Michaelzeitalter

Indem wir heute im Michaelzeitalter leben, haben wir alle Veranlassung, uns des letzten Michaelzeitalters zu erinnern, welches einmal in der Führung der Menschheit da war, es schließt etwa ab im Altertum mit den Taten des Alexander, mit der Begründung der Philosophie des Aristoteles. Ein solches Michaelzeitalter charakterisiert sich durch die verschiedensten Verhältnisse, insbesondere aber dadurch, daß in einem solchen Michaelzeitalter die geistigen Interessen der Menschheit je nach der besonderen Veranlagung, die ein solches Zeitalter hat, tonangebend werden. Namentlich wird es so sein, daß in einem solchen Zeitalter ein kosmopolitischer Zug durch die Welt geht. Die nationalen Unterscheidungen hören auf. Gerade im Zeitalter des Gabriel begründeten sich innerhalb der europäischen Zivilisation und ihres amerikanischen Anhanges die nationalen Impulse. In unserem Michaelzeitalter werden sie im Laufe von drei Jahrhunderten vollständig überwunden werden. [1] Jedesmal, wenn eine Michaelzeit da war, geschah auch auf Erden dieses, daß die Intelligenz als Mittel zur Erkenntnis nicht nur kosmopolitisch wurde, sondern so wurde, daß die Menschen sich durchdrangen mit dem Bewußtsein: Wir können doch zur Gottheit hinauf. Dieses Bewußtsein spielte eine ungeheuer große Rolle am Ende der letzten Michaelzeit. Da waren, von Griechenland ausgehend, überall die Stätten der alten Mysterien so, daß über sie hingezogen war die Atmosphäre der Entmutigung. Entmutigt waren diejenigen, die in Unteritalien, in Sizilien die Nachfolger der alten pythagoreischen Schule waren, weil der Zauberglanz, der einmal im 6. Jahrhundert über der pythagoreischen Schule gewaltet hatte, verglommen war. Wiederum wurde – auch von den in die pythagoreischen Mysterien Eingeweihten – gesehen, wie das Illusionäre, das materialistisch Illusionäre sich über die Welt hin verbreitet. Entmutigt waren die Töchter und Söhne der alten ägyptischen Mysterien. Oh, diese ägyptischen Mysterien, sie waren schon zur Alexanderzeit so entmutigt, daß sie, ich möchte sagen, nur noch wie Schlacken alter wunderbarer Metallflüsse fortpflanzten solche tiefen Lehren, wie sie sich zum Ausdrucke brachten in der Osiris-Sage oder in dem Heraufschauen zu dem Serapis (Allgott). Drüben in Asien, wo waren jene mutigen, gewaltigen Erhebungen in die geistige Welt, wie sie etwa ausgingen von den Diana (griech. Artemis)-Mysterien in Ephesus? Selbst die Samothrakischen Mysterien, die Weisheit der Kabiren, sie konnte nurmehr von denjenigen, die in sich selber den Impuls zum Aufschwunge, zum Großen trugen, entziffert werden; nur von denen, die so in ihrer Seele geartet waren, konnten noch die Rauchwolken, die aufstiegen aus Axieros und den anderen Kabiren, entziffert werden (siehe: Mysterien). Entmutigung war überall eingetreten ein Empfinden, möchte ich sagen, desjenigen, was man in den alten Mysterien versuchte zu überwinden, indem man sich an das Geheimnis des Sonnen-Mysteriums wandte, das eigentlich das Geheimnis des Michael ist – überall ein Empfinden: der Mensch kann nicht. Diese Michaelzeit war eine Zeit der großen Prüfung. Plato war im Grunde genommen nur noch eine Art von wässerigem Extrakt des alten Mysterienwesens. Aus diesem Extrakt wurde dann das Intellektuellste durch den Aristotelismus geholt, und Alexander nahm es auf seine Schultern. Das war damals das Michael-Wort: Der Mensch muß zur Pan-Intelligenz kommen, zur Erfassung des Göttlichen auf der Erde in sündloser Form. Es muß verbreitet werden überallhin das Beste, was gewonnen worden ist, über die entmutigten Mysterienstätten hin, mit dem Mittelpunkte in Alexandrien. Das war der Impuls des Michael. Und dies ist eben das Verhältnis des Michael zu den anderen Archangeloi: daß er in der stärksten Weise protestierte gegen den Fall der Menschen. Das ist aber auch dasjenige, was der wichtigste Inhalt seiner Lehre ist, wie er sie in jener übersinnlichen Lehrschule (siehe: Michael-Schule), den Seinigen beigebracht hat. Dieser wichtigste Inhalt ist der: Wenn nun die Intelligenz unter den Menschen sein wird, wenn nun die Intelligenz, entfallen dem Schoße der Michaeliten, unten auf der Erde sein wird, dann müssen die Menschen in diesem Michaelischen Zeitalter spüren, müssen empfinden, daß sie sich da zu retten haben, weil die Intelligenz nicht befallen werden darf von der Sündhaftigkeit, weil dieses Zeitalter der Intelligenz benutzt werden muß, um in reiner Intelligenz, frei von der Illusion, zum spirituellen Leben aufzusteigen. Von Ahriman werden schon die allerstärksten Anstrengungen nun gemacht, diese unter die Menschen geratene Intelligenz sich anzueignen, die Menschen von sich besessen zu machen, so daß Ahriman in den Menschenköpfen die Intelligenz besitzen würde. [2]

Ahriman In Ahriman steht eine Welten­wesenheit vor uns von denkbar höchster Intelligenz, eine Weltenwesenheit, die schon ganz ins Individuelle herein­genommen hat die Intelligenz. Ahriman ist nach jeder Richtung hin im hohen Grade überintelligent; eine blendende Intelligenz beherrscht er, die aus dem ganzen menschlichen Wesen kommt –, nur nicht aus demjenigen Teil des menschlichen Wesens, das sich gerade in der menschlichen Stirne menschlich formt. Würden wir Ahriman in menschlicher Imagination nachbilden, so müßten wir ihm eine zurücklaufende Stirn geben und einen frivol-zynischen Ausdruck, weil alles bei ihm aus diesen niederen Kräften kommt, aber daraus kommt eben die höchste Intelligenz. Jedes Ahriman-Wesen ist persönlich überintelligent; kritisch in der Ablehnung alles Unlogischen, spottend, verächtlich denkend. Für den Menschen ist nur stets die Versuchung da, die Intelligenz nach dem Musterbilde des Ahriman auch persönlich zu machen. [3]

Bis zum 9. Jahrhundert stand der Mensch anders zu seinen Gedanken als später. Er hatte nicht die Empfindung, daß er die in seiner Seele lebenden Gedanken selbst hervorbringe. Er betrachtete sie als Eingebungen einer geistigen Welt. Auch wenn er über das Gedanken hatte, was er mit seinen Sinnen wahrnahm, waren ihm die Gedanken Offenbarungen des Göttlichen, das aus den Sinnesdingen zu ihm sprach. Wer geistige Schauungen hat, begreift diese Empfindung. Denn, wenn ein geistig Wirkliches sich der Seele mitteilt, so hat man niemals das Gefühl, da ist die geistige Wahrnehmung, und man formt selber den Gedanken, um die Wahrnehmung zu begreifen; sondern man schaut den Gedanken, der in der Wahrnehmung enthalten und mit ihr gegeben ist, so objektiv wie sie selbst. Mit dem 9. Jahrhundert – selbstverständlich sind solche Angaben so zu nehmen, daß sie eine mittlere Zeitangabe bilden; der Übergang geschieht ganz allmählich – leuchtete in den Menschenseelen die persönlich-individuelle Intelligenz auf. Der Mensch bekam das Gefühl: ich bilde die Gedanken. Und dieses Bilden der Gedanken wurde das Überragende im Seelenleben, so daß die Denkenden das Wesen der Menschenseele im intelligenten Verhalten sahen. Vorher hatte man von der Seele eine imaginative Vorstellung. Man sah ihr Wesen nicht im Gedankenbilden, sondern in ihrem Teilhaben an dem geistigen Inhalt der Welt. Die übersinnlichen geistigen Wesen dachte man denkend; und sie wirken in den Menschen hinein; sie denken auch in ihn hinein. Was so von der übersinnlichen geistigen Welt im Menschen lebt, das empfand man als Seele. Innerhalb der Menschheit wurde nunmehr das Gedankenleben ausgebildet. Man war zunächst unsicher, was man an den Gedanken hatte. Diese Unsicherheit lebte in den scholastischen Lehren. Die Scholastiker zerfielen in Realisten und Nominalisten. Die Realisten – deren Führer Thomas von Aquino und die ihm Nahestehenden waren – fühlten noch die alte Zusammengehörigkeit von Gedanke und Ding. Sie sahen daher in den Gedanken ein Wirkliches, das in den Dingen lebt. Die Gedanken des Menschen sahen sie als etwas an, das als Wirklichkeit aus den Dingen in die Seele hinüberfließt. – Die Nominalisten fühlten stark den Tatbestand, daß die Seele ihre Gedanken bildet. Sie empfanden die Gedanken nur als etwas Subjektives, das in der Seele lebt und das mit den Dingen nichts zu tun hat (Weiteres siehe: Universalienstreit). [4] Man kann sagen: Die Realisten wollten Michael die Treue bewahren; auch da die Gedanken aus seinem Bereich in den der Menschen gefallen waren, wollten sie als Denker dem Michael dienen als dem Fürsten der Intelligenz des Kosmos. – Die Nominalisten vollzogen in ihrem unbewußten Seelenteil den Abfall von Michael. Sie betrachteten nicht Michael, sondern den Menschen als den Eigentümer der Gedanken.

Der Nominalismus gewann an Verbreitung und Einfluß. Das konnte so fortgehen bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts. In diesem Zeitalter empfanden diejenigen Menschen, die sich auf die Wahrnehmung der geistigen Geschehnisse innerhalb des Weltalls verstehen, daß Michael dem Strom des intellektuellen Lebens nachgezogen war. Er sucht nach einer neuen Metamorphose seiner kosmischen Aufgabe. Er ließ vorher von der geistigen Außenwelt her die Gedanken in die Seelen der Menschen strömen; vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an will er in den Menschenseelen leben, in denen die Gedanken gebildet werden. Vorher sahen die Michael verwandten Menschen Michael im Geistbereich seine Tätigkeit entfalten; jetzt erkennen sie, daß sie Michael im Herzen wohnen lassen sollen; jetzt weihen sie ihm ihr gedankengetragenes geistiges Leben; jetzt lassen sie sich im freien, individuellen Gedankenleben von Michael darüber belehren, welches die rechten Wege der Seele sind. Menschen, die im vorangehenden Erdenleben in inspiriertem Gedankenwesen gestanden haben, also Michaeldiener waren, fühlten sich, am Ende des 19. Jahrhunderts wieder ins Erdenleben gekommen, zu solcher freiwilligen Michaelgemeinschaft gedrängt. Sie betrachteten ihren alten Gedankeninspirator nunmehr als den Weiser im höheren Gedankenwesen. Vorher konnte der Mensch nur fühlen, wie aus seinem Wesen heraus die Gedanken sich formten, seit der neuen Michaelzeit kann er sich über sein Wesen erheben; er kann den Sinn ins Geistige lenken; da tritt ihm Michael entgegen, und der erweist sich als altververwandt mit allem Gedankenweben. Er befreit die Gedanken aus dem Bereich des Kopfes; er macht ihnen den Weg zum Herzen frei, löst die Begeisterung aus dem Gemüte los, so daß der Mensch in seelischer Hingabe leben kann an alles, was sich im Gedankenlicht erfahren läßt. Das Michaelzeitalter ist angebrochen. Die Herzen beginnen, Gedanken zu haben; die Begeisterung entströmt nicht mehr bloß mystischem Dunkel, sondern gedankengetragener Seelenklarheit. Dies verstehen, heißt, Michael in sein Gemüt aufnehmen. Gedanken, die heute nach dem Erfassen des Geistigen trachten, müssen Herzen entstammen, die für Michael als den feurigen Gedankenfürsten des Weltalls schlagen. [5]

In dem Zeitalter, in das wir als Menschen eingetreten sind, in dem sind es vorzugsweise die von der Sonne kommenden spirituellen Kräfte, die in allem, im physischen Leben der Menschen, im seelischen Leben der Menschen, im wissenschaftlichen Leben der Menschen, im künstlerischen Leben, im religiösen Leben herrschend werden müssen. Was der Welt die Sonne zu sagen hat, was in der Welt die Sonne zu tun hat, das muß in unserem Zeitalter immer weiter und weiter um sich greifen. Die Sonne ist für denjenigen, der wirklich erkennt, nicht der physische Gasball, als den ihn die heutige Physik beschreibt, sondern eine Summe von geistigen Wesen. Und die hauptsächlichsten geistigen Wesenheiten, die von der Sonne aus sozusagen das Geistige, das Spirituelle ausstrahlen, wie physisch das Sonnenlicht oder ätherisch das Sonnenlicht strahlt, die gruppieren sich alle um ein gewisses Wesen, das wir nach einer alten christlich-heidnischen, christlich-jüdischen Benennung können wir auch sagen, als das Michael-Wesen bezeichnen können. Michael wirkt aus der Sonne. Und das, was geistig die Sonne der Welt zu geben hat, kann man auch dasjenige nennen, was Michael mit den Seinigen der Welt zu geben hat. [6]

Während das Gabriel-Wesen (Vorgänger des Michael) mehr ein Wesen ist, das auf die passiven Eigenschaften der Menschen orientiert ist, ist Michael das aktive Wesen, dasjenige Wesen, das gewissermaßen unseren Atem, unsere Adern, unsere Nerven durchpulst, auf daß wir unser Menschheitliches im kosmischen Zusammenhang erarbeiten, aktiv erwerben. Das ist es, was gewissermaßen als eine Aufforderung des Michael vor uns steht, daß wir bis in unsere Gedanken hinein aktiv werden, so daß wir uns unsere Weltanschauung durch innerliche Aktivität als Menschen erarbeiten. Dadurch erst gehören wir dem Michael-Zeitalter an, daß wir uns nicht untätig hinsetzen und über uns kommen lassen wollen die äußeren und inneren Erleuchtungen, sondern daß wir aktiv mitarbeiten an dem, was sich uns an Beobachtungen, an Erlebnissen aus der Welt darbietet. [7]

Wenn einer ein Experiment zusammenstellt, so ist das im Grunde genommen keine Tätigkeit, nicht eine Tätigkeit seines Geistes, sondern es ist ein Geschehen wie ein anderes Naturgeschehen, nur daß es von dem menschlichen Verstande orientiert ist. Aber vom Verstande ist auch alles Naturgeschehen orientiert worden. Aber wie benützt der Mensch heute für sein Vorstellen das Experiment? Nicht mit Aktivität, denn er guckt hin und will so wenig wie möglich aktiv sein, er will sich alles von dem Experiment sagen lassen, er findet alles gleich phantastisch, was aus innerer Aktivität hervorgeht. Er ist so wenig wie möglich gerade in seinen wissenschaftlichen Vorstellungen im Michael-Zeitalter drinnen.

Wenn wir uns die Frage stellen: Welchen Sinn hat es denn eigentlich im ganzen kosmischen Zusammenhange, daß, wenn ich so sagen darf, Gabriel das Zepter abgegeben hat an Michael? – so müssen wir uns sagen: Es hat diesen Sinn, daß Michael der Geist ist, der von all den Wesenheiten, die in der Menschheit geistig führend sein können, am ehesten heran kann an das, was die Menschen hier auf Erden in dieser Emanzipation des Wissens seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts treiben. Gabriel steht ganz betroffen vor demjenigen, was irgendwie ein heutiger, gebildeter Mensch zu seinem Vorstellungsinhalt hat. Michael, der den Kräften der Sonne außerordentlich verwandt ist, kann seine Tätigkeit wenigstens in das hineinversetzen, was der Mensch an Gedanken ausarbeitet, die als Impulse für sein freies Handeln bestehen. Dasjenige, was ich das freie, das reine Denken genannt habe, das für das individuelle Wollen des Menschen in Freiheit in der neueren Zeit der eigentliche Impuls sein muß, in all das kann Michael hineinarbeiten. Und für dasjenige Handeln, das aus dem Impuls der Liebe entspringt, für das hat Michael seine besondere Verwandtschaft. Daher ist er der Sendbote, den die Götter heruntergeschickt haben, damit er gewissermaßen entgegennimmt, was nun herübergeleitet wird aus dem emanzipierten Wissen in das vergeistigte Wissen hinein. Würden die Menschen bloß das Raumeswissen ausbilden, würden sie es nicht vergeistigen, würden sie bei der Anthropologie bleiben und nicht zur Anthroposophie kommen wollen, dann würde das Michael-Zeitalter vorübergehen. Michael würde von seiner Herrschaft abtreten und würde den Göttern die Botschaft bringen: Die Menschheit will sich von den Göttern trennen, die Menschen haben sich angewöhnt, alles nur räumlich anzuglotzen, sie haben verachten gelernt dasjenige, was nur in der Zeit lebt. [8]

Zitate:

[1]  GA 237, Seite 109f   (Ausgabe 1959, 186 Seiten)
[2]  GA 237, Seite 130f   (Ausgabe 1959, 186 Seiten)
[3]  GA 237, Seite 132   (Ausgabe 1959, 186 Seiten)
[4]  GA 26, Seite 59f   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[5]  GA 26, Seite 61f   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[6]  GA 243, Seite 138f   (Ausgabe 1983, 246 Seiten)
[7]  GA 219, Seite 100f   (Ausgabe 1966, 212 Seiten)
[8]  GA 219, Seite 101f   (Ausgabe 1966, 212 Seiten)

Quellen:

GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 219:  Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen und des Menschen zur Sternenwelt. Die geistige Kommunion der Menschheit (1922)
GA 237:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Dritter Band. Die karmischen Zusammenhänge der anthroposophischen Bewegung (1924)
GA 243:  Das Initiaten-Bewußtsein. Die wahren und die falschen Wege der geistigen Forschung (1924)