Aristoteliker des Islam

Die griechischen Philosophen wurden vertrieben. Was sie von Aristoteles hatten, wurde nach Asien hinüber verschleppt. Sie fanden eine Stätte in Persien und führten dort die Akademie von Gondishapur (eine noch nicht ausgegrabene Stadt bei Dezful im Iran, wo römische Kriegsgefangene angesiedelt worden sind), diese Akademie war vor allen Dingen damit beschäftigt, die alte orientalische, schon in Dekadenz gekommene geistige Kultur mit dem Aristotelismus zu durchdringen, sie in einer ganz neuen Form zu gestalten. Was wiederum durch diese Akademie von Gondishapur, die sich mit riesiger Schnelligkeit in eine logische Gedankenform hineinentwickelte, gerettet worden ist, ist der Aristotelismus; der ist ja erst wiederum in seiner eigenen Gestalt erstanden. Die Christen hatten ihn ja nicht fortgepflanzt. In seiner eigenen Gestalt kam er auf dem Umwege durch Afrika, Spanien, Westeuropa in das lateinisch-kirchliche Leben hinein. [1] Die maurischen Städte wurden Stätten ernster, wissenschaftlicher Arbeit: wir sehen da eine Kultur, die jeder, er sie kennt, nur bewundern kann, von der ein Humboldt sagte: «Diese Weite, diese Intensität, diese Schärfe des Wissens ist ohne Beispiel in der Kulturgeschichte.» Diese maurischen Gelehrten sind voll Weitblick und Tiefsinn und haben nicht nur wie die Germanen die griechische Wissenschaft übernommen, sondern vorgebildet. Aristoteles lebte sich bei diesen fort, aber bei den Arabern der wahre Aristoteles als Vater der Wissenschaft, verehrt mit großem Weitblick. Es ist interessant zu sehen, wie das, was in Griechenland vorgebildet war, die alexandrinische Kultur, dort fortlebte, und damit haben wir eine der merkwürdigsten Strömungen im menschlichen Geistesleben berührt. Die Araber lieferten die Grundlagen zur objektiven Wissenschaft. Diese strömte zunächst von da aus ein in die angelsächsischen Klöster in England und Irland, wo das alte energische keltische Blut lebte. Eigentümlich war es zu sehen, was für ein reger Verkehr zwischen ihnen und Spanien eingeleitet wurde, und wie dort, wo Tiefsinn und Fähigkeit zum Denken vorhanden war, die Wissenschaft durch Vernittlung der Araber auflebte. [2]

Wenn man den Blick auf jene Persönlichkeiten hinwendet, die aus dem Arabismus, aus der Kultur Asiens heraus auf der einen Seite beeinflußt waren von dem, was im Mohammedanismus als Religion sich ausgelebt hat, auf der anderen Seite aber auch beeinflußt waren von dem Aristotelismus, wenn man auf diese Persönlichkeiten schaut, die dann den Weg herüber über Afrika nach Spanien gefunden haben, die dann tief bis zu Spinoza und über Spinoza hinaus die Geister Europas beeinflußt haben, dann gewinnt man über sie keine Anschauung, wenn man sich ihre Seelenverfassung so vorstellt, wie wenn sie einfach Menschen der Gegenwart gewesen wären, nur daß die so und so viele Dinge noch nicht gewußt haben, die später gefunden worden sind. Diese Persönlichkeiten dachten wohl: ich fühle, ich will, aber sie dachten durchaus nicht in demselben Maße: ich denke, sondern sie sagten sich – und das ist eine ganz reale Anschauung gewesen – Gedanken sind in der sublunarischen Sphäre, da leben die Gedanken. Und so wie wir sagen, in der Luft, in der wir atmen, ist Sauerstoff, so sagten diese Leute – es ist eben ganz vergessen worden, daß das so war –: in dem Äther, der bis zum Mond hinaufreicht sind Gedanken. Und sie waren sich dessen bewußt, daß sie die Gedanken aufnehmen. [3] Sie stellten sich das Aufnehmen der Gedanken, wie eine Art von Atmen vor. Sie halten die Gedanken, und zwar während der Zeit ihres Erdenlebens, und sie atmen sie wieder aus, hinaus in die Weltenweiten, wenn sie durch die Pforte des Todes gehen. Menschen, die so innerlich erlebten, fühlten sich mit allen anderen, die gleich erlebten, in einer gemeinschaftlichen Gedankenatmosphäre, die bis zum Mondenumkreis ging. Diese Menschen standen sozusagen im letzten Stadium der Entwickelung der Verstandes- oder Gemütsseele. [4] Was ist denn dieses Ausatmen? Ganz genau dasselbe wie das, von dem wir sagen: in den drei Tagen nach dem Tode vergrößert sich der Ätherleib des Menschen. Der Mensch sieht zurück auf den sich langsam vergrößernden Ätherleib, er sieht, wie sich seine Gedanken hinaus ausbreiten in den Kosmos. Sie empfanden den Kreislauf des Lebens tiefer, als er heute empfunden werden kann. Sie fühlten sich nicht in demselben Grade als Individualitäten, wie dies die Menschen im übrigen Europa anfingen zu fühlen, wenn auch in unklarer Weise. [5]

Dasjenige, was dann Avicenna und Averroesherübergebracht haben, was gewissermaßen der Aristoteles in Asien geworden war, das ringt mit dem Verständnis des menschlichen Ich, das auf eine ganz andere Art, durch die germanischen Völkerschaften von unten nach oben sich durchzuringen hat. In Asien wurde es als eine Mysterienweisheit wie eine Offenbarung von oben empfangen und es entstand jene Ansicht, welche in Europa so lange so schwerwiegende Disputationen hervorgerufen hat: daß das Ich des Menschen eigentlich nicht eine selbständige Wesenheit ist, sondern daß es im Grunde genommen mit dem göttlichen Allsein vereinigt ist. Das Ich wollte man ergreifen. Das Ich sollte sein in dem, was der Grieche angeschaut hat als leiblich-seelisch-geistige Wesenheit. Aber man konnte den Einklang nicht finden zwischen dem und nun auch noch dem Ich. Daher bei Avicenna die Vorstellung: Dasjenige, was individuelle Seele ist, entsteht mit der Geburt, es endet mit dem Tode. Aber das Ich konnte nicht in dieser Weise vergänglich sein. Daher sagte sich Avicenna: das Ich ist eigentlich in allen Menschen eines nur, und es ist im Grunde der eine Strahl der Gottheit, und es geht wiederum in die Gottheit zurück, wenn der Mensch stirbt. Das Ich ist real, aber es ist nicht individuell real. Es entstand ein pneumatischer Pantheismus. [6]

Zitate:

[1]  GA 325, Seite 58   (Ausgabe 1969, 173 Seiten)
[2]  GA 51, Seite 132   (Ausgabe 1983, 360 Seiten)
[3]  GA 237, Seite 16f   (Ausgabe 1959, 186 Seiten)
[4]  GA 237, Seite 18f   (Ausgabe 1959, 186 Seiten)
[5]  GA 237, Seite 20f   (Ausgabe 1959, 186 Seiten)
[6]  GA 204, Seite 309f   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)

Quellen:

GA 51:  Über Philosophie, Geschichte und Literatur. Darstellungen an der «Arbeiterbildungsschule» und der «Freien Hochschule» in Berlin (1901/1905)
GA 204:  Perspektiven der Menschheitsentwickelung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie (1921)
GA 237:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Dritter Band. Die karmischen Zusammenhänge der anthroposophischen Bewegung (1924)
GA 325:  Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum (1921)