Apokalypse des Johannes
► Das Buch, das verschlungen wird

Die Menschheit wird die Aufnahme der Botschaft der Liebe als das Ergebnis der Erdenmission zu betrachten haben. In den Evangelien, in dem Buche ist die Kraft der Liebe enthalten, alle Kraft der Liebe. Und der Seher kann nichts anderes sagen als: Ich sehe im Geist eine Zeit vor mir, wo dasjenige, was im Evangelium ist, nicht mehr in einem Buche draußen sein wird, sondern wo das verschlungen sein wird vom Menschen selber. [1] Während also die Seele des Sehers, die der Apokalyptiker geschildet hat, in geistige Regionen hinaufsteigen kann, um das Evangelium der Liebe zu empfangen, und im Geiste die Seligkeit süß wie Honig empfinden kann, lebt der Seher doch in einem heutigen Leibe, und dementsprechend muß er ausdrücken, daß das Hinaufsteigen im heutigen Leibe in vieler Beziehung das Gegenstück jener Seligkeit hervorruft. Das drückt er dadurch aus, daß er sagt, das Büchlein mache ihm, ob es gleich süß sei wie Honig, als er es verschluckt hat, grimmige Schmerzen im Bauche. Aber das ist nur ein kleiner Abglanz von dem, «im Leibe gekreuzigt» zu sein. Je höher der Geist steigt, desto schwieriger wird ihm das Wohnen im Leibe. Und das ist zunächst der symbolische Ausdruck für diese Schmerzen: «Gekreuzigt sein im Leibe.» [2] (Siehe auch: Kreuz des Weltenleibes)

Der Mensch atmet Kohlensäure aus; die Pflanzen atmen Kohlensäure ein und atmen Sauerstoff aus (während des Tages).So ist das menschliche Atmen, das sich in seiner eigentlichen Ichheit ausdrückt, ein Verschlingen des roten und blauen Blutbaumes. Das ist die Alchemie der Menschennatur, daß der Mensch in der Zukunft innerhalb seines eigenen Bewußtseins das leisten kann, was heute die Pflanze für ihn tut. Was heute außerhalb des Menschen ist, wird innerhalb seines physischen Leibes sich verschlingen, wenn er die ganze Pflanzenwelt in sich aufgenommen hat, wenn er sein Bewußtsein über die ganze Pflanzenwelt ausgedehnt hat. Es gab eine Zeit, wo Erde und Sonne miteinander vereinigt waren. Da war der Mensch innerhalb der Sonnennatur. Damals waren der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis miteinander verschlungen; damals bedurfte der Mensch keines äußeren (Sinnes)­werkzeuges. Das wird aber wieder in der Zukunft der Fall sein. Was die Menschheit dann erreicht haben wird, wird immer angedeutet, indem man die Sonne aufzeichnet und dann andeutet die höher entwickelte Erde mit der höher entwickelten Menschennatur, und das, was den Menschen dahin bringt, ist die Vereinigung seines roten und blauen Blutstromes durch das erweiterte Bewußtsein. Das wird angedeutet mit zwei metallenen Säulen – das sind die zwei Blutströme. Dann wird der blaue Blutbaum nicht mehr ein Baum des Todes. Schildert der Apokalyptiker diesen Zustand, so muß er dies bildlich andeuten: «Und ich sah einen andern starken Engel vom Himmel herabkommen; der war mit einer Wolke bekleidet, und ein Regenbogen auf seinem Haupt, und sein Antlitz wie die Sonne, und seine Füße wie Feuerpfeiler.» [3]

Der Geist des Menschen stammt aus dem Devachan, die Seele aus der Seelenwelt (Astralplan), der physische Leib aus der physischen Welt; diese Glieder des Menschen kommen aus drei verschiedenen Welten her und sind im Menschen miteinander verbunden. Und indem der Mensch mit dem Bewußtsein aus der physischen Welt herausgeht, spaltet sich sein Inneres, er wird drei aus eins. Dasjenige, was so mit dem einzelnen Menschen vorgeht, ohne daß der einzelne Mensch als Individuum daran Anteil nehmen müßte, geht auch mit der ganzen Menschheit vor sich durch ihre verschiedenen Rassen- und Volksentwickelungen. Wir können sagen: Die sich entwickelnde Menschheit, die lebt ja in dem Unterbewußtsein jedes einzelnen Menschen, aber das steigt eben nicht in das gewöhnliche Bewußtsein herauf, und sie macht ähnliche Etappen ihrer Entwickelung durch wie der einzelne Mensch. Und eben jetzt in unserem Zeitalter wird im Entwickelungsgang der Menschheit so etwas durchgemacht wie der Übergang über die Schwelle und die Spaltung in drei. Dasjenige, was für den einzelnen Menschen das Vorbeigehen an dem Hüter der Schwelle ist, das muß der Mensch im Bewußtseinsseelenzeitalter sich aneignen, wenn er es haben will. Die Menschheit aber geht, für den einzelnen unbewußt für unser Zeitalter, an dem Hüter der Schwelle vorbei. Die ganze Menschheit macht das durch, was der Übergang über die Schwelle ist. Während die physische Leiblichkeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts herauf noch immer durch die ihr innewohnenden elementarischen Wesen dem Menschen etwas gegeben hat auf Erden, muß der Mensch in der Zukunft alles das, was er produktiv innerlich finden wird, auch seine Tugenden, aus der geistigen Welt herausholen, nicht als einzelner Mensch, sondern als Menschheit. So daß ein Schwellendurchgang weil er auch der Zeit nach davor liegt, dem Apokalyptiker erscheint, bevor ihm die Vision sich vor Augen stellt von dem sonnenbekleideten Weibe, das den Drachen unter ihren Füßen hat. Das erscheint vor dem hellseherischen Auge des Apokalyptikers als jene Figur, die sich aus Wolken herausbildet, sonnenähnliches Gesicht hat, in einen Regenbogen übergeht, und feurige Füße hat von denen der eine auf dem Meer, der andere auf der Erde steht (Apk. 10, 2). Man möchte sagen, das ist in der Tat die bedeutsamste Erscheinung, die sich die gegenwärtige Menschenseele vor Augen stellen soll. Denn in dem, was oben wolkengeborenes Antlitz ist, liegen die Gedanken. die dem Geisterlande angehören; in dem, was Regenbogen ist, liegt die Gefühlswelt der Menschenseele, die der Seelenwelt angehört; in den feurigen Füßen, die aus der Kraft der meerüberdeckten Erde heraus ihre Kraft erhielten, liegt das, was im Leibe des Menschen enthalten ist, der mit der physischen Welt zusammengehört. [4] Wir werden da, ich möchte sagen, auf das eigentliche Kulturgeheimnis der Gegenwart hingewiesen, das sich ja zunächst so äußert, daß die Menschen nicht gleich dreigespalten erscheinen, sondern so erscheinen – was ja in unserer jetzigen Zeit nun mit Händen zu greifen ist –, daß wir Wolkenmenschen haben, die nur denken können, während verkümmert sind die beiden anderen Teile: Regenbogen und Feuerfüße, daß wir Regenbogenmenschen haben, bei denen vorzugsweise das Gefühl ausgebildet ist: bei ihnen ist verkümmert Denken und Wille, aber das Gefühl ist besonders ausgebildet. Dann gibt es heute Menschen, die eigentlich so handeln, wie wenn sie bloß den Willen hypertrophiert ausgebildet härten. Verkümmert ist ihr Denken und Gefühl: Stiermäßig handelnde Menschen, nur den unmittelbar äußeren Impulsen hingegeben – die feuerfüßigen Menschen. Und die Vision Johannes des Apokalyptikers stellt schon auch diese drei Arten von Menschen dar, die wir antreffen im Leben. Im Osten gibt es viele Wolken­menschen, in der Mitte viele Regenbogenmenschen, im Westen viele feuerfüßige Menschen. Und man könnte sagen: Ausgebreitet ist über die Erde, wenn man sie geistig von außen ansieht, etwas wie ein Bild gerade der Gestalt, die uns hier beim Apokalyptiker entgegentritt, wenn wir die Rassenentwickelung in Betracht ziehen. Würde man sich geistig erheben vielleicht von einem Punkte aus, der in Westfalen liegt, in die Höhe hinauf und würde Zurückschauen auf die Erde, so würde Asien eine Art wolkenähnliches, Sonnenformen annehmendes Gesicht haben; über Europa würde man Regenbogenfarben ausgebreitet sehen, und weiter hinüber nach Westen Feuerfüße, von denen der eine im Stillen Ozean steht, der andere auf den südamerikanischen Anden. Und man würde die Erde selber unter diesem Bild bekommen. [5] Vorher sahen die Menschen draußen die Sternenschrift geschrieben, sie sahen alles draußen geschrieben, was Inhalt ist von alter Tradition, von alter Weisheit. Was in alten Büchern steht, trägt dieser dreigespaltene Mensch wie Erinnerung an sich. Sieht man hin nach gewissen Stätten, so sieht man diese Gestalt, die ausgebreitet ist über Asien, Europa, Amerika. Was in den an Mysterien reichen Stätten Mazedoniens, Griechenlands, Kleinasiens, alles was in Ephesus, Samothrake, Delphi und anderen Orten verkündet worden ist über die Welt, das ist das Buch, das erhalten ist aus den alten Zeiten; es ist in der Hand jenes Engels, der aus Wolken sein Antlitz, aus Regenbogen seine Brust, aus Feuer seine Füße bildet und mächtig dasteht. Aber all das ist für den Bewußtseinsmenschen heute so, daß wir das nur so rege und belebend erhalten können, wenn wir aus unserem Innern heraus den Quell suchen, wodurch wir das geistige Schauen lernen. Wir müssen das Buch, das vorher von außen geholt werden konnte, «verschlingen», in uns hineinbringen. [6]

Zitate:

[1]  GA 104, Seite 169   (Ausgabe 1979, 284 Seiten)
[2]  GA 104, Seite 172   (Ausgabe 1979, 284 Seiten)
[3]  GA 104a, Seite 56f   (Ausgabe 1991, 144 Seiten)
[4]  GA 346, Seite 201ff   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)
[5]  GA 346, Seite 203ff   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)
[6]  GA 346, Seite 208   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)

Quellen:

GA 104:  Die Apokalypse des Johannes (1908)
GA 104a:  Aus der Bilderschrift der Apokalypse des Johannes (1907/1909)
GA 346:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, V. Apokalypse und Priesterwirken (1924)