Apokalypse des Johannes
► Babylon

So tritt sozusagen in unseren Horizont ein die Spaltung der Menschheit in urferner Zukunft: die Auserwählten des Christus, die zuletzt sein werden die weißen Magier, und die Gegner, die wilden Zauberer, die schwarzen Magier, die nicht loskönnen von der Materie und die der Apokalyptiker darstellt als diejenigen, die mit der Materie Unzucht treiben. Daher wird dieses ganze Treiben von schwarzer Magie, alles, was da an Ehe entsteht zwischen dem Menschen und der Verhärtung in der Materie, ihm zur Anschauung gebracht vor seiner Seherseele in der großen Babylon, in der wilden Ehe zwischen dem Menschen und den Kräften der herabgekommenen Materie. Wir sehen, wie auf der einen Seite das Schwärzeste sich absondert in der Babylon, geführt von all den der Sonne entgegengesetzten Kräften, von Sorat, dem zweihörnigen Tier, und wir sehen die Menschheit, die sich entwickelt hat aus den Auserwählten, die sich vereinigen mit dem ihnen erscheinenden Christus, dem Lamm. Die Hochzeit des Lammes auf der einen Seite – auf der anderen Seite die untergehende Babylon. Wir sehen sich herausheben aus der Kraft der weißen Magier die vorbereitenden Gestalten der nächsten (planetarischen) Verkörperung, des Jupiter: das Neue Jerusalem sehen wir aus der weißen Magie sich erheben. [1]

Alles, was geeignet ist, den Menschen unter das ihm eigene spirituelle Niveau zu bringen, ist miteingeschlossen in dasjenige, was der Apokalyptiker eben die babylonische Versuchung nennt. Der Mensch ist nur dann wahrhaft Mensch – obwohl er diese Menschlichkeit natürlich nicht in jedem Moment seiner Evolution haben kann, sondern sich erst erringen muß –, der Mensch ist nur dann wahrhaft Mensch, wenn in ihm eine völlige Harmonie zwischen dem Prinzip des Materiellen und des Spirituellen vorhanden ist, das heißt, wenn das Materielle nicht heraufspielt in vom Spirituellen unbeherrschte Emotionen. Also nicht um das Ausreißen der Emotionen, nicht um das Ausreißen der Affekte und Leidenschaften handelt es sich bei dem Apokalyptiker, sondern darum, daß die Emotionen nicht unbeherrscht bleiben durch das Spirituelle. Und alles dasjenige, was im Menschenleben die Emotionen darstellt, seien es große oder kleine, die unbeherrscht bleiben vom Spirituellen, alles das ist in der Apokalypse zusammengefaßt in dem Namen jener Stadt Babylon, in welcher geherrscht hat – ich möchte es stereotyp ausdrücken – der Abfall von der Spiritualität durch die Leidenschaften. Wir müssen dabei nur die damaligen starken, derben Ausdrücke – für die damalige Zeit waren sie nicht derb – in unsere Sprache übersetzen. Es ist ja die alte Vorstellungsart durchaus so, daß man sich nicht abstrakte Begriffe bildet, sondern daß man immer auf das Konkrete hinweist, auf etwas, was charakteristisch ist. So spricht auch der Apokalyptiker von Babylon. Warum gerade von Babylon? In Babylon, oder vielmehr an der Stätte von Babylon, waren in alter Zeit wirklich hohe Mysterien, in denen man eingeweiht werden konnte in die Geheimnisse des überirdischen Kosmos, in denen man Geheimnisse über die Sternenwelten und ihren geistigen Inhalt erfahren konnte. Gerade in Babylon war es so, daß die ältesten babylonischen Priester die menschlichen Traum-Hellseherkräfte in einer Weise benutzten, die wir heute als mediales Hellsehen bezeichnen würden. Und auf einem solchen, in gewissem Sinne medialen Wege gestaltete sich heraus die wunderbare alte babylonische Lehre. Wir können ja heute sehen, daß Medien, auch wenn sie zunächst geeignet erscheinen, Geistiges zu vermitteln – es geschieht das ja vielfach, nur müßte es kontrolliert werden von einsichtigen Initiaten –, Einflüssen ausgesetzt sind, die moralisch stark bedenklich sind. Medien können, weil in ihnen stattfindet ein bestimmtes Miß­verhältnis zwischen dem, was sie offenbaren und dem, was sie sind, zuletzt oft nicht mehr Wahrheit von Lüge unterscheiden; und das kann sich ausdehnen bis zu einem Gebiet, wo Moral von Unmoral nicht mehr getrennt wird. Ein Mensch wird dadurch zum Medium – und das war auch so bei den babylonischen Priestern –, daß durch äußere Gewalt herausgezogen werden Ich und astralischer Leib aus dem physischen und dem Ätherleib. Aber in dem Augenblick, wo Ich und Astralleib beim Medium aus dem physischen und ätherischen Leib herausgezogen sind, sitzt auch schon eine andere Macht in diesem Ich und Astralleibe drinnen. Je nachdem, ob der Initiator, der so etwas bewirkt, gute oder böse Absichten hat kann das eine gute oder eine böse Macht sein. In der alten babylonischen Zeit kamen auf einem solchen Wege ganz ausgezeichnete Erkenntnisse und Offenbarungen zutage. Aber in späterer Zeit und heute zeigt sich der Nachteil: Wenn das Medium wieder zurückkommt in den physischen Leib, was tritt dann ein? Sehen Sie, mit der Logik, die man in der physischen Welt hat, um in der physischen Welt zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, kommt man in der geistigen Welt nicht zurecht. Es ist ein völliger Irrtum, zu glauben, daß man die Begriffe von Lüge und Wahrheit, wie man sie in der physischen Welt mit Recht braucht, auch in der geistigen Welt anwenden kann. In der geistigen Welt ist nichts da, was man so unterscheiden sollte. Dort sind Wesenheiten da, die gut sind und solche, die böse sind. Man muß sie aus sich heraus erkennen, denn sie sagen einem nicht, welcher Art sie sind. Aber auch die bösen sind in ihrer Art wahr. Daher muß der wahre Initiat eine bestimmte Seelenverfassung für das Schauen in der geistigen Welt haben. Er muß sich voll verantwortlich dafür fühlen, daß er in dem Augenblick, wo er wieder in die physische Welt zurückkehrt, mit physischen Begriffen zu arbeiten hat. Das kann das Medium nicht, weil es nicht mit Bewußtsein in die geistige Welt hinübergeht. Wenn es wieder zurückkommt, füllen Ich und Astralleib den physischen und ätherischen Leib aus mit einer Denkrichtung, die wohl richtig ist für die geistige Welt, die aber alles in der physischen Welt geltende moralische Fühlen und Empfinden korrumpiert. Daher wird das Medium korrumpiert gegenüber Wahrheit und Lüge, und das wirkt dann in alles andere hinein. Man kann in der Tat sagen, daß Babylon diese Entwickelung durchgemacht hat von der höchsten, bedeutsamsten Offenbarung der geistigen Welten bis zu einer furchtbaren Korruption. Was sich zunächst auf das Prinzip geistiger Offenbarung bezieht, auch in bezug auf das allgemeine Menschenleben, in das es sich hineinerstreckt, das kann zu einer starken Korruption führen, so daß der Mensch, nachdem er in Spirituelles hineingekommen ist, unsittlicher wird, als er vorher war mit seiner gewöhnlichen Menschlichkeit. Daher wurde Babylon eben als der Repräsentant für moralische Korruption genommen. Und die Ausdrücke, die in der Apokalypse vorkommen, bedeuten nichts anderes als diese, die eben damals für Korruption gang und gäbe waren.Aber seit damals ist die ganze Menschheit, die dasjenige fortgeführt hat, was in dem Babylonischen gelebt hat, über die ganze Welt zu einer Stadt Babylon geworden. Das meint der Apokalypker. Unter der Erdenmenschheit ist heute die Stadt Babylon zu finden. Sie ist da, wo Menschen sind, die der babylonischen Versuchung zum Opfer gefallen sind. Und diese Haltung der Menschen ist das, was fallen muß, bevor jener Endzustand kommen kann, von dem der Apokalyptiker spricht. Wenn wir untersuchen, was da tätig ist in der «babylonischen Korruption», so finden wir, daß überall in dieser babylonischen Korruption tätig ist das ahrimanische Prinzip. Ahriman steckt in den Menschen, und er ist eine Macht, die zunächst dem Menschen nahesteht innerhalb des Weltganzen. Er steckt in den Emotionen, die in dieser Weise korrumpiert werden. Dem Ahrimanischen steht als sein entgegengesetzter Pol das Luziferische gegenüber. In dem, was da in Babylon fällt, lebt das Ahrimanische, und dem ist das Luziferische entgegengesetzt. Was für ein Bild muß sich dem Apokalyptiker darstellen, wenn er das anschaut? Das Bild der frohlockenden Gesinnung der luziferischen Engel. Das dürfen wir uns nicht verhüllen, was oben angestimmt wird als ein Frohlocken der Engel, das ist die Stimme Luzifers. Das Christus-Prinzip ist immer der Ausgleich zwischen diesen beiden. Es ist dem gewöhnlichen menschlichen Empfinden schlechterdings unbegreiflich, zu denken, daß reine, gute Geister jenes Jubelgeschrei da oben anstimmen, wenn unten solche Qualen über die Menschen kommen, wie sie geschildert werden. Das wird natürlich sofort verständlich, wenn man dies als Jubelgeschrei derjenigen Wesen ansieht, welche im Grunde genommen, bevor die Welt entstand, in der der Mensch seine geistige Ausgestaltung erfährt, dagegen waren, daß die Welt in dieser Weise entsteht. Die luziferischen Wesenheiten wollen die ganze Evolution auf einem ganz anderen geistigen Niveau halten; sie wollen nicht jene Verbindung, jene Ehe des Geistes mit der Materie, die im Erdendasein Platz gegriffen hat, so daß sie in ihren Seelen eigentlich empfinden: Jetzt, wo vom Erdendasein das ausgeschieden wird, was von Ahriman erfaßt ist, jetzt haben wir die Befriedigung, daß wenigstens ein Teil des Erdendaseins nicht fortgeführt wird und stürzt aus der Erdenevolution. In dieser Beziehung spricht eine grandiose Ehrlichkeit der Weltauffassung aus diesem Bild, das der Apokalyptiker geschildert hat. Nun, der erste Sturz, der Fall Babylons, das ist dasjenige, was an Verirrung durch den Menschen selbst herauf gebracht wird. Auch wenn es influenziert ist vom Initiationsprinzip, es ist menschliche Verirrung. [2]

Der zweite Sturz ist das, wo nicht mehr der Mensch allein beteiligt ist. Bei denjenigen, die mit Babylon fallen, sind die eigentlich Beteiligten die Menschen; es ist menschliche Verirrung. Bei dem Sturz des Tieres und des falschen Propheten, der die Lehre des Tieres vertritt, fällt nicht Menschliches, sondern Übermensch­liches, es fällt Geistiges. Es fällt dasjenige, was nicht innerhalb des Menschen­reiches ist: das Tier, das hereinbricht über die menschliche Gemeinschaft, und es fällt derjenige, der die Lehren des Tieres verkündet: der falsche Prophet. Man hat es also zu tun mit etwas, was die Menschen von sich besessen machen kann, wo aber nicht die Schwäche der menschlichen Natur wirkt wie beim Medium, sondern es bewirkt direkt Übermenschliches im Menschen den Impuls zum Bösen.

Beim Sturz des Tieres und des falschen Propheten ist es nicht so, wie wenn etwa ein Medium korrumpiert würde, weil es schwach geworden ist, sondern es ist so, als ob der Geist, der Ich und Astralleib des Mediums in Anspruch genommen hat, nun, nachdem die Hypnose aufgehört hat, in den physischen und ätherischen Leib hineinfahren würde und sich nun des physischen Leibes dieses Menschen bedienen würde, um durch ihn Unheil auf Erden anzurichten. Andere werden zwar als Menschen herumgehen, sie werden aber verfallen sein dem Lose, daß eigentlich ihr Menschen-Ich aus ihnen heraus ist, so daß man sie nicht mehr als Menschen ansprechen kann auf Erden, weil sie besessen sind von dem Tier und dem falschen Propheten. Das wird nach dem Sturz Babylons kommen. Nach dem Sturz Babylons werden Menschen auf Erden sein, die werden wie herumwandelnde Dämonen sein, in denen werden die ahrimanischen Mächte unmittelbar handeln. Für alle diese Dinge sind heute schon genügend Vorbedingungen da. Ich möchte sagen, keimhaft ist das alles schon vorhanden. Hat sich doch der furchtbare Fall ereignet, daß sich Ahriman durch einen Menschen – wenn auch nicht im ganzen Menschen, aber doch durch die temporäre Schwäche eines Menschen – bereits als Schriftsteller unter uns zeigen konnte. Nietzsche war ein glänzender, großartiger Schriftsteller, aber in den Zeiten, in denen er den «Antichrist» und «Ecce homo» geschrieben hat, war nicht die Nietzsche-Individualität in ihm. Ich kenne diese Nietzsche-Individualität, ich habe sie sogar beschrieben in meinem «Lebensgang»; aber da ist Ahriman direkt Schriftsteller geworden, und Ahriman ist ein viel glänzenderer Schriftsteller als die Menschen. Das wird der zweite Sturz sein: die Dämonie des Tieres und seines Verkünders; sie werden die Menschenleiber von sich besessen machen. Aber das Tier und sein Verkünder werden gestürzt weren. Wir haben also zuerst den Sturz der korrumpierten Menschen und dann den Sturz gewisser korrumpierter Geister, die dem Menschen nahestehen. Diese Geister selbst fallen beim zweiten Sturz. [3]

Zitate:

[1]  GA 104, Seite 231f   (Ausgabe 1979, 284 Seiten)
[2]  GA 346, Seite 154uf   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)
[3]  GA 346, Seite 159ff   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)

Quellen:

GA 104:  Die Apokalypse des Johannes (1908)
GA 346:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, V. Apokalypse und Priesterwirken (1924)