Atomismus

Aus dem inneren Wesen des Lebendigen folgt, daß ich es kontinuistisch denken muß, und ich muß sagen aus dem inneren Wesen des Toten: Ich muß es atomistisch denken. Es entspricht (dies) einem objektiven In-Beziehung-Setzen zur Welt, nicht einem bloßen subjektiven Bedürfnis des menschlichen Geistes. [1]

Der Mensch kam (in der neueren Zeit) dazu, hinter der Sinneswelt noch eine andere, unsichtbare Sinneswelt kleiner Wesen, dämonische Wesen, die Atome zu denken. Statt zu einer geistigen Welt überzugehen, ging er zu einem Duplikat der sinnlichen Welt, wiederum zu einer sinnlichen, aber fiktiven Welt über, und dadurch erstarrte sein Erkenntnisvermögen für die äußere Sinneswelt. [2]

Allen Geschichtsschreibern der Philosophie passiert es, daß sie den Demokritus aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert so beschreiben, als ob er im modernen Sinne ein Atomist gewesen wäre, weil er Atome angenommen hat. Zwischen dem modernen Atomisten und dem Demokritus ist ein gewaltiger Unterschied; seine Atome sind durchaus noch Kraftzusammenhänge, und als solche Kraftzusammenhänge von ihm entgegengestellt werden in einer Weise dem Raume, wie der moderne Atomist seine Atome nicht dem Raum gegenüberstellen kann. [3]

Eduard von Hartmann, der eine Naturphilosophie begründen wollte, hat es geradezu als eine Forderung ausgesprochen, daß man dasjenige, was da der Naturwissenschafter als Atomwelt und dergleichen oder als hinter den sinnlichen Wahrnehmungen stehende Kräfte annimmt, daß man das gelten lassen müsse als etwas, was dem «Ding an sich» gleichkomme. [4] Diese Atome, von denen die Naturwissenschaft spricht, sind reine Phantasie. Sie sind draußen nirgends. Warum spricht aber der Mensch doch von Atomen? Weil er in sich sein Nervensystem aus lauter Kügelchen (Ganglion) gebaut hat, und das projiziert er hinaus. Die atomistische Welt draußen ist nichts anderes als das hinausprojizierte Nervensystem. Daher wird die Wissenschaft immer atomistisch sein wollen, denn sie kommt aus der Nervensubstanz. Der Wissenschaft steht gegenüber alles dasjenige, was Mystik, was Religion und so weiter ist, was aus dem Blut kommt. Das will nicht Atomistik, das will überall die Einheit sehen. [5]

Indem man sich (beim Aufwachen) in die verschiedenen Organe hineinbegibt, schlüpft man auch wie mit Fühlfäden bis in die äußersten Verzweigungen der Nerven hinein. Wir fühlen den Nerv nur da, wo er endet. Wir stecken den ganzen Tag in der Nervenmaterie und berühren immer die Enden unserer Nerven. An unendlich viele Punkte stoße ich an, wenn ich da hineinschlüpfe, nur kommt es mir nicht zum Bewußtsein. Zum Bewußtsein kommt es nur dem, der den Prozeß des Aufwachens bewußt erlebt: Wenn er bewußt hineintaucht in den Nervenmantel, dann spürt er, daß es ihm überall entgegensticht. [6] Stellen Sie sich lebendig diese Stiche vor. Was tut der Mensch damit, wenn sie nicht in sein Bewußtsein heraufkommen? Er projiziert sie in den Raum und füllt den Raum damit aus, und das sind dann die Atome. Das ist in Wahrheit der Ursprung des Atomismus. [7]

Zitate:

[1]  GA 326, Seite 82   (Ausgabe 1977, 196 Seiten)
[2]  GA 325, Seite 155   (Ausgabe 1969, 173 Seiten)
[3]  GA 326, Seite 32   (Ausgabe 1977, 196 Seiten)
[4]  GA 73, Seite 118   (Ausgabe 1973, 398 Seiten)
[5]  GA 169, Seite 42f   (Ausgabe 1963, 182 Seiten)
[6]  GA 254, Seite 54ff   (Ausgabe 1969, 279 Seiten)
[7]  GA 254, Seite 56   (Ausgabe 1969, 279 Seiten)

Quellen:

GA 73:  Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie (1917/1918)
GA 169:  Weltwesen und Ichheit (1916)
GA 254:  Die okkulte Bewegung im neunzehnten Jahrhundert und ihre Beziehung zur Weltkultur. Bedeutsames aus dem äußeren Geistesleben um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts (1915)
GA 325:  Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum (1921)
GA 326:  Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung (1922/1923)