Universalienstreit

Vor dem scholastischen Zeitalter war die Verbindung desjenigen, was als Vorstellung und Begriff an den Dingen erlebt wird, mit diesen Dingen selbstverständlich. Eine Frage, ein Rätsel wurde diese Verbindung erst, als sich für das menschliche Erleben das Begriffliche, das Vorstellungsmäßige von dem löste, was man die objektive Wahrnehmung nennt. Und aus diesem philosophischen Erleben heraus ist dann der Scholastik jenes Problem entstanden des Realismus und des Nominalismus. Im Zeitalter der Scholastik war ein Realist, wie zum Beispiel Thomas von Aquino, derjenige, der den Begriffen, den Vorstellungen eine objektive Realität beilegte, so daß er sagte: Die Begriffe, die Vorstellungen haben etwas, was in seinem Inhalte objektiv ist, was nicht bloß dem Subjekte angehört, was nicht bloß gedacht ist. Ein Nominalist war derjenige, der die Realität nur in dem suchte, was außerhalb des Begrifflichen liegt, der in den Begriffen nur etwas sah, wodurch der Mensch zusammenfaßt, was ihm als Wahrnehmung gegeben ist, so daß die Begriffe für den Nominalisten eben bloße Namen waren. [1]

Es gibt ein ganzes Gebiet im Umkreis unserer äußeren Erfahrung, für welches der Nominalismus, das heißt die Vorstellung, daß das Zusammenfassende nur ein Name ist, seine volle Berechtigung hat. Für das, was in den Zahlen vorhanden ist, ist der Nominalismus absolut richtig. [2]

Was in diesen Strömungen wogte, es lebte fort bis in das 19. Jahrhundert. Der Nominalismus wurde die Denkungsart der Natur-Erkenntnis. Sie baute ein großartiges System von Anschauungen der sinnenfälligen Welt auf, aber sie vernichtete die Einsicht in das Wesen der Ideenwelt. – Der Realismus lebte ein totes Dasein. Er wußte von der Realität der Ideenwelt; aber er konnte im lebendigen Erkennen nicht zu ihr gelangen. Man wird zu ihr gelangen, wenn Anthroposophie den Weg finden wird von den Ideen zu dem Geist-Erleben in den Ideen. In dem wahrhaft fortgebildeten Realismus muß dem naturwissenschaftlichen Nominalismus ein Erkenntnisweg zur Seite treten, der zeigt, daß die Erkenntnis des Geistigen in der Menschheit nicht erloschen ist, sondern einem neuen Aufstieg aus neu eröffneten menschlichen Seelenquellen in die menschliche Entwickelung wieder eintreten kann. [3]

Zitate:

[1]  GA 76, Seite 34   (Ausgabe 1977, 264 Seiten)
[2]  GA 151, Seite 33f   (Ausgabe 1980, 92 Seiten)
[3]  GA 26, Seite 246f   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)

Quellen:

GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 76:  Die befruchtende Wirkung der Anthroposophie auf die Fachwissenschaften (1921)
GA 151:  Der menschliche und der kosmische Gedanke (1914)