Intelligenz

Man versteht den großen Philosophen Aristoteles schlecht, wenn man nicht weiß, daß Aristoteles, indem er den höchsten Teil der menschlichen Seele Dianoetikon nannte, sich klar bewußt ist: dieser höchste Teil der menschlichen Seele, der ein intellektueller ist, der ist heruntergeträufelt aus geistig-seelischen Welten. Das wußte Aristoteles genau. Ja, das wußten die Menschen auch noch in den ersten Zeiten des Christentums genau. Dieses Bewußtsein, daß die menschliche Intelligenz göttlichen, geistigen Ursprungs ist, ging erst im 4. nachchristlichen Jahrhundert verloren. Im 4. nachchristlichen Jahrhundert fingen die Menschen eigentlich erst an, nicht mehr zu glauben, daß das, was sie als Gedankenkraft in sich haben, von oben, aus den geistig-seelischen Welten bei ihrer Geburt auf sie herunterträufelt. Im Inneren der Seele der Menschen war da ein großer Umschwung. [1]

Die Menschen sind seit dem 15. Jahrhundert besonders groß geworden als intelligente Wesen. Sie sind heute noch stolz darauf, die Menschen, daß sie so intelligente Wesen sind. Man soll (aber) nur ja nicht glauben, daß nicht auch eine andere Form von Intelligenz in früheren Zeiten vorhanden war, nur wurde diese Intelligenz zugleich mit einem gewissen Schauen geboren. Es wurde diese Intelligenz mit einem gewissen geistigen Inhalte zugleich in dem Menschen geschaffen.

Wir haben eine Intelligenz, die eigentlich keinen wirklichen geistigen Inhalt hat, die eigentlich bloß formell ist, denn unsere Begriffe und Ideen haben eigentlich in sich selbst nichts, sie sind nur Spiegelbilder von etwas, das ist im Grunde genommen passiv. [2] Ein solches, nicht von Substanz erfülltes Geistesleben, das ist eigentlich abgeschlossen, sowohl abgeschlossen von der physischen Welt, wie abgeschlossen von der geistigen Welt. Eigentlich weiß unsere Zeit weder von der physischen Welt noch von der geistigen viel. Sie weiß eigentlich nur von dem, was sie selber ausdenkt. Wegen dieses Charakters unserer Intellektualität als einer Summe von Spiegelbilder war der Mensch des 19. Jahrhunderts ausgeschlossen davon, etwas zu wissen von dem, was geistig hinter den Kulissen der Weltgeschichte vorging. Er erlebte jenen großen, bedeutsamen Umschwung nicht mit, der sich im Geistigen hinter der äußeren Weltgeschichte vollzog in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und er muß erst durch eigene Anstrengungen lernen, daß die physische Welt folgen müsse der geistigen Welt. Er wird es lernen müssen, (sonst) wird die Zivilisation über die ganze gegenwärtige zivilisierte Welt hin in Barbarei übergehen. Um das zu vermeiden, ist eben notwendig, daß der Mensch gewahr werde innerlich, daß er ebenso etwas erleben müsse, wie erlebt worden ist um das Jahr 300 vor Christi Geburt die Geburt der Phantasie. So muß in unserer Zeit erlebt werden die Geburt des tätigen Verstandes. Dazumal entstand die Möglichkeit, durch Nachschaffung von äußeren Formen phantasievoll zu gestalten. Jetzt muß die Menschen ergreifen ein inneres kraftvolles Schaffen von Ideen, durch die sich jeder selber ein Bild seines eigenen Wesens macht und sich dieses vorsetzt als dasjenige, dem er nachstrebt. Selbsterkenntnis im weitesten Umfange des Wortes muß die Menschen ergreifen. [3]

Wir können denken nur aus dem Grunde, weil wir fortwährend das Todesprinzip in uns tragen. Das ist dieses große Geheimnis der Menschen, daß gewissermaßen von den Sinnen aus – wenn ich das Auge nehme als den Repräsentanten der Sinne – fortwährend strömt durch dasjenige, was man als Nerv auffaßt, Zerstörendes in den Menschen hinein. Es ist, wie wenn der Mensch von den Sinnen aus durch die Nervenstränge mit einem sich zerbröckelnden Materiellen ausgefüllt würde. Wenn Sie sehen, wenn Sie hören, oder auch, wenn Sie nur Warmes fühlen, es ist wie ein von den Sinnen nach innen sich zerbröckelndes Materielles. Dieses muß erfaßt werden von demjenigen, was aus dem Inneren des Menschen ausströmt. Es muß gewissermaßen verbrannt werden. Wir müssen fortwährend, indem wir denken, gegen den in uns waltenden Tod kämpfen. Der Mensch weiß heute eben nicht, weil er sich nur bewußt ist seines Denkens als Spiegelbilder, daß er im Grunde genommen nur lebt mit dem, was nicht Kopf ist, daß der Kopf eigentlich nur ein fortwährend absterbendes Organ ist. Dieses fortwährende Sterben wird nur verhindert dadurch, daß der Kopf mit dem anderen Organismus verbunden ist und die Vitalität des anderen Organismus das Sterben verhindert.

Wenn der Mensch sich aneignen wird diesen tätigen Verstand, dann wird er in sich selber wahrnehmen das fortwährende Absterben eines Teiles seines Wesens. [4] Heute wird es noch wenig bemerkt, allein es werden auftreten Krankheitsformen, bei denen man den Ausgang aus dem menschlichen Haupte besser bemerken wird, als man es für viele Krankheiten der Gegenwart bemerkt. Dann wird man einsehen, daß im Grunde genommen der ganze gesunde Prozeß des Menschen, der in ihm verläuft, ein Heilungsvorgang ist gegen die Schädigung unseres Intellektlebens. Während die Alten also von ihrer Wissenschaft, von ihrer Erkenntnis sagen konnten, daß in ihr etwas Heilendes ist, wird man in der Zukunft sagen müssen: Das, was wir aus unserem Verstande machen, das, was aus dem wird, worauf wir heute so stolz sind, das wird uns in der Zukunft zeigen, daß, wenn er allein waltet, die Menschen nach und nach in die völlige Dekadenz verfallen würden, daß dagegen geltend gemacht werden muß ein Wissen, das wiederum entgegenstellen kann heilende Kräfte. [5]

Gerade derjenige, der mit dem spirituellen Leben bekannt wird, kann allerdings von der heutigen Intellektualität nicht viel halten. Sie ist etwas, was den Menschen mit schattenhaften Begriffen und Ideen anfüllt, die weit, weit weggehen von der lebensvollen Wirklichkeit. Aber so ist es nur heute mit der Intelligenz, weil das, was wir heute als Intelligenz haben, im allgemeinen Bewußtsein der Menschheit eben erst im Anfang ist, wie wir ja auch erst im Anfang des Michael-Zeitalters stehen. Diese Intelligenz wird einmal etwas ganz, ganz anderes werden. Und wenn man sich eine Vorstellung davon machen will, was diese Intelligenz anderes noch werden kann im Lauf der Menschheitsentwickelung, dann muß man daran denken, wie noch Thomas von Aquino in der mittelalterlichen christlichen Philosophie jene Wesen, die die Sterne bewohnen, mit dem Namen Intelligenzen bezeichnet hat. Die Intelligenz ist kosmisch überall ausgebreitet. In den Dingen ist die Intelligenz. Und wie man die Farben wahrnimmt, so nimmt man auch den intelligenten Inhalt, den Gedankeninhalt der Dinge wahr. Die Welt ist voller Intelligenz. Allüberall ist intelligentes Wesen. Der Mensch hat diese Intelligenz sich gewissermaßen im Lauf der neuesten Zeit angeeignet. Man möchte sagen: Die Intelligenz ist etwas, was im weiten Weltenall ausgebreitet ist, wovon der Mensch in der neueren Zeit überall einen Tropfen bekommen hat. Beim alten Menschen war es aber so, daß er in jedem Augenblick, wo er dachte, sich dessen bewußt war, daß die Gedanken ihm inspiriert werden, geoffenbart werden. Er schrieb nur dem Weltenall Intelligenz zu, nicht sich. [6]

Nun war zu allen Zeiten der Verwalter dieser kosmischen Intelligenz, die sich von der Sonne wie das Licht ausstrahlend über die ganze Welt verbreitet, eben der Geist, der mit dem Namen Michael bezeichnet wird. Wir sehen, wenn wir in die geistige Welt hineinschauen, das Heruntersinken der Intelligenz von der Sonne auf die Erde, das sich vollzieht so bis gegen das 8. nachchristliche Jahrhundert hin. Im 9. Jahrhundert, da beginnen die Menschen schon, ich möchte sagen, als Vorläufer der späteren, Eigenintelligenz zu entwickeln, da faßt die Intelligenz ihren Sitz in den Seelen der Menschen. [7]

Und es ist die Stimmung innerhalb der Michael-Gemeinschaft: Wir müssen bei unserer nächsten Herrschaft – die eben im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beginnen sollte –, wenn wir wiederum die Erdenzivilisation mit unseren Impulsen durchdringen, wir müssen die Intelligenz, die vom Himmel auf die Erde gesunken ist, dort wieder finden, um in den Herzen, in den Seelen der Menschen das zu verwalten, was wir von der Sonne, vom Kosmos aus durch Äonen verwaltet haben. [8]

Schöpferisch im höchsten Grade war dieses intellektuelle Element zur Zeit des Kopernikus, Galilei, Giordano Bruno, bis herauf dann ins 19. Jahrhundert. Aus dem schöpferischen Intellekt gingen die großen Taten der Menschheit, namentlich innerhalb der abendländischen Zivilisation in den letzten Jahrhunderten hervor. Wer unbefangenen Sinn hat, wird schon äußerlich bemerken können, daß das Schöpferische der Intelligenz gerade in den letzten Jahrzehnten (vor 1920) wesentlich abgenommen hat (und seither noch viel mehr abgenommen hat). Etwas Maschinenhaftes hat diese Intelligenz bekommen. [9]

In Rußland, gleichgültig, ob das der Zar oder der Lenin tut, wird die Intelligenz polizeilich unterdrückt und wird noch lange polizeilich unterdrückt werden. Vielleicht liegt gerade darin der Nerv ihrer Stärke, daß sie polizeilich unterdrückt wird. Man kann überhaupt mit Bezug auf dieses eine ziemlich schematische, aber doch gültige Zusammenstellung machen. Man kann sagen: In Rußland wird die Intelligenz verfolgt, in Mitteleuropa gezähmt, und im Westen ist die Intelligenz schon zahm geboren. [10]

Zitate:

[1]  GA 191, Seite 108f   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[2]  GA 198, Seite 26f   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[3]  GA 198, Seite 28f   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[4]  GA 198, Seite 31ff   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[5]  GA 198, Seite 33   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[6]  GA 240, Seite 236ff   (Ausgabe 1986, 320 Seiten)
[7]  GA 240, Seite 238f   (Ausgabe 1986, 320 Seiten)
[8]  GA 240, Seite 240   (Ausgabe 1986, 320 Seiten)
[9]  GA 212, Seite 146f   (Ausgabe 1978, 178 Seiten)
[10]  GA 186, Seite 245   (Ausgabe 1979, 330 Seiten)

Quellen:

GA 186:  Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage (1918)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)
GA 212:  Menschliches Seelenleben und Geistesstreben im Zusammenhange mit Welt- und Erdentwickelung (1922)
GA 240:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Sechster Band (1924)