Faust von Goethe

Faust ist eine solche Gestalt, die, so wie sie uns in der Literatur und dann bei Goethe wie in einer Art von Abschluß entgegentritt, zurückführt auf eine reale Gestalt des 16. Jahrhunderts. Er war nicht so da, wie Goethe ihn schildert. Aber warum schildert Goethe ihn so? Goethe wußte es selber nicht. Aber wenn er den Blick hinlenkte auf den Faust, wie er überliefert war, den er schon aus seiner Knabenzeit her kannte, so wirkten in ihm Kräfte von dem, was hinter dem Faust stand, was eine vorhergehende Inkarnation des Faust war: Empedokles, der alte griechische Philosoph. [1]

Das ist gerade das Eigentümliche in Goethes Faust, das ist die schöne künstlerische Gestaltung des Goetheschen Faust, daß dasjenige, was in realer Gestalt auf die Bühne gebracht wird, immer im Grunde genommen ein Stück Selbsterkenntnis ist. Wie der Mephisto ein Stück Selbsterkenntnis ist, so ist Wagner auch ein Stück Selbsterkenntnis des Faust. Wagner ist Faust selbst. [2] Wie der Mensch, der nach und nach einsieht, wie verschiedene Wesenheiten in ihm stecken (siehe: Hüter der Schwelle), sich zerteilt, das haben Sie vorgeahnt in Faust: wie er sich aufteilt in Wagner und Luzifer-Mephisto. Er lernt sich so nach und nach kennen in seinen einzelnen Teilen. [3]

Wie kam es denn, daß Goethe sein eigenes Leid und seine eigenen Stimmungen anknüpfte an diese Figur des Faust? Faust, so wird erzählt, hat gelebt in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, einer Zeit, in der sich für die Geschichte vieles entschieden hat. Wenn man diese Zeit vergleicht mit dem elften und zwölften Jahrhundert, wo man ein Erkenntnisleben führte, findet man diese Zeiten sehr verschieden. Im zwölften Jahrhundert war es möglich für diejenigen Geister, die eindrangen in das, was ihnen die Zeit bot, das zu vereinbaren mit dem, was sie in der eigenen Seele finden konnten. Wenn sie den geistigen Blick hinaufsandten zu dem, was in den göttlichen Höhen thronte als das Schöpferische der Welt, und wenn sie sich darüber Begriffe bildeten, so war es für sie möglich, anzuknüpfen an das, was sie aus der äußeren Naturwissenschaft kannten. Eine Stufenfolge war es, was die Seelen da kennenlernten: unten, auf der untersten Stufe, das, was man als Physiker kennenlernt, auf der nächsten Stufe das, was man kennenlernt über die höheren Geheimnisse des Daseins, über die verborgene Seite des Daseins, die das geistige Auge und das geistige Ohr zu erreichen vermochte, und wiederum auf den höchsten Stufen wurde erkannt in hehren, in feinen kristalldurchsichtigen Begriffen, die aber lebensvoll und wirksam auf die Seele waren, die Stufen des göttlichen Daseins, und alles hing miteinander zusammen. Mag man heute auch achselzuckend auf die Geister jener Zeit herabblicken, es ist ein Weg, der nirgends eine Unterbrechung erleidet. „Wenn man zum Beispiel den Erkenntnisweg des Albertus Magnus nimmt, der unten beginnt in der untersten Natur und endet in einem Anschauen Gottes – nicht sind es da Begriffe, die trocken und nüchtern sind, sondern Begriffe, die die Seele warm machen und das Herz durchleuchten. Das war in den Zeiten, in denen Faust lebte, dahin. Da waren die Begriffe, die von einem Theologen geprägt wurden über die Stufen des göttlichen Daseins, zwar auch abstrakt, das heißt gedanklich abgezogen, aber trocken und nüchtern. Es waren Begriffe, die man studieren konnte, in die sich die Vernunft, der Verstand hineinversenken konnten. Nirgends aber fand die Vernunft die Möglichkeit, diese Begriffe anzuknüpfen an das lebendige, um uns herumliegende Dasein, nirgends aber auch die Möglichkeit, die Seele lichtvoll und das Herz warm zu machen. Und dann war es so gekommen, daß die Wissenschaft, die man als Mystik, Magie, Theosophie hatte, und die von den Dingen handelte, die man mit geistigen Augen und geistigen Ohren wahrnimmt, in einem völligen Niedergange begriffen war, vor allen Dingen deshalb, weil durch den Buchdruck mancherlei von dem, was früher in den Handschriften verborgen war, hinausgetragen wurde in die Öffentlichkeit und aufgefaßt wurde von Geistern, die es nicht verstanden, die dann nichts anderes sahen als etwas, was sie nachmachen mußten. Humbug und Unsinn mancherlei wurde damit in den Laboratorien getrieben. Was in einer geistigen Weise hätte erlebt werden sollen, wofür das, was in den Büchern stand, nur äußere Formeln waren, die aber einen tiefen Sinn hatten, das nahm man – wörtlich. Aber auch das andere konnte eintreten: daß unter vielen Mißverständnissen im Volke dieses Streben als Zauberei verschrien wurde, daß Tritheim von Sponheim, Agrippa von Nettesheim und manche andere, die ehrlich und redlich nach geistigen Kräften in der Natur forschten, als schwarze Zauberer und Schwindler hingestellt wurden, als Menschen, die von der guten Bahn abgewichen waren, welche die alte Religion vorgezeichnet hat. In diese Zeit hinein fiel das Leben des Faust des sechzehnten Jahrhunderts, in eine Zeit, die in manchem die Abendröte einer alten Geistesströmung sah, die aber zugleich auch die Morgenröte war einer ganz neuen Zeit, einer Zeit, die dann solche Sterne hervorbrachte wie Giordano Bruno, Galilei, Kopernikus und so weiter. Man nennt mancherlei Zeiten die Zeiten des Überganges. Von allen Zeiten aber verdient keine so sehr diesen Namen wie die Zeit des Faust. Nach allem, was wir wissen, war die Faust-Gestalt eine solche, die tief empfand das Unzulängliche des damaligen Studiums über die geistige Welt. [4]

Der wirkliche historische Faust wurde 1509 in Heidelberg promoviert, der wirklich eine historische Persönlichkeit ist. Wenn man sich in das «Faust»-Buch vertieft, das 1589 erschienen ist, findet man da auf der einen Seite eine wirkliche, auf der anderen Seite eine dichterische Persönlichkeit, die im höchsten Grade das ist, was man heute mit einem mehr oder weniger treffenden Wort «medial» nennt, medial mit all den krankhaften, abnormen Erscheinungen, die mit der Medialität verbunden sind. [5]

Und einer derjenigen, die niemals den Gedanken der Abhängigkeit von ihrer Umgebung losbekamen, ist Goethe. Er wußte, daß gewissermaßen sein Zeitalter aus ihm spricht. Das belebte und bewegte sein Lebensverhalten in ganz außerordentlicher Weise. Ja, aber was hätte denn Goethe dann anstreben müssen, wenn er in dem Moment, wo ihm das so recht zum Bewußtsein gekommen war, daß man eigentlich ganz abhängig ist von seiner Umgebung, wenn er seine Gefühle, seine Empfindungen für diese Abhängigkeit mit den Gedanken, die wir heute geäußert haben, in Zusammenhang gebracht hätte? Er hätte sagen müssen: Ja, das, was meine Umgebung ist, das ist abhängig von der ganzen Strömung bis zu den Vorfahren hin. Ich bleibe immer abhängig. Ich müßte mich denn schon in Gedanken, im Seelenerleben in eine Zeit zurückversetzen, wo gar noch nicht die heutigen Verhältnisse waren, wo ganz andere Verhältnisse waren, dann würde ich, wenn ich mich hineinversetzen könnte in diese Verhältnisse, zu einem unabhängigen Urteil kommen, nicht nur urteilen, wie meine Zeit über meine Zeit urteilt, sondem wie ich urteile, wenn ich mich ganz heraushebe aus meiner Zeit. Dabei kann es natürlich nicht darauf ankommen, daß sich solch ein Mensch, der dies als Notwendigkeit empfindet, gerade in seine eigene frühere Inkarnation versetzt. Aber doch im wesentlichen muß er sich an einen Zeitpunkt hin versetzen, der mit einer früheren Inkarnation zusammenhängt, wo er in ganz andern Verhältnissen gelebt hat. Und wenn er jetzt sich zurückversetzt in diese Inkarnation, so wird er nicht abhängig sein wie früher, denn die Verhältnisse sind ganz andere geworden, die früheren Verhältnisse sind inzwischen zerstört, zugrunde gegangen. Mit dem Leben, das zugrunde gegangen ist, mit dem Leben einer früheren Zeit kann man nicht mehr verwoben sein, dieses Leben kann man nur noch geistig-seelisch durchleben. Da müßte er das so darstellen, daß er zurückversetzt wird in ganz andere Verhältnisse. Ob das nun genau die vorhergehende Inkarnation ist oder nicht, darauf kommt es nicht an, sondern auf Verhältnisse, die auf der Erde ganz andere waren. Und er müßte darnach trachten, nun seine Seele anzufüllen mit den Impulsen, die dazumal waren. Er müßte gewissermaßen in eine Art Phantasmagorie sich versetzen, sich identifizieren mit dieser Phantasmagorie und darin leben, in einer Art Phantasmagorie leben, die eine frühere Zeit darstellt. Dahin strebt aber Goethe, indem er seinen «Faust» fortsetzt im zweiten Teil. Denken Sie, daß er seinen Faust zunächst in die Verhältnisse der Gegenwart gebracht hat, da läßt er ihn durchleben alles dasjenige, was man in der Gegenwart erleben kann. Deshalb läßt Goethe den Faust den ganzen Weg machen bis zurück in die klassische griechische Zeit und läßt ihn eintreten, zusammenkommen mit der klassischen Walpurgisnacht. Dasjenige, was er in der Gegenwart im tiefsten Sinne erleben kann, hat er dargestellt in der nordischen Walpurgisnacht. Nun muß er zurückgehen zu der klassischen Walpurgisnacht, denn von der klassischen Walpurgisnacht bis zu der nordischen Walpurgisnacht sind alle Verhältnisse andere geworden. Das, was das Wesentliche war der klassischen Walpurgisnacht, ist verschwunden, und neue Verhältnisse sind eingetreten, die symbolisiert werden durch die nordische Walpurgisnacht. Da haben Sie die Rechtfertigung des Zurückgehens des Faust in die griechische Zeit. Der ganze zweite Teil des «Faust» ist die Realisierung dessen, was man nennen kann: «Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.» [6] Das ist das Bedeutsame an der Goetheschen Faust-Dichtung, daß sie, ich möchte sagen, ein Werk des Strebens ist, ein Werk des Ringens. Ich habe wirklich klar genug betont in den letzten Zeiten, daß es ein Unsinn wäre, die Goethesche Faust-Dichtung als ein abgeschlossenes Kunstwerk anzusehen. Ich habe genug getan, um zu zeigen, daß von einem abgeschlossenen Kunstwerke nicht die Rede sein kann. Aber als Werk des Strebens, als Werk des Ringens ist diese Faust-Dichtung so bedeutend. Dann erst kann man verstehen, was Goethe ahnend errungen hat, wenn man sich einläßt auf das, was als ein Licht fallen kann von unserer Geisteswissenschaft aus auf solch eine Komposition. [7]

Goethe hatte schon vor, noch eine Art dritten Teil zu schreiben zu seinem «Faust»; es sind nur die zwei Teile geworden, die nicht alles ausdrücken, was Goethe wollte. Denn er hätte dazu Geisteswissenschaft gebraucht. Was Goethe da hat darstellen wollen, das ist nun das Erleben der ganzen Schöpfung draußen, wenn man herausgekommen ist aus dem persönlichen Leben. Dieses ganze Erleben der Schöpfung draußen, in Objektivität in der Welt draußen, so daß von innen heraus die Schöpfung erlebt wird, indem man das wahrhaft Innere nach außen getragen hat, das skizziert sich Goethe (in einem Plan), ich möchte sagen, stammelnd mit den Worten: «Schöpfungsgenuß von innen» – das heißt nicht von seinem Standpunkt, indem er herausgetreten ist aus sich selber. Mit diesem «Schöpfungsgenuß von innen» wäre Faust nun eingetreten nicht nur in die klassische Welt, sondern in die Welt des Geistigen. [8]

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Der zweite Teil von Goethes «Faust» konnte ja zu Goethes Zeit nicht verstanden werden, weil er eine Kritik desjenigen ist, was Goethe eigentlich als Inhalt des 20. Jahrhunderts erlebt hat. [9] (Siehe auch unter: Goethe Faust).

Zitate:

[1]  GA 139, Seite 24f   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[2]  GA 272, Seite 85   (Ausgabe 1981, 336 Seiten)
[3]  GA 272, Seite 88   (Ausgabe 1981, 336 Seiten)
[4]  GA 57, Seite 302   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[5]  GA 65, Seite 252   (Ausgabe 1962, 704 Seiten)
[6]  GA 162, Seite 80ff   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[7]  GA 162, Seite 83   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[8]  GA 162, Seite 90   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[9]  GA 177, Seite 228   (Ausgabe 1977, 262 Seiten)

Quellen:

GA 57:  Wo und wie findet man den Geist? (1908/1909)
GA 65:  Aus dem mitteleuropäischen Geistesleben (1915/1916)
GA 139:  Das Markus-Evangelium (1912)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 177:  Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis (1917)
GA 272:  Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band I: Faust, der strebende Mensch (1910-1915)