Bewußtsein
► Bewußtsein basiert auf Zerstörungsprozessen

Wiewir im Grunde genommen jeden Morgen, wenn wir die Augen aufschließen, das Bewußtsein wiedererlangen an unseren Wechselbeziehungen mit der äußeren Welt, so war es auch im Entwickelungsgange der Menschheit. An dem Verkehr der Sinne, des Denkens mit dem äußeren Gange der Natur hat sich erst das Bewußtsein entzündet. [1]

Unser seelisches Leben beruht darauf, daß zum Beispiel das Denken, das Vorstellen, mit einer ganz anderen Geschwindigkeit abläuft als das Fühlen, und dieses wiederum mit einer ganz anderen Geschwindigkeit als das Wollen. Diese Dinge – daß innerlich im Seelenleben verschiedene ineinandergeschichtete Geschwindigkeiten sind – bewirken gerade das innere Entstehen des Bewußtseins. Bewußtsein entsteht nur da, wo irgend etwas sich stört. Daher ist Bewußtsein sogar verwandt mit dem Tode: weil der Tod das Leben stört. [2] Bewußtsein kann erst da beginnen, wo in die Wachstumsprozesse eingegriffen wird mit zerstörenden, mit auflösenden, mit abbauenden Prozessen. In dem Maße, in dem wir imstande sind, abzubauen dasjenige, was die bloße Natur in uns aufbaut, in dem Maße werden wir uns bewußt. [3] Unser waches Tagesleben ist die Wahrnehmung von Zerstörungsprozessen. Weil während des Schlafens keine Zerstörungsprozesse stattfinden, sondern Reorganisationsprozesse, nehmen wir auch während dieses Zustandes nichts wahr. Es wird die Kraft, die sonst das Bewußtsein erzeugt, verbraucht zum Aufbau. [4]

Das Hellsehen erschaut das sprießende, sprossende Leben, zum Beispiel des Nervensystems, namentlich des Gehirns, wie feurige Wellen. Also, wenn wir wach leben, so zerstört zunächst unser Seelenleben die physischen Wachstumsprozesse, baut sie ab. Und von dem, was da geschieht, von diesem Abbauen weiß der Mensch in der Regel nichts. Sehen Sie, das ist das furchtbar Erschütternde im Initiationsprozeß, daß man dieses Zerstören sieht, daß man weiß: indem man sich mit irgendeinem Wesen, etwa einem Angelos-, Archangeloswesen der geistigen Welt in Beziehung setzt und Vorstellungen darüber gewinnen will, das heißt, sie wirklich wahrnehmen will, muß man in sich etwas zerstören. Man tut das auch, wenn man sich mit einer Blume, einem Tier in Verbindung setzt; nur weiß der Mensch es nicht im gewöhnlichen Verlauf des Lebens. Man fängt erst an zu wissen, wenn diese Zerstörungsprozesse nun wie Spiegel zurück in das Seelenleben wirken.

Also denken Sie: Sie sehen eine rote Blume an. Dasjenige, was Sie mit der roten Blume erleben, das veranlaßt Sie zunächst, in Ihnen einen Zerstörungsprozeß hervorzurufen. Das wissen Sie bloß nicht. Aber was da zerstört ist, das spiegelt sich in der Seele zurück und das bewirkt, daß Sie dann die rote Blume als Vorstellung, als Wahrnehmung haben. Sie müssen also zuerst in sich selber ein Abbild schaffen von der roten Blume dadurch, daß Sie die sprießenden, sprossenden Prozesse abbauen, und indem Sie diese abbauen, schaffen Sie das, was Sie dann sehen. Es ist ein inneres Abbauen an dem eigenen Organismus, wie ja im Grunde genommen schließlich auch allen menschlichen Kulturarbeiten ein äußerliches Zerstören zugrunde liegt. Der Schlaf hat dann die Aufgabe, die toten Einschlüsse wieder aufzulösen bis auf gewisse Reste, die da bleiben, und die durch das ganze physische Leben in der gleichen Weise als Prozesse durchgehen und dem Gedächtnis, der Erinnerung zugrunde liegen. Würde alles durch den Schlaf wieder aufgelöst werden, so würden wir kein Gedächtnis, keine Erinnerung haben. [5]

Da, wo das Leben fortwährend als Leben vernichtet wird, wo fortwährend ein Wesen hart an der Grenze zwischen Leben und Tod steht, wo fortwährend das Leben wieder aus der lebendigen Substanz zu verschwinden droht, da entsteht das Bewußtsein. Und wie zuerst die Substanz zerfallen ist, wenn das Leben sie nicht bewohnte, so scheint uns jetzt das Leben zu zerfallen, wenn nicht als neues Prinzip das Bewußtsein hinzuträte. Das Bewußtsein kann nicht anders begriffen werden als indem wir sagen: so wie das Leben dazu da ist, gewisse Vorgänge zu erneuern, deren Fehlen den Zerfall der Materie herbeiführen würde, so ist das Bewußtsein dazu da, das Leben, das sich sonst auflösen würde, immer wieder zu erneuern. Wenn ein Wesen dem Zerfall entgegenarbeitet, dann ist es ein lebendiges Wesen. Ist es imstande, in sich selbst den Tod erstehen zu lassen und diesen Tod fortwährend zum Leben umzuwandeln, dann entsteht Bewußtsein. Bewußtsein oder bewußter Geist ist diejenige Kraft, welche ewig aus dem Tode, der inmitten des Lebens erzeugt werden muß, das Leben wieder erstehen läßt. Eine Substanz, die nach außen hin sterben kann, kann nicht bewußt werden. Bewußt kann nur eine solche Substanz sein, die in ihrem eigenen Mittelpunkt den Tod erzeugt und überwindet. [6]

Alles das, womit das Bewußtsein beginnt, ist ursprünglich Schmerz. Derselbe Prozeß, der Ihr Auge geschaffen hat, wäre ein Zerstörungsprozeß geworden, wenn er an dem, das sich in dem menschlichen Wesen heraufentwickelt hat, überhand genommen hätte. So hat er aber nur einen kleinen Teil ergriffen, wodurch er aus der Zerstörung, aus dem partiellen Tod heraus jene Spiegelung der Außenwelt schaffen konnte, die man das Bewußtsein nennt. Das Bewußtsein innerhalb der Materie wird also aus dem Leide, aus dem Schmerze geboren. [7] Tritt der Schmerz zum Leben, so gebiert er die Empfindung und das Bewußtsein. Dieses Gebären, dieses Hervorbringen eines Höheren, spiegelt sich wiederum im Bewußtsein als die Lust, und es gab nie eine Lust, ohne daß es vorher einen Schmerz gegeben hätte. Wenn aber der Schmerz Bewußtsein hat entstehen lassen und als Bewußtsein schöpferisch weiterwirkt, dann ist diese Schöpfung auf einer höheren Stufe und drückt sich im Gefühle der Lust aus. Dem Schaffen liegt die Lust zugrunde. [8]

Zitate:

[1]  GA 322, Seite 15   (Ausgabe 1969, 140 Seiten)
[2]  GA 73, Seite 50f   (Ausgabe 1973, 398 Seiten)
[3]  GA 162, Seite 12   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[4]  GA 146, Seite 80   (Ausgabe 1962, 163 Seiten)
[5]  GA 162, Seite 14ff   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[6]  GA 55, Seite 78ff   (Ausgabe 1959, 278 Seiten)
[7]  GA 55, Seite 80f   (Ausgabe 1959, 278 Seiten)
[8]  GA 55, Seite 83   (Ausgabe 1959, 278 Seiten)

Quellen:

GA 55:  Die Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Zeit und deren Bedeutung für das heutige Leben (1906/1907)
GA 73:  Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie (1917/1918)
GA 146:  Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita (1913)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 322:  Grenzen der Naturerkenntnis (1920)