Sophia

Wenn Sie die Lehren der Templer (siehe: Tempelritter) verfolgen, so ist da etwas im Mittelpunkte, was als etwas Weibliches verehrt wurde; dieses Weibliche nannte man die göttliche Sophia, die göttliche Weisheit. Dante hat mit seiner Beatrice nichts anderes als diese Weisheit zur Darstellung bringen wollen. Nur der versteht Dantes «Göttliche Komödie», der sie von dieser Seite betrachtet. [1]

Es gab einst eine Zeit, in der der Mensch stärker wahrnahm das Heraufströmen des Atmens in sein Haupt. Von denjenigen Menschen, die noch eine Spur von Bewußtsein hatten, daß einmal das Atmen das Geistig-Seelische der Welt in den Menschen hereinführte, wurde das, was da nun blieb, was sich festsetzte aus der Sinneswahrnehmung im Zusammenhang mit dem Atmen, «Sophia» genannt. Aber das Atmen nahm man nicht mehr wahr. Also der geistige Atmensinhalt wurde abgetötet, besser gesagt, abgelähmt durch die Sinneswahrnehmung. [2]

Die christliche Esoterik nannte den gereinigten, geläuterten astralischen Leib, der in dem Augenblick, wo er der Erleuchtung unterworfen ist, nichts von den unreinen Eindrücken der physischen Welt in sich enthält, sondern nur die Erkenntnisorgane der geistigen Welt: die «reine, keusche, weise Jungfrau Sophia». Durch alles das, was der Mensch aufnimmt in der Katharsis, reinigt und läutert er seinen astralischen Leib zur «Jungfrau Sophia». Und ihr kommt entgegen das kosmische Ich, das Welten-Ich, das die Erleuchtung bewirkt, das also macht, daß der Mensch Licht um sich herum hat, geistiges Licht. Dieses Zweite, das zur «Jungfrau Sophia» hinzukommt, nannte die christliche Esoterik – und nennt es auch heute noch – den «Heiligen Geist». [3]

Der Schreiber des Johannes-Evangeliums hat sich die äußere geschichtliche Mutter des Jesus auf ihre hervorstechendsten Eigenschaften hin angesehen und hat nun gesagt: Wo finde ich einen Namen für sie, der ihr Wesen am vollkommensten ausdrückt? Und weil sie durch die früheren Inkarnationen, die sie durchgemacht hatte, bis zu der geistigen Höhe gekommen war, auf der sie stand, weil sie in ihrer äußeren Persönlichkeit gleichsam als ein Abdruck, als eine Offenbarung erschien dessen, was man in der christlichen Esoterik nennt die «Jungfrau Sophia», so nannte er die Mutter des Jesus die «Jungfrau Sophia». [4]

Nicht dadurch, daß von außen allein etwas eintritt, wird der Christus im Laufe des 20. Jahrhunderts wieder erscheinen in seiner Geistgestalt, sondern dadurch, daß die Menschen jene Kraft finden, die durch die heilige Sophia repräsentiert wird. [5]

Zitate:

[1]  GA 93, Seite 152   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[2]  GA 211, Seite 66   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)
[3]  GA 103, Seite 206   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[4]  GA 103, Seite 208   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[5]  GA 202, Seite 241   (Ausgabe 1980, 296 Seiten)

Quellen:

GA 93:  Die Tempellegende und die Goldene Legende als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906)
GA 103:  Das Johannes-Evangelium (1908)
GA 202:  Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen. Die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia (1920)
GA 211:  Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum (1922)