Medizin

Was man auch heute auf medizinischem Felde bespricht, es hat ja immer zu seinem anderen Pol zu seinem Hintergrunde die Art und Weise, wie die medizinische Arbeit vorbereitet wird durch Betrachtungen der Anatomie, Physiologie, der ganzen Biologie, und durch diese Vorbereitungen werden die Gedanken der Mediziner von vorneherein in eine bestimmte Richtung gebracht, und diese Richtung ist es vor allen Dingen, von der abgekommen werden muß. [1] Die Medizin muß wiederum hinwenden ihren Blick auf dasjenige, was sich durch Chemie oder auch durch die gewöhnliche vergleichende Anatomie nicht erreichen läßt, was nur erreicht werden kann, wenn man zu einer geisteswissenschaftlichen Betrachtung der Tatsachen übergeht. In Bezug darauf gibt man sich ja heute noch mancherlei Irrtümern hin. Man denkt, daß es sich hauptsächlich darum handeln müsse, für eine Vergeistigung der Medizin an die Stelle der materiellen Mittel geistige zu setzen. Aber so berechtigt das auf gewissen Gebieten ist, so unberechtigt ist es in seiner Gänze. Denn es handelt sich vor allen Dingen auch darum, auf geistige Art zu erkennen, welcher Heilwert in einem materiellen Mittel stecken könnte, Geisteswissenschaft also schon anzuwenden auf die Bewertung der materiellen Mittel. [2]

Was ist denn Krankheit und was ist denn der kranke Mensch überhaupt? Selten findet man eigentlich eine andere Erklärung über Krankheit und den kranken Menschen als die – wenn sie auch maskiert ist durch diese oder jene scheinbar sachlichen Einschiebsel –, daß der Krankheitsprozeß eine Abweichung ist vom normalen Lebensprozeß, daß durch gewisse Tatsachen, die auf den Menschen wirken und für die der Mensch in seinem normalen Lebensprozeß zunächst nicht angepaßt ist, Veränderungen in dem normalen Lebensprozeß und in der Organisation hervorgerufen werden und daß die Krankheit in diesen mit den Veränderungen verbundenen, funktionellen Beeinträchtigungen der Körperteile besteht. Nun werden Sie sich aber zugestehen müssen, daß dies nichts weiter ist als eine negative Bestimmung der Krankheit. [3]

Was sind denn eigentlich die Krankheiten für Prozesse? Wie unterscheiden sie sich denn von den sogenannten Normalprozessen des menschlichen Organismus? Denn nur mit einer positiven Vorstellung über diese Abweichung kann man doch arbeiten, während die Darstellungen, die man gewöhnlich findet und die gegeben werden in der offiziellen Wissenschaft, eigentlich nur negativ sind. Es wird nur darauf hingewiesen, daß eben solche Abweichungen da sind. Und dann probiert man, wie man etwa die Abweichungen beseitigen könne. Aber eine durchgreifende Anschauung über das Menschenwesen ist ja eigentlich nicht vorhanden. Und an dem Mangel einer solchen durchgreifenden Anschauung über das Menschenwesen krankt im Grunde genommen unsere ganze medizinische Anschauung. Denn was sind denn die Krankheitsprozesse? Sie werden doch nicht umhin können, sich zu sagen, daß es Naturprozesse sind. Sie können doch nicht einen abstrakten Unterschied konstruieren ohne weiteres zwischen irgendeinem Naturprozeß, der draußen verläuft und dessen Folgen Sie verfolgen, und zwischen einem Krankheitsprozesse. Den Naturprozeß, Sie nennen ihn normal, den Krankheitsprozeß nennen Sie abnorm, ohne eigentlich darauf hinzuweisen, warum nun dieser Prozeß im menschlichen Organismus ein abnormer ist. Man kann ja zu keiner Praxis kommen, wenn man nicht wenigstens sich Aufschluß darüber geben kann, warum der Prozeß abnorm ist. Dann erst kann man irgendwie nachforschen danach, wie man ihn aufheben kann. Denn man kann dadurch erst darauf kommen, aus welcher Ecke des Weltendaseins das Hinwegschaffen eines solchen Prozesses möglich ist [4]

Lassen Sie nur die Medizin sich so materialistisch weiterentwickeln : wenn Sie 40 Jahre voraussehen könnten (also bis 1949), Sie würden erschrecken, in welch brutaler Weise diese Medizin vorgehen wird, bis zu welchen Formen des Todes die Menschen von dieser Medizin da kuriert würden. [5] Alles dasjenige, was mit Medizin zusammenhängt, wird eine ungeheure, im materialistischen Sinne ungeheure Förderung erfahren. Man wird instinktiv Einsichten bekommen in die Heilkraft gewisser Substanzen und gewisser Verrichtungen, und man wird ungeheuren Schaden anrichten dadurch, aber man wird den Schaden nützlich nennen. Man wird das Kranke gesund nennen, denn man wird sehen, daß man da in eine gewisse Verrichtung hineinkommt, die einem dann gefallen wird. Es wird einem einfach gefallen, was die Menschen nach einer gewissen Richtung hin ins Ungesunde hineinführt. Also gerade die Erkenntnis der Heilkraft gewisser Vorgänge, gewisser Verrichtungen, die wird erhöht werden, aber sie wird in ganz schädliches Fahrwasser gelangen. Denn vor allen Dingen wird man erfahren durch gewisse Instinkte, was gewisse Substanzen und was gewisse Verrichtungen für Krankheiten hervorrufen, und man wird ganz nach egoistischen Motiven einrichten können, Krankheiten hervorzubringen, oder sie nicht hervorzubringen (wie beispielsweise Sterilität durch die medikamentösen Kontrazeptiva). [6]

Wer ähnliche Vorträge von mir gehört hat, wird wissen, wie wenig es mir darum zu tun ist, einzustimmen in den Chor, der heute das, was man als «Schulmedizin» bezeichnet, diskreditieren will. Es darf vielleicht gerade bei dieser Gelegenheit betont werden, daß die Leistungen in bezug auf die Tatsachen und tatsächlichen Erforschungen der Erscheinungen gerade auf dem Gebiet des Krankheitswesens und der Gesundheitsfragen der Menschheit in den letzten Jahren und Jahrzehnten wahrhaftig zu ebensolchen Lobreden, Anerkennen und Bewundern herausfordern wie zahlreiche andere naturwissenschaftliche Ergebnisse. Und von dem, was auf diesem Gebiete an Tatsächlichem geleistet worden ist, darf auch gesagt werden: Wenn sich irgend jemand freuen darf über das, was die Medizin in den letzten Jahren geleistet hat, so kann dies gerade die Geisteswissenschaft sein. [7] Medizin wird eine geistige Wissenschaft werden. Und wie man in alten Zeiten die Medizin als geistige Wissenschaft gekannt hat, wird man sie als geistige Wissenschaft wiedererkennen. [8]

Zitate:

[1]  GA 312, Seite 13   (Ausgabe 1976, 392 Seiten)
[2]  GA 312, Seite 33   (Ausgabe 1976, 392 Seiten)
[3]  GA 312, Seite 15   (Ausgabe 1976, 392 Seiten)
[4]  GA 312, Seite 25   (Ausgabe 1976, 392 Seiten)
[5]  GA 109, Seite 160   (Ausgabe 1979, 304 Seiten)
[6]  GA 182, Seite 151   (Ausgabe 1976, 190 Seiten)
[7]  GA 120, Seite 55f   (Ausgabe 1975, 230 Seiten)
[8]  GA 178, Seite 74   (Ausgabe 1980, 248 Seiten)

Quellen:

GA 109:  Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen. Ein Aspekt der geistigen Führung der Menschheit (1909)
GA 120:  Die Offenbarungen des Karma (1910)
GA 178:  Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen (1917)
GA 182:  Der Tod als Lebenswandlung (1917/1918)
GA 312:  Geisteswissenschaft und Medizin (1920)