Michaelkräfte

Durch die Vorbereitung der Menschen im 16. Jahrhundert durch Gabriel, ein neues Organ im Vorderhirn zu entwickeln, ist es möglich geworden, daß im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, nachdem Gabriel die Regierung wieder an Michael abgetreten, das, was wir die Theosophie nennen, einfließen konnte von den großen Meistern der Weisheit und des Zusammenklanges der Empfindungen, um der Menschheit die Bedeutung des Mysteriums von Golgatha in ihrer ganzen Wirkung allmählich nahe zu bringen. [1]

Wenn wir zu demjenigen Geiste emporschauen wollen, der es in dem Zeitalter der Zivilisation mit der Entwickelung der Wissenschaften, mit der Entfaltung der Künste und so weiter zu tun hat, dann schauen wir hinauf zu dem Archangeloiwesen, das nach christlichem Gebrauch mit dem Namen Michael bezeichnet wird. [2]

Das Sich-Aufschwingen dazu, daß man von den Gedanken über das Geistige so erfaßt werden kann wie durch irgend etwas Physisches in der Welt: das ist Michael-Kraft! Vertrauen haben zu den Gedanken des Geistigen, wenn man die Anlage dazu hat, sie überhaupt aufzunehmen, so daß man weiß: Du hast diesen oder jenen Impuls aus dem Geistigen. Du gibst dich ihm hin, du machst dich zum Werkzeug seiner Ausführung. Ein erster Mißerfolg kommt – macht nichts! Ein zweiter Mißerfolg kommt – macht nichts! Und wenn hundert Mißerfolge kommen – macht nichts! Denn kein Mißerfolg ist jemals ausschlaggebend für die Wahrheit eines geistigen Impulses, dessen Wirkung innerlich durchschaut und ergriffen ist. Wenn Sie sich dies im Gemüte des Menschen als das große Vertrauen für irgend etwas Geistiges ausgebildet denken, wenn Sie sich denken, daß der Mensch felsenfest halten kann an etwas, was er als ein geistig Siegendes durchschaut hat, so festhalten kann, daß er es auch dann nicht wegläßt, wenn die äußere Welt noch so sehr dagegen spricht, wenn Sie sich dies vorstellen, dann haben Sie eine Vorstellung von dem, was eigentlich die Michael-Kraft, die Michael-Wesenheit von dem Menschen will, denn dann erst haben Sie eine Anschauung von dem, was das große Vertrauen in den Geist ist. Man kann irgendeinen geistigen Impuls zurückstellen, selbst für die ganze Inkarnation zurückstellen, aber hat man ihn einmal gefaßt, so darf man niemals wanken, ihn in seinem Inneren zu hegen und zu pflegen, dann allein kann man ihn aufsparen für die folgende Inkarnation. Und wenn auf diese Weise das Vertrauen zu dem Geistigen eine solche Seelenverfassung begründet, daß man in die Lage kommt, dieses Geistige als so real zu empfinden wie den Boden unter unseren Füßen, von dem wir wissen, daß, wenn er nicht da wäre, wir mit unseren Füßen nicht auftreten könnten, dann haben wir ein Gefühl in unserem Gemüte von dem, was eigentlich Michael von uns will. Sie werden ohne Zweifel zugestehen, daß von diesem Vertrauen, von diesem aktiven Vertrauen in den Geist im Laufe der letzten Jahrhunderte, ja des letzten Jahrtausends der Menschheit unendlich viel dahingeschwunden ist, daß es eigentlich heute für die meisten Menschen so ist, daß gar nicht aus dem Leben die Zumutung an sie herantritt, ein solches Vertrauen zu entwickeln. Im Grunde genommen hat der Mensch die Brücke zur Michael-Kraft hinter sich abgebrochen.

Aber in der Welt hat sich mittlerweile manches ereignet. Der Mensch ist gewissermaßen von der Michael-Kraft abgefallen; der starre und straffe Materialismus des 19. Jahrhunderts ist ja ein Abfall von der Michaelkraft. Aber im Objektiven, im äußeren Geistigen hat die Michael-Kraft gesiegt. Dasjenige, was der Drache hat erreichen wollen, durch die menschliche Entwickelung hat erreichen wollen, das wird nicht erreicht werden. Aber das andere Große steht heute vor der menschlichen Seele, daß der Mensch aus eigenem, freiem Entschluß den Sieg des Michael über den Drachen wird mitmachen müssen. Das aber bedingt, daß der Mensch wirklich die Möglichkeit findet, aus jener Passivität des Verhältnisses zum Geistigen, in dem er heute so vielfach ist, herauszutreten und in ein aktives Verhältnis zum Geistigen zu kommen. Die Michael-Kräfte lassen sich nicht erringen – auch nicht durch das passive Gebet durch irgendeine Art von Passivität. Die Michael-Kräfte lassen sich einzig und allein dadurch erringen, daß der Mensch mit seinem liebevollen Willen sich zum Werkzeug für die göttlich-geistigen Kräfte macht. Denn die Michael-Kräfte wollen nicht, daß der Mensch zu ihnen fleht, sie wollen, daß der Mensch sich mit ihnen verbündet. Das kann der Mensch, wenn er mit innerer Energie die Lehren von der geistigen Welt aufnimmt. Der Mensch muß das Erlebnis des Geistigen wirklich haben können. Er muß dieses Erlebnis des Geistigen aus dem bloßen Gedanken, nicht etwa erst aus irgendeiner Hellsichtigkeit heraus, gewinnen können. [3]

Zwingen kann Michael die Menschen zu nichts. Denn der Zwang hat ja eben dadurch aufgehört, daß die Intelligenz ganz in den Bereich der menschlichen Individualität getreten ist. – Aber als eine majestätische vorbildliche Handlung, in der an die sichtbare zunächst angrenzenden übersinnlichen Welt, kann Michael entfalten, was er entfalten will. Mit einer Licht-Aura, mit einer Geistwesen-Geste kann da Michael sich zeigen, in der sich aller Glanz und alle Herrlichkeit der vergangenen Götter-Intelligenz offenbart. Zur Erscheinung kann er da bringen, wie die Wirkung dieser Vergangenheits-Intelligenz in der Gegenwart noch wahrer, schöner und tugendhafter ist als alles in unmittelbarer Gegenwarts-Intelligenz, das in trugvollem, verführerischem Glanz von Ahriman herströmt. Er kann bemerklich machen, wie für ihn Ahriman immer der niedrige Geist unter seinen Füßen sein wird. Diejenigen Menschen, welche die an die sichtbare Welt angrenzende nächste übersinnliche schauen, nehmen so, wie hier geschildert, Michael und die Seinen bei dem wahr, was sie für die Menschen tun möchten. Solche Menschen sehen, wie der Mensch in Freiheit durch das Bild Michaels in der Ahriman-Sphäre von Ahriman ab zu Christus geführt werden soll. [4]

Wir müssen den Aufblick zu Michael gewinnen, der uns zeigt, daß das, was auf der Erde materiell da ist, nicht bloß durch den Wärmetod durchgeht, sondern einmal wirklich zerstiebt, und daß wir imstande sind, durch Verbindung mit der geistigen Welt mit unseren moralischen Impulsen Leben zu pflanzen. Und da tritt ein die Umbildung dessen, was in der Erde ist, in das neue Leben, in das Moralische. Denn Realität der moralischen Weltordnung ist dasjenige, was der an uns herantretende Michael uns geben kann. Das können die alten Religionen nicht, denn sie haben sich vom Drachen besiegen lassen. Sie nehmen einfach den Drachen, der den Menschen ertötet, hin und begründen neben dem Drachen irgendeine besondere, abstrakt-moralische, göttliche Ordnung. Aber der Drache duldet so etwas nicht; der Drache muß besiegt werden. Denn was der Mensch braucht, ist die Kraft, die er aus der Besiegung des Drachens gewinnen kann. Die neuzeitliche Zivilisation hat uns gegeben, daß uns jede Wissenschaft eine Metamorphose des Drachens war, daß alle äußere Kultur auch ein Ergebnis des Drachens war. Gewiß, der äußere Weltmechanismus, der nicht nur in der Maschine, sondern auch in unserem ganzen sozialen Organismus lebt, ist mit Recht ein Drache. Aber der Drache tritt uns ja auch sonst überall da entgegen, wo die heutige Wissenschaft von dem Ursprunge des Lebens, von der Verwandlung der Lebewesen, von der menschlichen Seele zu uns spricht. Im intensivsten Grade real ist der Kampf des Michael mit dem Drachen erst in unserem Zeitalter geworden. Und wenn man in das geistige Gefüge der Welt eindringt, so findet man, daß gleichzeitig mit der Kulmination der Macht des Drachens auch das Eingreifen des Michael, mit dem wir uns verbinden können, um die Wende des 19., 20. Jahrhunderts eingetreten ist. Der Mensch kann, wenn er will, Geisteswissen-schaft haben, das heißt, Michael dringt wirklich aus den geistigen Reichen bis in unser Erdenreich herein, doch drängt er sich uns nicht auf, denn heute muß alles aus der Freiheit des Menschen entspringen. Der Drache aber drängt sich vor, er fordert die höchste Autorität. Es hat niemals in der Welt eine so mächtig auftretende Autorität gegeben wie diejenige, die heute von der Wissenschaft ausgeübt wird. Es gibt keine erdrückendere Autorität in der ganzen Menschheits-entwickelung als diejenige der heutigen Wissenschaft. Überall springt einem der Drache entgegen. [5]

Michael ist eine Wesenheit, die eigentlich nichts offenbart, wenn man ihr nicht aus emsiger geistiger Arbeit von der Erde aus etwas entgegenbringt. Michael ist ein schweigsamer Geist, ein durchaus verschlossener Geist, ein wenig redender Geist, der höchstens spärliche Direktiven gibt. Denn das, was man von Michael erfährt, ist eigentlich nicht das Wort, sondern – wenn ich mich so ausdrücken darf – der Blick, die Kraft des Blickes. Und das beruht darauf, daß eigentlich Michael sich am meisten zu tun macht mit demjenigen, was die Menschen aus dem Geistigen heraus schaffen. Er lebt in den Folgen des von den Menschen Geschaffenen. Die anderen Geister leben mehr mit den Ursachen, Michael lebt mehr mit den Folgen. Die anderen Geister impulsieren im Menschen dasjenige, was der Mensch tun soll. Michael wird der eigentlich geistige Held der Freiheit sein. Er läßt die Menschen tun, aber nimmt dann das, was aus Menschentaten wird, auf, um es weiter fortzutragen im Kosmos, um dasjenige, was Menschen damit noch nicht wirken können, weiterzuwirken im Kosmos. Wenn aber der Mensch aus seiner Freiheit heraus, angeregt durch das Lesen des Astrallichtes bewußt oder unbewußt dies oder jenes tut, so trägt Michael das, was menschliche Erdentat ist, in den Kosmos hinaus, daß es kosmische Tat wird. Er kümmert sich mehr um die Folgen, andere Geister mehr um die Ursachen. Aber Michael ist nicht nur ein verschlossener, schweigsamer Geist, Michael kommt, indem er an den Menschen herantritt, mit einer deutlichen Abweisung von vielem an den Menschen heran, in dem der Mensch heute noch auf Erden lebt. So zum Beispiel alles das, was sich im Menschen- oder im Tierleben oder im Pflanzenleben an Erkenntnissen bildet, die auf die vererbten Eigenschaften gehen, die auf dasjenige gehen, was sich in der physischen Natur forterbt, das ist so, daß es einem vorkommt: Michael stößt es abweisend von sich. Er will damit zeigen, daß solche Erkenntnisse dem Menschen für die geistige Welt nichts fruchten können. Und so ist es bei Michael, daß er eine strenge Abweisung für alles das hat, was zum Beispiel das Trennende der menschlichen Sprachen ist. Solange man seine Erkenntnisse in die Sprache nur einhüllt, sie nicht hinaufträgt in die Gedanken, so lange kommt man nicht in die Nähe des Michael. [6] Zu Michael kommt man nur, wenn man durch die Worte hindurch zu wahren inneren Geist-Erlebnissen kommt, wenn man nicht an den Worten hängt, sondern zu wahren inneren Geist-Erlebnissen kommt. Das ist ja in der Tat das Geheimnis der modernen Einweihung: über die Worte hinauszukommen zum Erleben des Geistigen. Das ist nichts, was gegen die Empfindung der Schönheit der Sprache verstößt. Denn gerade dann, wenn man nicht mehr in der Sprache denkt, dann fängt man an, die Sprache zu empfinden und als Empfindungselement in sich und von sich strömen zu haben. [7]

Die Michael-Kräfte wirken durchaus so, daß sie nicht nur kosmopolitisch wirken, sondern daß sie den Menschen herausreißen aus den engeren irdischen Zusammenhängen und ihn hinauftragen auf eine geistige Höhe, in der er die irdischen Zusammenhänge weniger stark fühlt als andere Menschen; wenigstens ist er durch sein Karma dazu vorbestimmt. [8]

Der Mensch ist dazu da, daß er den Geist, der nicht ohne ihn in dieser Welt ist, zum Inhalt dieser Welt mache. Der Christus ist selber auf die Welt gekommen. Nicht hat er den Menschen zu einem irdischen Leben in den Himmel genommen, sondern der Mensch muß sein irdisches Leben durchdringen mit einer Geistigkeit, die mitteilbar ist und die dem Menschen wiederum die Möglichkeit gibt, den Drachen zu besiegen. So etwas muß man gründlich verstehen, daß man sich selbst die Frage beantworten kann, warum sich die Menschen im 20. Jahrhundert zerfleischt haben; weil sie den Kampf auf ein Gebiet getragen haben, wo er nicht hingehört, weil sie den eigentlichen Feind, den Drachen, nicht gesehen haben. Zu seiner Besiegung gehören die Kräfte, die erst dann, wenn sie in der richtigen Weise entwickelt werden, auf die Erde den Frieden bringen werden. [9]

Zitate:

[1]  GA 264, Seite 226   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)
[2]  GA 240, Seite 164f   (Ausgabe 1986, 320 Seiten)
[3]  GA 223, Seite 117ff   (Ausgabe 1980, 168 Seiten)
[4]  GA 26, Seite 91f   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[5]  GA 217, Seite 189f   (Ausgabe 1988, 206 Seiten)
[6]  GA 233a, Seite 93ff   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[7]  GA 233a, Seite 96   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[8]  GA 237, Seite 140   (Ausgabe 1959, 186 Seiten)
[9]  GA 217, Seite 195f   (Ausgabe 1988, 206 Seiten)

Quellen:

GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 217:  Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation. Pädagogischer Jugendkurs (1922)
GA 223:  Der Jahreskreislauf als Atmungsvorgang der Erde und die vier großen Festeszeiten. Die Anthroposophie und das menschliche Gemüt (1923)
GA 233a:  Mysterienstätten des Mittelalters. Rosenkreuzertum und modernes Einweihungsprinzip - Das Osterfest als ein Stück Mysteriengeschichte der Menschheit (1924)
GA 237:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Dritter Band. Die karmischen Zusammenhänge der anthroposophischen Bewegung (1924)
GA 240:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Sechster Band (1924)
GA 264:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904 bis 1914. Briefe, Rundbriefe, Dokumente und Vorträge (1904-1914)