Karmische Reihen
► Campanella

Es stieß mir bei der Betrachtung des 6. vorchristlichen Jahrhunderts, eigentlich in jener Zeit und etwas darnach, in welcher die Abführung der Juden in die babylonische Gefangenschaft stattgefunden hat, eine Individualität auf, eine Fraueninkarnation dazumal, die dem jüdischen Stamm angehörte, die aber bei jenem Abführen der Juden in die babylonische Gefangenschaft, das heißt eigentlich bevor die Juden in der babylonischen Gefangenschaft angekommen waren, entflohen ist und aufgenommen hat dann in Vorderasien in der folgenden Zeit – sie ist ziemlich alt geworden in jener Inkarnation – alle möglichen Lehren, die in Vorderasien dazumal aufzunehmen waren. Namentlich nahm sie dasjenige auf, was dazumal mit einer großen Intensität, mit starker Eindringlichkeit noch lebte in Vorderasien und was in der verschiedensten Weise jene Weltanschauung ausgestaltete, die man die Zarathustra-Weltanschauung nennen kann mit ihrem starken Dualismus. Diese Lehre war verknüpft mit einer eindringlichen Erkenntnis der Konstellation der Sterne in dem Sinne, wie man in den alten Zeiten Astrosophie oder Astrologie hatte. Das alles konnte jene Individualität eben dazumal in ihrer Fraueninkarnation dadurch aufnehmen, daß sie eine Art Lehrer und Freund in einer männlichen Persönlichkeit hatte, die in vieles dieser vorderasiatischen Lehren, namentlich auch in die chaldäische Sternkunde, eingeweiht war. Die weibliche Persönlichkeit wurde durch die Gewalt der Eindrücke, die sie erhielt, durch all das, was sie in einer außerordentlich empfänglichen, interessierten Weise aufnahm, innerlich schauend und konnte in Visionen, die durchaus die kosmische Ordnung wiedergaben, die Welt überblicken. Wir haben es da wirklich mit einer merkwürdigen Individualität zu tun, in der sozusagen alles das auflebt, was besprochen, was durchgenommen worden ist gemeinsam mit diesem befreundeten Halb-Initiaten Vorderasiens. Und es bemächtigte sich jener weiblichen Persönlichkeit eine Stimmung, von der man sagen kann: Ach, was waren schließlich all die Ideen, die ich aufgenommen habe während des Lernens, gegen das mächtige Tableau der Imaginationen, die jetzt vor meiner Seele stehen! Wie ist doch die Welt reich, innerlich reich und gewaltig! – Das merkte diese Persönlichkeit an den visionären Imaginationen. Und gerade diese Stimmung, die erzeugte nun eine gewisse Verstimmung zwischen den beiden Persönlichkeiten. Die männliche Persönlichkeit gab mehr auf das gedankliche Verfolgen der Weltanschauung, die weibliche Persönlichkeit ging immer mehr und mehr ins Bildhafte über. Und man kann sagen, daß beide Persönlichkeiten fast gleichzeitig durch die Pforte des Todes gingen, aber mit einer gewissen Verstimmung gegeneinander. Nun war ja das Ergebnis dieser Erdenleben in einer eigentümlichen Weise, ich möchte sagen, zusammenverschmolzen, so daß ungeheuer Intensives von den beiden Individualitäten nach dem Tode erlebt wurde im rückschauenden Leben und auch bei der Ausarbeitung des Karma zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. [1] Wir finden bei der weiblichen Persönlichkeit dann nach dem Tode für das nächste Erdenleben eine Art Sehnsucht aufsprießen, nun in diesem nächsten Erdenleben die Dinge in gedanklicher Form zu begreifen, während sie in diesem Erdenleben, das ich beschrieben habe, die Dinge mehr in sprachlicher Form begriffen hatte, so daß sie dann eigentlich aus dem sprachlichen Erleben in das visionäre Imaginieren hinübergegangen waren.

In dieser Strömung (des Marcianus Capella), in dem, was der Menschheit wird oder damals wurde unter dem Einflusse dessen, was in den 7 Freien Künsten und in der über ihnen waltenden Naturanschauung lag, in dieser ganzen Strömung stand nun drinnen wiederverkörpert diese weibliche Persönlichkeit, aber jetzt in männlicher Inkarnation; so in männlicher Inkarnation, daß sie vom Anfange an im männlichen Leibe, im männlichen Verstande die Anlage dazu trug, nicht gerade in Gedanken die Dinge auszubilden, die ihre Erkenntnisse sein sollten, sondern sie auszubilden eben in visionären Anschauungen. Man kann sagen: Vielleicht bei wenigen Persönlichkeiten der damaligen Zeit – im Beginne des 6. nachchristlichen Jahrhunderts, Ende des 5. nachchristlichen Jahrhunderts –, bei wenigen solchen Persönlichkeiten, die man als Schüler des Marcianus Capella bezeichnen kann, lebte in einer ganz anschaulich lebendigen Weise dasjenige, was dazumal geistiger Inhalt war. Die Persönlichkeit, die jetzt in ihrer männlichen Inkarnation war, konnte gerade sprechen von ihrem Umgang mit den inspirierenden Mächten, Dialektik, Rhetorik und so weiter, sie war ganz erfüllt von der Anschauung geistigen Wirkens. Und wiederum traf sie zusammen mit der anderen Persönlichkeit, die der männliche Geist in der vorigen Inkarnation war, die jetzt eine weibliche Individualität war. Aber etwas Merkwürdiges bildete sich heraus, daß, weil ja die Anschauungen so lebhaft waren, bei dieser (jetzt männlichen) Persönlichkeit ein starkes Wissen davon auftrat, wie mit der weiblichen Natur überhaupt zusammenhängt das visionäre Leben, das gerade diese Persönlichkeit hatte; es war eben jetzt herübergekommen aus der früheren weiblichen Inkarnation der ganze Grundcharakter des visionären Lebens. Und dadurch gingen dieser Persönlichkeit unzählige Geheimnisse auf, die sich auf die Wechselwirkung von Erde und Mond beziehen, unzählige Geheimnisse zum Beispiel, die sich auf das Fortpflanzungsleben beziehen. Gerade auf diesem Gebiete wurde jetzt diese nunmehr männliche Persönlichkeit außerordentlich bewandert. [2]

Diese Frau die das erste Mal durchaus aus jüdischem Stamme war, das zweite Mal der physischen Abstammung nach außerordentlich gemischtes Blut in sich trug, diese Persönlichkeit wurde dann im 16. Jahrhundert als der italienische Utopist Thomas Campanella geboren. Und während er einerseits Dominikaner mit vollem inneren Enthusiasmus wird, – gerade im Kloster von Cosenza macht er – und das ist das Merkwürdige die Bekanntschaft eines sehr geachteten jüdischen Kabbalisten und verbindet nun das Studium jüdischer Kabbalistik mit dem, was als Nachwirkung seines alten visionären Lebens heraufkommt, und verbindet das wiederum mit dem, was aus dem Thomismus innerhalb des Dominikanerordens geworden ist. Er nimmt teil an einer Verschwörung zur Befreiung Unteritaliens, schmachtet dann vom Jahre 1599 bis zum Jahre 1626 im Kerker, bringt also ein Leben zu, abgeschlossen von der Welt, ein Leben, das eigentlich auslöscht für 27 Jahre sein Erdendasein. [3] Jener jüdische Rabbiner, mit dem er in Cosenza Bekanntschaft gemacht hat und durch den er auf kabbalistische Weise sein Denken koloriert bekommen hat, so daß viel mehr, als sonst hätte in ihm leben können in ihm gelebt hat, jener jüdische Kabbalist ist der wiedergebore Mann von der ersten Inkarnation. So sehen wir ein Zusammenwirken, und als beide wiederum durch die Pforte des Todes gegangen sind, da sehen wir, daß sich in der Individualität, die zuletzt Thomas Campanella war, eine merkwürdige Opposition ausbildet gegen dasjenige, was er in früheren Erdenleben aufgenommen hat. Und er empfindet jetzt so, daß er sich sagt: Was hätte aus alledem werden können, wenn ich die Jahre nicht im Kerker in Finsternis geschmachtet hätte, wo ich nur durch Luken in das natürliche Sonnenlicht hinausgesehen habe! – Er kommt aber allmählich hinein in eine Art Ablehnung, Antipathie gegen das, was er früher, in vorchristlichen Zeiten, in den ersten Jahrhunderten als Geistesanschauung gehabt hat. Und so sehen wir hier das Merkwürdige vorliegen, daß, während das Zeitalter der Bewußtseinsseele heranrückt, im Übersinnlichen eine Individualität sich weiter entwickelt, die eigentlich feindlich wird demjenigen, was frühere Spiritualität war. Nun bildete sich für diese Persönlichkeit die Möglichkeit heraus, noch einmal in freiem Umgange mit der Welt das Erdenleben zu leben, das sie in der letzten Verkörperung im Campanella-Leben, in der Gefangenschaft verlebt hat. Das, was sie in der Finsternis der Gefangenschaft versäumt hatte, das ergab sich als Möglichkeit, in einem neuen Erdenleben durchlebt zu werden. Stellen Sie sich vor: Das wirkt jetzt, was dort versäumt worden ist, wo aber das andere alles, Spirituelles und Rationalistisches, hineinscheint. Durcheinander strahlt Hellsichtigkeit, Frauenhaß, entsprungen aus dem, was ich Ihnen geschildert habe, aber auch sehr starke Gescheitheit. Das alles spielt ineinander, spielt so ineinander, wie es als Ergebnis der Reifeentwickelung der Dreißigerjahre eines Renaissance-Menschen auftreten kann. Das wird im zweitletzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wiedergeboren. In den kindlichen Körper wird dasjenige hineingeboren, was eigentlich für eine spätere Lebensepoche bestimmt ist. Jetzt wird er wieder in eine männliche Inkarnation geboren. Es ist ja nur die Wiederholung der Gefangenschaftszeit. Der Junge wird außerordentlich frühreif. – Es dämmern wieder die alten Anschauungen des Astrologischen herauf, die alten Anschauungen des Spirituellen in der ganzen Natur, die ja so großartig waren bei dieser Individualität in den ersten christlichen Jahrhunderten. Es kommt allerdings in einer kindlichen Weise herauf, aber es lebt so stark in ihm, daß er geradezu eine Antipathie hat gegen die mathematisch gestaltete Naturwissenschaft. Dieser Knabe lernt außerhalb der Schule, nur weil zufällig der Vater eine Vorliebe dafür hat – das ergibt das Karma wiederum – rasch Spanisch. Das bedeutet nun eine vollständige Beeinflussung der ganzen Seelenverfassung. So daß dieser Grundton der Kerkerhaft, wo ihn doch die Empörung gegen die Spanier ausgefüllt hat, dadurch wiederum in seiner Seele heraufkommt, daß die spanische Sprache in ihm lebendig wird und seine Ideen, seine Gedanken durchdringt. Gerade was ihm das bitterste war während dieser Gefangenschaft, das kommt in dasjenige unterbewußte Gebiet hinein, wo die Sprache eben waltet. [4] Merkwürdige Neigungen traten auf bei Otto Weininger, sein Biograph schildert, daß er sich gegen das Ende seines Lebens die Gewohnheit aneignete, durch ganz dünne Löcher, die er sich machte, aus einem finsteren Raum in eine beleuchtete Fläche hinauszuschauen und daß ihm das eine besondere Freude machte. Sie haben da die innersten, unmittelbarsten Lebensgewohnheiten, das ganze Leben des Kerkers, wiederum hineinscheinend. Er zeigte natürlich auch die verschiedenen Abnormitäten, denn dieses Leben war die Wiederholung eines Kerkerlebens. Diese Epilepsie war die Wiederholung des Kerkerlebens, waren die Abwehrhandlungen, die jetzt keinen Sinn hatten in einem freien Leben, sondern die eben die karmischen Wiederholungen des Kerkerlebens waren. Und wundern wir uns nicht, daß er, als er im Anfang der Zwanzigerjahre ist, plötzlich den Drang verspürt, ganz allein aus dem Unbestimmten heraus Hals über Kopf eine Reise nach Italien zu machen. Während dieser Reise schreibt er ein ganz wunderbares kleines Buch «Über die letzten Dinge», wo Schilderungen von elementarischer Natur drinnen sind, die einem so erscheinen, als wenn jemand die Schilderungen der Atlantis karikieren will, ganz großartig, aber natürlich vom psychiatrischen Standpunkt aus ganz verrückt. Doch man muß das karmisch betrachten. Von Italien zurückgekehrt, schreibt er noch einige Gedanken auf, die ihm während der italienischen Reise gekommen sind, großartige Ideen über den Zusammenklang des Moralischen mit dem Natürlichen, mietet sich dann ein in Beethovens Sterbehaus, lebt da einige Tage in Beethovens Sterbezimmer und – er hat nun durchlebt die Gefangenschaft von früher – erschießt sich. [5] (Siehe auch für die inneren Seelenvorgänge unter: Weininger).

Zitate:

[1]  GA 238, Seite 135f   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)
[2]  GA 238, Seite 137ff   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)
[3]  GA 238, Seite 140f   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)
[4]  GA 238, Seite 143uf   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)
[5]  GA 238, Seite 147ff   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)

Quellen:

GA 238:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Vierter Band. Das geistige Leben der Gegenwart im Zusammenhang mit der anthroposophischen Bewegung (1924)