Kabiren

Es ist vielleicht so am leichtesten nahezukommen der Gesamtverfassung dieser Kabiren, wenn Sie an die Stelle in der Bibel denken, wo von den Elohim die Rede ist, die eigentlich erst, nachdem sie ihr Tagewerk geschaffen haben, sehen, daß es gut war, oder eigentlich, wie es dort steht, daß es schön war. Es ist natürlich für Menschen etwas schwer zu verstehen, weil Götter – die Kabiren – gerade, um die es sich hier handelt, nicht ein solches Bewußtsein haben wie Menschen oder wie gewisse spätere Götter. Die Kabiren sind Götter ersten Entstehens, und sie gehen auf in diesem Entstehen. Daher sind sie von einer viel zu großen Lebendigkeit, als daß sie ein voll ausgebildetes Bewußtsein haben. Sie gehören auch zusammen in dieser Beziehung. Es sind in Samothrake vier solcher Kabirengötter. Eigentlich sind es wohl acht; aber für Samothrake selbst kommen nur die vier in Betracht. Und nun kann man sagen (Goethe, Faust): «Wundersam eigen, die sich immerfort selbst erzeugen, und niemals wissen, was sie sind.» Das kann man von den dreien, von den drei Hauptgöttern, welche die Erzeugungsgötter sind, schon sagen: von Axieros, Axiokersos und Axiokersa. Von denen kann man schon sagen, daß sie nicht wissen, was sie sind. Aber so wenig diese drei zusammen wissen, was sie sind, so gut weiß der vierte für die drei. Also, wenn Sie sich denken: der Mensch bestehe aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich, und das Ich vollführt das Bewußtsein, so müssen Sie sich denken: diese Kabiren sind vier. Während beim Menschen diese vier Glieder zusammenhalten, sind aber diese Kabiren vier getrennte Wesen. Und Axieros ist physischer Leib, Axiokersos ist Ätherleib, Axiokersa ist Astralleib; die haben also kein Bewußtsein. Dagegen Kadmillos, der dem Ich entsprechende, der denkt für alle drei. [1]

Durch solche Vorstellungen und Mysterienverrichtungen, wie sie die Griechen hatten in Anlehnung zum Beispiel an die Kabiren, drückt sich für den Menschen ein Höchstes in bezug auch auf das Erkenntnisstreben und dergleichen aus. Diese Kabiren brachte Goethe mit Recht zusammen mit dem Wege, der führen soll vom Homunkulus zum Homo. Er brachte diese Kabiren mit Recht zusammen mit dem Geheimnisse des menschlichen Werdens. Drei Kabiren werden herangebracht (im Faust). Gewissermaßen die menschliche Hüllentrinität, wird vorgeführt in den drei Kabiren. Der vierte «wollte nicht kommen». Und der ist es, der für sie alle denkt! Steigen wir herauf von den drei Hüllen zum menschlichen Ich, so haben wir in diesem Ich zunächst das, was über Raum (physischer Leib) und Zeit (Ätherleib), selbst über das Zeitlose, Raumlose des Astralischen herausragt. Aber dieses Ich des Menschen kam ja erst zum Bewußtsein gerade in dem Zeitraume, der auf die samothrakische Kabirenverehrung folgte. Die Griechen hatten aus der uralt heiligen samothrakischen Lehre allerdings ihren Glauben an das Unsterbliche; aber innerhalb des griechisch-lateinischen Zeitraumes sollte erst das Bewußtsein von dem Ich geboren werden. Daher wollte der vierte nicht kommen, der dasjenige repräsentiert, was als Verhältnis besteht zwischen dem Ich und dem Kosmos.

Die drei höchsten, der fünfte, sechste und siebente, die sind noch «im Olymp zu erfragen»: Geistselbst, Manas; Lebensgeist, Buddhi; Geistesmensch, Atma. Die kommen, wie wir wissen im sechsten und siebenten Zeitraume. Und an den achten hat überhaupt noch niemand gedacht! Wir erblicken tatsächlich in der alten Form ausgesprochen das Menschheitsgeheimnis, wie es in Samothrake in denjenigen Mysterien verhüllt war, von denen die Griechen das Beste für ihr Seelenwissen, für ihre Seelenweisheit, ja auch das Beste für ihre Dichtung, insofern sich diese auf den Menschen bezog, genommen haben. [2]

Zitate:

[1]  GA 277, Seite 534   (Ausgabe 1980, 620 Seiten)
[2]  GA 188, Seite 168ff   (Ausgabe 1982, 262 Seiten)

Quellen:

GA 188:  Der Goetheanismus, ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke. Menschenwissenschaft und Sozialwissenschaft (1919)
GA 277:  Eurythmie – Die Offenbarung der sprechenden Seele. Eine Fortbildung der Goetheschen Metamorphosenanschauung im Bereich der menschlichen Bewegung (1918-1924)