Kunst

Die Kunst ist doch das Ausleben des Geistes in sinnlich-physischen Formen. Die Wahrnehmung dieser Formen ist aber durch die Organisation der einzelnen Persönlichkeit bedingt, die innerhalb der einen Inkarnation lebt. Was über die Persönlichkeit in das Gebiet des Übersinnlichen hineinragt, wird nicht mehr unmittelbar in der Kunst zur Geltung kommen können. [1]

Das Künstlerische ist immer das Erscheinen des Übersinnlichen hier in unserer sinnlichen Welt. Und wir können solches an allen Künsten gewahr werden, wenn diese Künste in Formen uns vorliegen, in denen sie echt aus der Menschennatur heraus entsprungen sind. Man kann geistig nämlich nicht nur in Worten sein, man kann geistig auch in Formen, in Farben, in Tönen und so weiter sein. [2]

Die Zukunft der Menschheit wird schon die Möglichkeit finden, auch das künstlerische Material, die künstlerischen Mittel herbeischaffen, um für die äußere Welt zum Ausdruck zu bringen, was sonst nur in der Akasha-Chronik zu lesen sein kann. [3] Was lebt denn darinnen, in einer Sixtinischen Madonna, in einer Venus von Milo, für eine Kraft? Eine Kraft, die auch im Menschen ist, die nur nicht ganz der Erde angepaßt ist. Würde im Menschen alles nur der Erde angepaßt sein, so würde er auf keinem anderen Plane auch leben können. Er würde niemals zum Jupiter hinüberkommen, wenn im Menschen alles der Erde angepaßt wäre. Das sind geheimnisvolle Kräfte, die gerade einstmals dem Menschen den Schwung hinaus aus dem Erdendasein geben werden. Aber auch die Kunst als solche kann nur verstanden werden, wenn man sie in ihrer Aufgabe, über das bloß Irdische, über die bloße Erdenanpassung hinauszuweisen, erfaßt, wo das wirklich ist, was in der Venus von Milo ist. [4] Man spricht heute in der Kunst so gerne von Kompositionen, von Zusammenstellungen einzelner Glieder. Es ist schon ganz, ich möchte sagen, entschwunden, was Kunst in älteren Zeiten war, und was sie wieder werden muß: ein Herauserschaffen aus der Wahrheit der Dinge selber. [5]

Man muß die physische Welt physische Welt sein lassen und das Geistige da suchen, wo es ist, allerdings auch da, wo die physische Welt ist, aber eben in den Sphären, die die physische Welt durchdringen und die geistig sind. Aber hier liegt noch ein anderes Gebiet. Und der Mensch in seinem gesunden Zustande fühlt sich schon berufen, die Brücke zu schlagen zwischen dem einen und dem anderen Gebiete, zwischen dem Gebiete innerlichen Erlebens und äußerlichen Anschauens, zwischen der Welt, in der abnorm der Träumende ist, und der Welt, in der abnorm das Medium oder die Somnambule ist. Bringt man beide Welten zusammen, befruchtet sie gegenseitig, dann entsteht die Kunst. Denn in der Kunst wird dasjenige, was äußerlich sinnlich wahrnehmbar ist, durchgeistigt, mit den Impulsen der geistigen Welt durchsetzt; dasjenige, was innerlich seelisch wahrnehmbar ist, wird in einer äußerlichen Verkörperung dargestellt. [6] Das künstlerische Schaffen ist durchaus ein Hineintragen geistig-übersinnlicher Welten in die physisch-sinnliche Welt. Und nur weil den Menschen dasjenige preßt, was er aus dem vorgeburtlichen Leben in sich trägt, weil ihn im wachen Zustande preßt, was er aus dem übersinnlichen Leben während des Schlafes in sich trägt, weil ihn preßt, was jetzt schon in ihm ist und was ihn gestalten will nach dem Tode, stellt er Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Dichtkunst in die Welt des sinnlichen Erlebens hinein. [7]

Die Kunst ist wie ein Traum oder wie ein Schattenbild als Erinnerung an ein früheres Hellsehen und eine Prophetie für ein späteres Hellsehen der ganzen Menschheit. [8] Geistesgeschichtlich betrachtet, ist es von tiefer Bedeutsamkeit, daß in der Kunst für die Menschheit die erste Morgenröte erschienen ist für das Entgegenleben jener Zukunft, die der Menschheit winkt, wo alles, was sich der Mensch auf den verschiedenen Gebieten erobert hat, zusammenfließen wird in einer Allkultur, in einer Gesamtkultur. In gewisser Weise sind die Künste durchaus die Vorläufer der sich offenbarenden Geistigkeit in der sinnlichen Welt. [9] Wenn der Mensch lernen wird, wie sich im Äußeren das Innere ausdrückt, dann wird es wiederum eine Kultur geben. [10]

Bei der wirklichen, bei der wahren Kunst findet ein unbewußtes Heraufziehen der Dinge, die den alten Sonnentatsachen (was der Inspiration zugrunde liegt) angehören und die der Mensch als Erbgut bewahrt hat, statt. Wenn dieses tief in den verborgenen Untergründen der Seele Befindliche heraufgehoben wird in das bewußte Seelenleben, kann es da als künstlerische Inspiration dem Menschen bewußt werden. Wenn ich schon andeuten mußte, daß der Gedanke unter der Schwelle des Bewußtseins sehr verschieden ist von dem Gedanken, den wir haben, wenn wir aus den unterbewußten Gedanken durch die Erinnerung wieder etwas ins Bewußtsein heraufbringen, so muß betont werden, daß noch viel verschiedener, radikal verschieden dasjenige ist, was in Wahrheit in den Tiefen der Künstlerseele lebt, von dem, was dann in das Bewußtsein des Künstlers heraufsteigt. [11]

Wirkliche Dichtung, wirkliche Kunst ist ja allerdings nur ein Abglanz der übersinnlichen Wahrheit, aber eben ein Abglanz der übersinnlichen Wahrheit. [12] Allen älteren Weltanschauungen liegt eine bildhafte Erkenntnis des Geistigen zugrunde, die nicht bloß im Worte mitgeteilt wurde, sondern durch diejenigen Mittel, die allmählich zu unseren Kunstmitteln geworden sind. [13]

Dasjenige, was sich in unserer höheren Kunst ergibt, das hat Beziehung zu der Welt der Archai, der Zeitgeister. [14] Die Pyramide wird im Laufe der Jahrhunderte zugrunde gehen, aber die Idee, welche die Pyramide geschaffen hat, wird sich weiterentwickeln. Was heute die Kathedrale ist, wird ebenfalls eine andere Form annehmen. Der Grund, auf dem Raffael gemalt hat, wird zu Staub zerfallen; aber die Seele Raffaels und die Ideen, die seine Gemälde repräsentieren, werden immer lebendig sich weiter entwickelnde Kräfte sein. Die Kunst von heute wird die Natur von morgen sein und in ihr wieder aufblühen. So wird aus der Involution die Evolution. Hier liegt der Kreuzungspunkt des Göttlichen und Menschlichen und die doppelte Macht, die Gott zum Menschen führt und den Menschen zu Gott aufsteigen läßt. [15]

Der Mensch ist unter dem Einflusse desselben Irrwahns, der den göttlichen Mächten gewisse luziferische Eigenschaften beigelegt hat, heute geneigt, einseitig in der Darstellung des Schönen zum Beispiel ein Ideal zu sehen. Gewiss, man kann das Schöne als solches darstellen. Aber man muß sich bewußt sein: Würde man sich nur an das Schöne hingeben als Mensch, dann würde man in sich kultivieren diejenigen Kräfte, die in das luziferische Fahrwasser hineinführen. Denn in der wirklichen Welt ist ebensowenig, wie die einseitige Entwickelung – zu der die rückläufige gehört, zu der Evolution (gehört) die Devolution – einseitig vorhanden das bloße Schöne. Das bloße Schöne, verwendet von Luzifer, um die Menschen zu fesseln, zu blenden, würde gerade die Menschheit frei machen von der Erdentwickelung und sie nicht mit der Erdentwickelung zusammenhalten. In der Wirklichkeit haben wir, so wie mit einem Ineinanderspiel von Evolution und Devolution, es zu tun mit einem Ineinanderspielen, und zwar einem harten Kampfe der Schönheit gegen die Häßlichkeit. Und wollen wir Kunst wirklich fassen, so dürfen wir niemals vergessen, daß das letzte Künstlerische in der Welt das Ineinanderspielen, das Im-Kampfe-Zeigen des Schönen mit dem Häßlichen sein muß. Denn allein dadurch, daß wir hinblicken auf den Gleichgewichtszustand zwischen dem Schönen und dem Häßlichen, stehen wir in der Wirklichkeit darinnen, nicht einseitig in einer nicht zu uns gehörigen Wirklichkeit, die aber mit uns erstrebt wird in der luziferischen, in der ahrimanischen Wirklichkeit. [16]

Zitate:

[1]  GA 35, Seite 59f   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[2]  GA 276, Seite 117   (Ausgabe 1961, 160 Seiten)
[3]  GA 132, Seite 58   (Ausgabe 1979, 102 Seiten)
[4]  GA 170, Seite 157   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)
[5]  GA 162, Seite 26f   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[6]  GA 243, Seite 191   (Ausgabe 1983, 246 Seiten)
[7]  GA 271, Seite 200   (Ausgabe 1985, 192 Seiten)
[8]  GA 54, Seite 428   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)
[9]  GA 102, Seite 227   (Ausgabe 1974, 238 Seiten)
[10]  GA 102, Seite 228   (Ausgabe 1974, 238 Seiten)
[11]  GA 164, Seite 70f   (Ausgabe 1984, 286 Seiten)
[12]  GA 191, Seite 243   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[13]  GA 219, Seite 162   (Ausgabe 1966, 212 Seiten)
[14]  GA 196, Seite 208   (Ausgabe 1966, 305 Seiten)
[15]  GA 94, Seite 35f   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[16]  GA 194, Seite 56f   (Ausgabe 1983, 254 Seiten)

Quellen:

GA 35:  Philosophie und Anthroposophie (1904-1923)
GA 54:  Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906)
GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 102:  Das Hereinwirken geistiger Wesenheiten in den Menschen (1908)
GA 132:  Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen (1911)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 164:  Der Wert des Denkens für eine den Menschen befriedigende Erkenntnis. Das Verhältnis der Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft (1915)
GA 170:  Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte (1916)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 194:  Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens (1919)
GA 196:  Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung (1920)
GA 219:  Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen und des Menschen zur Sternenwelt. Die geistige Kommunion der Menschheit (1922)
GA 243:  Das Initiaten-Bewußtsein. Die wahren und die falschen Wege der geistigen Forschung (1924)
GA 271:  Kunst und Kunsterkenntnis. Grundlagen einer neuen Ästhetik (1888/1909)
GA 276:  Das Künstlerische in seiner Weltmission. Der Genius der Sprache. Die Welt des sich offenbarenden strahlenden Scheins – Anthroposophie und Kunst. Anthroposophie und Dichtung (1923)