aus, Stoffe zu formen. Er sah in den Experimenten bei der Verbrennung der Stoffe nur den Gewinn des materiellen Ergebnisses. Der rechte Alchimist aber gab auf den Stoff, den er zuletzt erhielt, gar nichts. Es kam ihm nur auf die inneren Seelenerlebnisse während der Stofformung an, auf die Gedanken, die in ihm waren, die Erlebnisse, die er in sich hatte. Daher war es ein strenges Gesetz, daß der mittelalterliche Theosoph, welcher bei den Experimenten Gold und Silber erzeugte, nie einen Gewinn für sich daraus machen durfte. Er durfte die produzierten Metalle nur verschenken. Der mittelalteliche Theosoph konnte ganze Seelendramen in seinem Laboratorium erleben, zum Beispiel wenn das Antimon gewonnen wurde, sahen die Experimentierenden sehr bedeutendes Moralisches in diesen Prozessen. [8]

(Die Fachausdrücke der Alchimisten) bedeuten gewisse Vorgänge, die im menschlichen Organismus drinnen vorkommen. Es ist menschliche Innen-erkenntnis. Sie haben einen Sinn , sobald man weiß, was in diesen alten Zeiten mit Antimon, mit Merkur und so weiter gemeint war, und daß da zwar sich auch ein Aspekt ergab für das äußere Mineral, daß aber vor allen Dingen mit diesen Vorgängen innere Vorgänge der menschlichen Natur gemeint waren. [9] Diejenigen, welche keine Ahnung davon haben, was in diesem Fall die Ausdrücke bedeuten und namentlich die Zeichen, die damit verbunden sind, die nehmen die Sache einfach wörtlich. Wörtlich genommen ist es aber der barste Unsinn. Wenn nun einer hingeht und das probiert, wenn er das nimmt, was er im Buche (zum Beispiel bei Raimundus Lullus) findet, gewisse Stoffe nimmt, sie mischt und sie dann dem Quecksilber hinzufügt, so ist das der absoluteste Unsinn, der gemacht werden kann. Es hat jeder das größte Recht, sich darüber lustig zu machen. Das tut auch der (Geistes-) Forscher. Er macht sich lustig. Wer aber versteht, die Ausdrücke zu deuten, der wird finden, daß in der Literatur der «Stein der Weisen» ebensogenau vorhanden ist wie in dem, was in Raimundus Lullus' Schriften enthalten ist, und wodurch er zum Ziele gekommen ist. Das ist das Wunderbare an der Sache, daß der Satz seit Jahrhunderten bekannt ist und heute noch richtig ist. Das zeigt dem, der etwas davon weiß, wie grandios richtig es ist. Für den ist es dann klar, daß in Raimundus Lullus wirklich die Seele eines der Weisesten seines Zeitalters steckte. Wer dagegen nur an der äußeren Ausdrucksweise haften bleibt, der macht wirklich Unsinn. [10] Die mittelalterlichen Alchimisten nannten (beispielsweise) das Weibliche im Menschen das «Lilium». Darum spricht auch Goethe in seinem Märchen von der schönen Lilie. [11]

Zitate:

[1]  GA 1d, Seite 152   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[2]  GA 215, Seite 115   (Ausgabe 1980, 188 Seiten)
[3]  GA 232, Seite 199   (Ausgabe 1974, 222 Seiten)
[4]  GA 232, Seite 20uf   (Ausgabe 1974, 222 Seiten)
[5]  GA 222, Seite 38   (Ausgabe 1976, 130 Seiten)
[6]  GA 176, Seite 337   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[7]  GA 176, Seite 338   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[8]  GA 130, Seite 76   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[9]  GA 194, Seite 137f   (Ausgabe 1983, 254 Seiten)
[10]  GA 57, Seite 154f   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[11]  GA 97, Seite 34   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)

Quellen:

GA 1d:  J.W. GOETHE: Naturwissenschaftliche Schriften. Band IV (1897)
GA 57:  Wo und wie findet man den Geist? (1908/1909)
GA 97:  Das christliche Mysterium (1906/1907)
GA 130:  Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit (1911/1912)
GA 176:  Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus (1917)
GA 194:  Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens (1919)
GA 215:  Die Philosophie, Kosmologie und Religion in der Anthroposophie (1922)
GA 222:  Die Impulsierung des weltgeschichtlichen Geschehens durch geistige Mächte (1923)
GA 232:  Mysteriengestaltungen (1923)