Ding an sich

Wer hinter den Dingen noch etwas sucht, das deren eigentliches Wesen bedeuten soll, der hat sich nicht zum Bewußtsein gebracht, daß alle Fragen nach dem Wesen der Dinge nur aus einem menschlichen Bedürfnisse entspringen: das, was man wahrnimmt, auch mit dem Gedanken zu durchdringen. Die Dinge sprechen zu uns, und unser Inneres spricht, wenn wir die Dinge beobachten. Diese zwei Sprachen stammen aus demselben Urwesen, und der Mensch ist berufen, deren gegenseitiges Verständnis zu bewirken. Darin besteht das, was man Erkenntnis nennt. Und dies und nichts anderes sucht der, der die Bedürfnisse der menschlichen Natur versteht. Wer zu diesem Verständnisse nicht gelangt, dem bleiben die Dinge der Außenwelt fremdartig. Er hört aus seinem Innern das Wesen der Dinge nicht zu sich sprechen. Deshalb vermutet er, daß dieses Wesen hinter den Dingen verborgen sei. Er glaubt an eine Außenwelt noch hinter der Wahr-nehmungswelt. Aber die Dinge sind uns nur so lange fremd, solange wir sie bloß beobachten. Für den Menschen besteht nur so lange der Gegensatz von objektiver äußerer Wahrnehmung und subjektiver innerer Gedankenwelt, als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten nicht erkennt. Die menschliche Innenwelt gehört als ein Glied zum Weltprozeß wie jeder andere Vorgang.

Diese Gedanken werden nicht widerlegt durch die Tatsache, daß verschiedene Menschen sich verschiedene Vorstellungen von den Dingen machen. Auch nicht dadurch, daß die Organisationen der Menschen verschieden sind, so daß man nicht weiß, ob eine und dieselbe Farbe von verschiedenen Menschen in der ganz gleichen Weise gesehen wird. Denn nicht darauf kommt es an, ob sich die Menschen über eine und dieselbe Sache genau das gleiche Urteil bilden, sondern darauf, ob die Sprache, die das Innere des Menschen spricht, eben die Sprache ist, die das Wesen der Dinge ausdrückt. Die einzelnen Urteile sind nach der Organisation des Menschen und nach dem Standpunkte, von dem aus er die Dinge betrachtet, verschieden; aber alle Urteile entspringen dem gleichen Elemente und führen in das Wesen der Dinge. Dieses kann in verschiedenen Gedankennuancen zum Ausdruck kommen; aber es bleibt deshalb doch das Wesen der Dinge. [1] Der geistige Inhalt eines äußeren Dinges, der mir in meinem Inneren aufgeht, ist nichts zu der äußeren Wahrnehmung Hinzugedachtes. Er ist dies ebensowenig, wie der Geist eines anderen Menschen. Ich nehme durch den inneren Sinn diesen geistigen Inhalt ebenso wahr, wie durch die äußeren Sinne den physischen Inhalt. Mein Innenleben ist nur das Ergebnis rein sinnlicher Vorgänge, gehört mir nur als ganz individuelle Persönlichkeit an, die nichts ist als das Ergebnis ihrer physischen Organisation. Wenn ich dieses Innere auf die äußeren Dinge übertrage, so denke ich tatsächlich ins Blaue hinein. Mein persönliches Seelenleben, meine Gedanken, Erinnerungen und Gefühle sind in mir, weil ich ein so und so organisiertes Naturwesen bin. Diese meine menschliche Seele darf ich nicht auf die Dinge übertragen. Aber meine individuelle Seele ist nicht das höchste Geistige an mit. Dieses höchste Geistige muß in mir erst durch den inneren Sinn erweckt werden. Und dieses erweckte Geistige in mir ist zugleich ein und dasselbe mit dem Geistigen in allen Dingen. Vor diesem Geistigen erscheint die Pflanze unmittelbar in ihrer eigenen Geistigkeit. Ich brauche ihr nicht eine Geistigkeit zu verleihen, die ähnlich meiner eigenen ist. Für diese Weltanschauung verliert alles Reden über das unbekannte «Ding an sich» jeglichen Sinn. Denn es ist eben das «Ding an sich», das sich dem inneren Sinn enthüllt. Alles Reden über das unbekannte «Ding an sich» rührt nur davon her, daß diejenigen, die so reden, nicht imstande sind, in den geistigen Inhalten ihres Inneren die «Dinge an sich» wieder zu erkennen. Sie glauben in ihrem Inneren wesenlose Schatten und Schemen, «bloße Begriffe und Ideen» der Dinge zu erkennen. Da sie aber doch eine Ahnung von dem «Ding an sich» haben, so glauben sie, daß sich dieses «Ding an sich» verberge, und daß dem menschlichen Erkenntnisvermögen Grenzen gesteckt seien. Man kann solchen, die in diesem Glauben befangen sind, nicht beweisen, daß sie das «Ding an sich» in ihrem Inneren ergreifen müssen, denn sie würden dieses «Ding an sich», wenn man es ihnen vorwiese, doch niemals anerkennen. [2]

Zitate:

[1]  GA 30, Seite 203   (Ausgabe 1961, 629 Seiten)
[2]  GA 7, Seite 45f   (Ausgabe 1960, 150 Seiten)

Quellen:

GA 7:  Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung (1901)
GA 30:  Methodische Grundlagen der Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik und Seelenkunde (1884-1901)