Dreigliederung des Menschen

Wir haben es nicht mit Raumesabgrenzungen, sondern mit Funktionsabgrenzungen zu tun. Bei dieser Gliederung kommt es auf das Funktionelle an und nicht auf das räumlich Abzugrenzende. Man kommt dazu, deutlich die Unterschiede anzuschauen, welche bestehen zwischen dem Kopfsystem, also dem Nerven-Sinnessystem auf der einen Seite, dem Stoffwechsel-Gliedmaßensystem auf der anderen Seite und dem mittleren System, dem rhythmischen System, das im wesentlichen dazu berufen ist, den Ausgleich zwischen den beiden anderen Systemen zu bewirken. [1]

Das Kopfsystem des Menschen im Grunde genommen dasjenige in sich trägt, was, am meisten in der Kindheit, dann immer weniger, an Kräften plastizierend, gestaltend den ganzen menschlichen Organismus durchdringt, durchkraftet. Dasjenige, was dadrinnen wirkt als die dirigierenden Gedanken, hat sich eigentlich der Mensch mit seinen Anlagen durch die Geburt oder Empfängnis mit in die Welt gebracht. Das ist so weit gekommen, daß es darauf hinorganisiert ist, den Menschen zu gestalten. Würde der Kopf nicht mit der Außenwelt in Berührung treten, würde dadurch nicht der Rhythmus im Menschen gestört werden, dann wäre, wenn ich mich so ausdrücken darf, dasjenige, was da im Kopfe durch die Geburt angekommen ist, mit der materiellen Organisation des Menschen zufrieden. Der Mensch würde in seine materielle Organisation ausfließen. Die würde ihn ganz in Anspruch nehmen, in der würde er ganz aufgehen, und er würde nicht den Anschluß finden an die übersinnlich-geistige Welt. Sein Inneres würde immer künstlicher und künstlicher werden, aber er würde getrennt werden von der geistigen Welt. Und wiederum, wenn der Mensch durch sein Gliedmaßen-Stoffwechselsystem nicht zusammenhängen würde mit der äußeren Welt, würde er die Erwärmung, die Durchglühung desjenigen, was vom Kopfsystem aus immer vollkommener und vollkommener, künstlicher und künstlicher sein würde, nicht erreichen. Das sind zwei polarische Gegensätze, Der Kopf schließt uns eigentlich fortwährend aus von der geistigen Welt, weil er unseren Leib so gestaltet, daß wir aus diesem Leibe heraus kein rechtes Verhältnis zur geistigen Welt gewinnen können; denn der Kopf mit seinem Inhalte hat im vorgeburtlichen Dasein seine Entwickelung abgeschlossen, und dasjenige, was der Kopf an uns materialisiert, das wird fortwährend entmaterialisiert durch dasjenige, was in den Kräften des Stoffwechsel-Gliedmaßenmenschen liegt. Dadurch wird in unserem materiellen System das Gleichgewicht hervorgerufen. Und dazwischen liegt dasjenige drinnen, was wie ein in sich selbst gebautes System ist, das rhythmische System, das Atmungssystem, das Zirkulationssystem, wie eine abgeschlossene Welt in sich, wie ein wirklicher Mikrokosmos, das aber dessen bedarf, daß der Kopf nicht etwa im Extrem so wirkt, wie das unter gewissen Voraussetzungen geschehen kann, wo dann die Lunge mit allerlei unrichtigen Organisationsprinzipien durchzogen wird. Das verspüren wir dann in den Verhärtungen der Lunge, in den Neubildungen der Lunge bei lungenkranken Leuten. [2]

Die körperlichen Gegenstücke zum Seelischen des Vorstellens hat man in den Vorgängen des Nervensystems mit ihrem Auslaufen in die Sinnesorgane einerseits und die leibliche Innenorganisation andrerseits zu sehen. Das Fühlen muß man in Beziehung bringen zu demjenigen Lebensrhythmus, der in der Atmungstätigkeit seine Mitte hat und mit ihr zusammenhängt. Man hat dabei zu berücksichtigen, daß man zu dem angestrebten Ziele den Atmungsrhythmus mit allem, was mit ihm zusammenhängt, bis in die äußersten peripherischen Teile der Organisation verfolgen muß. Die Seele erlebt fühlend, indem sie sich dabei ähnlich auf den Atmungsrhythmus stützt wie im Vorstellen auf die Nervenvorgänge. – Und bezüglich des Wollens findet man, daß dieses sich in ähnlicher Art stützt auf Stoffwechselvorgänge. Nun ist in der Seele ein vollbewußtes waches Erleben nur für das vom Nervensystem vermittelte Vorstellen vorhanden. Was durch den Atmungsrhythmus vermittelt wird, das lebt im gewöhnlichen Bewußtsein in jener Stärke, welche die Traumvorstellungen haben. Dazu gehört alles Gefühlsartige, auch alle Affekte, alle Leidenschaften und so weiter. Das Wollen, das auf Stoffwechselvorgänge gestützt ist, wird in keinem höheren Grade bewußt erlebt als in jenem ganz dumpfen, der im Schlafe vorhanden ist. [3]

Die Seele bereitet sich schon vor der Empfängnis aus geistigen Untergründen heraus jene wunderbare Bildung des Hauptes, die da vorliegt als Bildung des menschlichen Seelenlebens. Für den Geistesforscher ist gerade dieser wunderbare Bau des menschlichen Nervensystems, der ein Abbild ist des menschlichen Seelenlebens, zugleich die Bewahrheitung, daß die Seele aus dem Geistigen herauskommt, und daß im Geistigen die Kräfte liegen, die das Gehirn zu einem Gemälde des Seelenlebens machen. Soll ich nun einen Ausdruck gebrauchen für den Zusammenhang des Gefühlslebens mit dem Atmungsleben, der ähnlich charakterisieren würde, wie der Ausdruck «das Nervenleben – ein Bild, ein Gemälde des Seelenlebens, des Vorstellungslebens», so möchte ich nennen das Atmungsleben und alles, was dazugehört, einen Abdruck des seelisch-geistigen Lebens, den ich vergleichen möchte mit der Bilderschrift. Das Nervensystem ist so gebaut, daß die Seele sich nur sich selber zu überlassen braucht, um aus dem Gemälde herauszufinden, was sie in sich nunmehr erleben will. Bei der Bilderschrift muß man schon deuten. [4] Wir haben es beim Willen zu tun mit etwas, was sich leiblich im Stoffwechsel ausdrückt. Und so kann ich den Stoffwechselorganismus vergleichen mit einer bloßen Zeichenschrift. [5] Die Seele bereitet in dem, was sie im Stoffwechsel vollführt, indem sie sozusagen sich am Stoffwechsel zurechtrückt, dasjenige vor, was sie dann durch die Pforte des Todes hinüberträgt in die geistige Welt für das fernere Leben im geistigen Reiche nach dem Tode. [6]

Weil sich ein System in das andere hineinschiebt, die Systeme nicht räumlich nebeneinander liegen, sondern ineinander übergehen, sich ineinander erstrecken, wird die Betrachtung besonders schwierig. [7]

Die Kopforganisation, äußerlich angeschaut, ist zunächst im Kopfe zentriert. Aber sie sendet in den ganzen übrigen Menschen hinein die Ausläufer, die notwendig sind; denn das Sinnesvermögen ist ja im ganzen Menschen drin. Das heißt: der Mensch ist als Hauptesmensch nur der Hauptsache nach Nerven-Sinnesmensch; der ganze Mensch ist Nerven-Sinnesmensch. Selbstverständlich ist auch im Haupte, auch in der Brust, der Stoffwechsel vorhanden, aber reguliert wird er von dem Gliedmaßensystem. [8] Wenn Sie die Augen bewegen, sind die Augen Gliedmaßen. Also nicht nebeneinander stehen diese Systeme räumlich, sondern sie sind ineinander gegliedert (und funktionell differenziert). [9]

Es ist nun sehr wichtig, daß man sich klarmacht, daß eigentlich in jedem der drei menschlichen Systeme Denken, Fühlen und Wollen enthalten sind. Im Kopfsystem, im Denksystem ist durchaus auch Fühlleben und Willensleben vorhanden, nur sind diese viel schwächer entwickelt als das Vorstellungsleben. Ebenso sind Gedanken in der Gefühlssphäre vorhanden, traumhaft nur uns zum Bewußtsein kommend, schwächer eben als in der Kopfsphäre. Was aber gewöhnlich nicht berücksichtigt wird in unserer Zeit abstrakter Wissenschaftlichkeit, das ist, daß diese unterbewußten Glieder der menschlichen Wesenheit in demselben Maße objektiver sind, als sie uns subjektiv weniger zum Bewußtsein kommen. Das heißt, dasjenige, was wir durch unser Vorstellungsleben, durch unser Hauptes- oder Kopfesleben haben, das sind Vorgänge, die verhältnismäßig in uns vorgehen. Dasjenige aber, was wir durch unser rhythmisches System, durch unser Brustsystem erleben, was in unserer Gefühlssphäre vor sich geht, das ist keineswegs bloß unser individuelles Eigentum, das ist etwas, was zu gleicher Zeit in uns vorgeht, aber objektive Weltvorgänge darstellt. [10] Während wir das Haupt beziehen auf den Pol des Kosmos, beziehen wir dasjenige, was in der Brustbildung des Menschen gestaltet ist, was da durchaus in der sich wiederholenden Äquatorlinie verläuft, auf dasjenige, was im Sonnenumkreis des Jahres oder der Tage sich in der verschiedensten Weise vollzieht. Und erst wenn wir zum Gliedmaßensystem des Menschen gehen, besonders dem unteren Gliedmaßensystem, dann bekommen wir das Gefühl, das hängt zusammen mit der Schwerkraft der Erde. [11]

Wenn wir den dreigliedrigen Menschen ins Auge fassen, so haben wir zunächst das Geistige des Menschen in der Sinnes-Nervensphäre. Dann haben wir das Mittlere in der rhythmischen Sphäre, das Untere in dem Stoffwechsel. Im Stoffwechsel ist eigentlich der Abdruck des Höchsten, des Geistigen. Der Stoffwechsel entspricht daher, wenn wir das Geistige sehen, der Intuition, das Rhythmische entspricht der Inspiration, und das Nerven-Sinnesleben entspricht der Imagination. [12] Beim menschlichen Haupte haben wir eine realisierte imaginative Welt, darunter verborgen eine realisierte inspirierte Welt mit Bezug auf den Rhythmus im Haupte. Darunter aber ist auch im Kopfe der Stoffwechsel, also das realisierte Intuitive. Im menschlichen rhythmischen System fällt das Imaginative weg, da ist nur die Realisierung des Inspirierten und Intuitiven. Und im Stoffwechselsystem fällt auch die Inspiration weg, da haben wir es nur mit der Realisierung einer Weltintuition zu tun. [13]

Für die nach Bequemlichkeit drängenden Gedanken der Gegenwart ist eine solche Sache deshalb schwer einzusehen, weil die Menschen heute alles hübsch, fast räumlich, abgeteilt wissen möchten. Wenn man spricht von Hauptesorganisation und von der Organisation des übrigen Menschen, dann stellen sich die Leute am liebsten vor: das Haupt bis hier zum Hals, und dann der übrige Mensch. So sind die Dinge natürlich nicht gemeint, sondern es handelt sich darum, daß in einer gewissen Beziehung wiederum der ganze Mensch Haupt ist, nur kommt das Hauptsein, das Kopfsein, am Kopfe am deutlichsten zum Ausdrucke. Die Sinne sind gewissermaßen über den ganzen Menschen verteilt; aber insofern sie über den ganzen Menschen verteilt sind, rechnen wir sie zur Hauptesorganisation, weil diejenigen Sinne, die im Haupte lokalisiert sind, die am weitesten fortgeschrittenen Sinne sind. [14]

Zitate:

[1]  GA 314, Seite 40f   (Ausgabe 1975, 328 Seiten)
[2]  GA 303, Seite 202f   (Ausgabe 1978, 368 Seiten)
[3]  GA 21, Seite 151ff   (Ausgabe 1960, 182 Seiten)
[4]  GA 66, Seite 133f   (Ausgabe 1961, 269 Seiten)
[5]  GA 66, Seite 139   (Ausgabe 1961, 269 Seiten)
[6]  GA 66, Seite 140   (Ausgabe 1961, 269 Seiten)
[7]  GA 73, Seite 145   (Ausgabe 1973, 398 Seiten)
[8]  GA 192, Seite 326   (Ausgabe 1964, 403 Seiten)
[9]  GA 319, Seite 14   (Ausgabe 1982, 256 Seiten)
[10]  GA 194, Seite 121   (Ausgabe 1983, 254 Seiten)
[11]  GA 82, Seite 57f   (Ausgabe 1994, 264 Seiten)
[12]  GA 188, Seite 172f   (Ausgabe 1982, 262 Seiten)
[13]  GA 204, Seite 43   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)
[14]  GA 196, Seite 38   (Ausgabe 1966, 305 Seiten)

Quellen:

GA 21:  Von Seelenrätseln (1917)
GA 66:  Geist und Stoff, Leben und Tod (1917)
GA 73:  Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie (1917/1918)
GA 82:  Damit der Mensch ganz Mensch werde. Die Bedeutung der Anthroposophie im Geistesleben der Gegenwart (1922)
GA 188:  Der Goetheanismus, ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke. Menschenwissenschaft und Sozialwissenschaft (1919)
GA 192:  Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen (1919)
GA 194:  Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens (1919)
GA 196:  Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung (1920)
GA 204:  Perspektiven der Menschheitsentwickelung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie (1921)
GA 303:  Die gesunde Entwickelung des Menschenwesens. Eine Einführung in die anthroposophische Pädagogik und Didaktik (1921/1922)
GA 314:  Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. Zur Therapie und Hygiene (1920/1924)
GA 319:  Anthroposophische Menschenerkenntnis und Medizin (1923/1924)