Schilderung von Teilen der übersinnlichen Welt
► Reinkarnation und die geistige Gestalt des Menschen

Bisher sind der Geist und die Seele nur betrachtet worden innerhalb der Grenzen, die zwischen Geburt und Tod liegen. Man kann gewiß vieles innerhalb dieser Grenzen finden, aber man kann nimmermehr aus dem, was zwischen Geburt und Tod liegt, die menschliche Gestalt erklären. Diese kann sich nicht aus bloßen physischen Stoffen und Kräften unmittelbar (also selbstorganisierend) auferbauen. Sie kann nur von einer ihr gleichen Gestalt abstammen, die sich auf Grund dessen ergibt, was sich fortgepflanzt hat. Die physischen Stoffe und Kräfte bauen den Leib während des Lebens auf: die Kräfte der Fortpflanzung lassen aus ihm einen andern hervorgehen, der seine Gestalt haben kann, also einen solchen, der Träger desselben Lebensleibes oder Ätherleibes sein kann. – Jeder Ätherleib ist eine Wiederholung seines Vorfahren. Nur weil er dieses ist, erscheint er nicht in jeder beliebigen Gestalt, sondern in derjenigen, die ihm vererbt ist. Die Kräfte, die meine Menschengestalt möglich gemacht haben, lagen in meinen Vorfahren. Aber auch der Geist des Menschen erscheint in einer bestimmten Gestalt – wobei das Wort Gestalt natürlich geistig gemeint ist. Und die Gestalten des Geistes sind die denkbar verschiedensten bei den einzelnen Menschen. Nicht zwei Menschen haben die gleiche geistige Gestalt. Man muß auf diesem Gebiete nur ebenso ruhig und sachlich beobachten wie auf dem physischen. Man kann nicht sagen, die Verschiedenheiten der Menschen in geistiger Beziehung rühren allein von den Verschiedenheiten ihrer Umgebung, ihrer Erziehung und so weiter her. Nein, das ist durchaus nicht der Fall; denn zwei Menschen entwickeln sich unter den gleichen Einflüssen der Umgebung, der Erziehung und so weiter in ganz verschiedener Art. Deshalb muß man zugeben, daß sie mit ganz verschiedenen Anlagen ihren Lebensweg angetreten haben. Eine sachgemäße Beobachtung ergibt, daß die äußeren Umstände auf verschiedene Personen in verschiedener Art durch etwas wirken, das gar nicht unmittelbar mit der stofflichen Entwickelung in Wechselbeziehung tritt. Für den wirklich genauen Erforscher auf diesem Gebiete zeigt sich, daß, was aus den stofflichen Anlagen kommt, sich unterscheiden läßt von dem, was zwar durch Wechselwirkung des Menschen mit den Erlebnissen entsteht, aber nur dadurch sich gestalten kann, daß die Seele selbst diese Wechselwirkung eingeht. Die Seele steht da deutlich mit etwas innerhalb der Außenwelt in Beziehung, das, seinem Wesen nach, keinen Bezug zu stofflichen Keimanlagen haben kann. [1] So wie die physische Ähnlichkeit der Menschen klar vor Augen liegt, so enthüllt sich dem vorurteilslosen geistigen Blicke die Verschiedenheit ihrer geistigen Gestalten. – Es gibt eine offen zutage liegende Tatsache, durch welche dies zum Ausdrucke kommt. Sie besteht in dem Vorhandensein der Biographie eines Menschen. Wer über das Wesen der Biographie nachdenkt, der wird gewahr, daß in geistiger Beziehung jeder Mensch eine Gattung für sich ist. Wird nun die Art oder Gattung im physischen Sinne nur verständlich, wenn man sie in ihrer Bedingtheit durch die Vererbung begreift, so kann auch die geistige Wesenheit nur durch eine ähnliche «geistige Vererbung» verstanden werden. [2]

Als physischer Mensch stamme ich von anderen physischen Menschen ab, denn ich habe dieselbe Gestalt wie die ganze menschliche Gattung. Die Eigenschaften der Gattung konnten also innerhalb der Gattung durch Vererbung erworben werden. Als geistiger Mensch habe ich meine eigene «Gestalt», wie ich meine eigene Biographie habe. Ich kann also diese «Gestalt» von niemand anderem haben als von mir selbst. Und da ich nicht mit unbestimmten, sondern mit bestimmten seelischen Anlagen in die Welt eingetreten bin, da durch diese Anlagen mein Lebensweg, wie er in der Biographie zum Ausdruck kommt, bestimmt ist, so kann meine Arbeit an mir nicht bei meiner Geburt begonnen haben. Ich muß als geistiger Mensch vor meiner Geburt vorhanden gewesen sein. In meinen Vorfahren bin ich sicher nicht vorhanden gewesen, denn diese sind als geistige Menschen von mir verschieden. Meine Biographie ist nicht aus der ihrigen erklärbar. Ich muß vielmehr als geistiges Wesen die Wiederholung eines solchen sein, aus dessen Biographie die meinige erklärbar ist. Der andere zunächst denkbare Fall wäre der, daß ich die Ausgestaltung dessen, was Inhalt meiner Biographie ist, nur einem geistigen Leben vor der Geburt, beziehungsweise vor der Empfängnis, verdanke. Zu dieser Vorstellung hätte man aber nur Berechtigung, wenn man annehmen wollte, daß, was auf die Menschenseele aus dem physischen Umkreis herein wirkt, gleichartig sei mit dem, was die Seele aus einer nur geistigen Welt hat. Eine solche Annahme widerspricht der wirklich genauen Beobachtung. Denn was aus dieser physischen Umgebung bestimmend für die Menschenseele ist, das ist so, daß es wirkt wie ein später im physischen Leben Erfahrenes auf ein in gleicher Art früher Erfahrenes. Um diese Verhältnisse richtig zu beobachten, muß man sich den Blick dafür aneignen, wie es im Menschenleben wirksame Eindrücke gibt, die so auf die Anlagen der Seele wirken wie das Stehen vor einer zu verrichtenden Tat gegenüber dem, was man im physischen Leben schon geübt hat; nur daß solche Eindrücke eben nicht auf ein in diesem unmittelbaren Leben schon Geübtes auftreffen, sondern auf Seelenanlagen, die sich so beeindrucken lassen wie die durch Übung erworbenen Fähigkeiten. Wer diese Dinge durchschaut, der kommt zu der Vorstellung von Erdenleben, die dem gegenwärtigen vorangegangen sein müssen. (Eine Ansicht die auch heute noch für eine Vielzahl der Menschen, vor allem außerhalb Europas, eine Selbstverständlichkeit ist). Man kann denkend nicht bei rein geistigen Erlebnissen vor diesem Erdenleben stehen bleiben. [3] Physischer Körper, Ätherleib und Seelenleib machen in gewisser Beziehung ein Ganzes aus. Daher ist auch der Seelenleib in die Gesetze der physischen Vererbung, durch die der Leib seine Gestalt erhält, mit einbezogen. Und da er die beweglichste, gleichsam flüchtigste Form der Leiblichkeit ist, so muß er auch die beweglichsten und flüchtigsten Erscheinungen der Vererbung zeigen. Während daher der physische Leib nur nach Rassen, Völkern, Stämmen am wenigsten verschieden ist und der Ätherleib zwar eine größere Abweichung für die einzelnen Menschen, aber doch noch eine überwiegende Gleichheit aufweist, ist diese Verschiedenheit beim Seelenleib schon eine sehr große. In ihm kommt zum Ausdruck, was man schon als äußere, persönliche Eigenart des Menschen empfindet. Er ist daher auch der Träger dessen, was sich von dieser persönlichen Eigenart von den Eltern, Großeltern und so weiter auf die Nachkommen vererbt. – Zwar führt die Seele als solche, wie auseinandergesetzt worden ist, ein vollkommenes Eigenleben; sie schließt sich mit ihren Neigungen und Abneigungen, mit ihren Gefühlen und Leidenschaften in sich selbst ab. Aber sie ist doch als Ganzes wirksam, und deshalb kommt auch in der Empfindungsseele dieses Ganze zur Ausprägung. Und weil die Empfindungsseele den Seelenleib durchdringt, gleichsam ausfüllt, so formt sich dieser nach der Natur der Seele, und er kann dann als Vererbungsträger die Neigungen, Leidenschaften und so weiter von den Vorfahren auf die Nachkommen übertragen. [4]

Tritt der menschliche Geist an ein solches Erlebnis heran, das einem andern ähnlich ist, mit dem (er) schon einmal verknüpft war, so sieht er in ihm etwas Bekanntes und weiß sich ihm gegenüber anders zu verhalten, als wenn es zum erstenmal ihm gegenüberstände. Darauf beruht ja alles Lernen. Und die Früchte des Lernens sind angeeignete Fähigkeiten. – Dem ewigen Geiste werden auf diese Art Früchte des vorübergehenden Lebens eingeprägt. – Und nehmen wir nicht diese Früchte wahr? Worauf beruhen die Anlagen, die als das Charakteristische des geistigen Menschen oben dargelegt worden sind? Doch nur in Fähigkeiten zu diesem oder jenem, die der Mensch mitbringt, wenn er seinen irdischen Lebensweg beginnt. Es gleichen in gewisser Beziehung diese Fähigkeiten durchaus solchen, die wir uns auch während des Lebens aneignen können. Man nehme das Genie eines Menschen. Von Mozart ist bekannt, daß er als Knabe ein einmal gehörts langes musikalisches Kunstwerk aus dem Gedächtnisse aufschreiben konnte. Er war dazu nur fähig, weil er das Ganze auf einmal überschauen konnte. Will man solche Fähigkeiten, die in Anlagen begründet sind, nicht als Wunder anstaunen, so muß man sie für Früchte von Erlebnissen halten, die das Geistselbst durch eine Seele gehabt hat. Sie sind diesem Geistselbst eingeprägt worden. Und da sie nicht in diesem Leben eingepflanzt worden sind, so in einem früheren. Der menschliche Geist ist seine eigene Gattung. Und wie der Mensch als physisches Gattungswesen seine Eigenschaften innerhalb der Gattung vererbt, so der Geist innerhalb seiner Gattung, das heißt innerhalb seiner selbst. In einem Leben erscheint der menschliche Geist als Wiederholung seiner selbst mit den Früchten seiner vorigen Erlebnisse in vorhergehenden Lebensläufen. [5]

Zitate:

[1]  GA 9, Seite 68ff   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[2]  GA 9, Seite 70ff   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[3]  GA 9, Seite 72ff   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[4]  GA 9, Seite 76f   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[5]  GA 9, Seite 78f   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)