Schilderung von Teilen der übersinnlichen Welt
► Geisteswissensschafter

Es gibt einen schönen Anblick: es ist der Anblick desjenigen, der in ruhiger Klarheit, aber mit innerem Feuer und Enthusiasmus, weil es ihm eine Notwendigkeit ist, für das spirituelle Geistesgut sich erwärmen kann. Es gibt einen anderen (gegenteiligen) Anblick: das ist der, wo man möglichst versucht, durch das spirituelle Geistesgut eingelullt zu werden, träumerisch zu werden, hingegossen warm zu werden, aufzugehen in die universellen Kräfte, die Seele zu vereinigen mit dem göttlichen All. Das sind Gegensätze, die man in der Gegenwart doch wohl beobachten kann, Gegensätze, für die es notwendig ist, sie zu beobachten. Denn es wird nicht leicht werden, das spirituelle Geistesgut der Menschenkultur einzuverleiben. Und es muß hinein, denn die Menschenkultur braucht es. [1]

Man darf deshalb auch nicht gar zu ungerecht sein gegen diejenigen, welche den Anthroposophen nicht verstehen können, weil ihnen ja alle Vorbereitungen dazu fehlen, welche unbedingt erforderlich sind, um die Ergebnisse der Geistesforschung erfassen zu können, und so müssen sie, in den meisten Fällen, schon in den Worten und auch in den Begriffen etwas ganz anderes denken als das, was gemeint ist. Deshalb kann in weitem Umfange ein größeres Verständnis für die Geisteswissenschaft nur dadurch erzielt werden, daß man ganz unverhohlen vom spirituellen Standpunkt aus auch vor einem unvorbereiteten Publikum spricht. Dann wird es unter diesen unvorbereiteten Leuten eine große Anzahl von solchen geben, welche sagen: Das ist ja alles nur Torheit, Phantasterei, nur ausgeklügeltes dummes Zeug, was da vorgebracht wird! – Einige aber wird es immer geben, die durch die innersten Bedürfnisse ihrer Seele zuerst eine Ahnung davon bekommen, daß doch etwas dahintersteckt, und die werden weitergehen und sich nach und nach einleben. Solches geduldiges Einleben ist es, worauf es ankommen muß, und das ist es auch, was wir erzielen können. [2]

Die (geisteswissenschaftlichen) Ideen sollen uns durchdringen mit Wärme, sollen zu Impulsen, zu Gemütskräften in uns werden. Das werden sie immer mehr und mehr, wenn uns die Antworten, die wir auf bestimmte Fragen bekommen, sozusagen neue Fragen vorlegen, und wenn wir so geführt werden von Frage zu Antwort und die Antwort uns eigentlich wiederum zu einer Frage wird, und dann uns wieder eine neue Antwort kommt und so weiter. Dadurch schreitet man vorwärts in der geistigen Erkenntnis und auch im geistigen Leben. [3]

Man muß Augen haben, in denen sich Vorgänge abspielen, um über das Reich der Farben etwas zu erfahren. Aber man erfährt dadurch nicht nur etwas über das Auge, sondern über die Welt. – Man muß ein inneres Seelenorgan haben, um gewisse Dinge der Welt zu erfahren. Aber man muß die volle Begriffsklarheit in die Erfahrungen des mystischen Organes bringen, wenn Erkenntnis entstehen soll. Es gibt aber Leute, die wollen in das «Innere» sich flüchten, um der Begriffsklarheit zu entfliehen. Diese nennen «Mystik», was die Erkenntnis aus dem Licht der Ideen in das Dunkel der Gefühlswelt – der nicht von Ideen erhellten Gefühlswelt – führen will. Gegen diese Mystik sprechen meine Schriften überall; für die Mystik, welche die Ideenklarheit denkerisch festhält und zu einem seelischen Wahrnehmungsorgan den mystischen Sinn macht, der in derselben Region des Menschenwesens tätig ist, wo sonst die dunklen Gefühle walten, ist jede Seite meiner Bücher geschrieben. Dieser Sinn ist für das Geistige völlig gleichzustellen dem Auge oder Ohr für das Physische. [4]

Es ist im Grunde genommen recht egoistisch, wenn wir anfangen, uns für Anthroposophie zu begeistern, weil uns die Gedanken der Anthroposophie begeistern, uns als wahr erscheinen. Denn was befriedigen wir dann? Wir befriedigen das, was unsere Sehnsucht nach einer harmonischen Weltanschauung ist. Das ist sehr schön. Das Größere ist aber, wenn wir unser ganzes Leben durchdringen von dem, was sich aus diesen Ideen ergibt; wenn die Ideen in die Hände, in jeden Schritt und in alles gehen, was wir erleben und tun. Dann erst wird Anthroposophie ein Lebensprinzip, und bevor sie das nicht wird, hat sie keinen Wert. [5] Ich gebe zu, daß durch die Schnelligkeit, mit der die Lehren der anthroposophisch orientierten Weltanschauung an die Mitglieder der anthroposophischen Bewegung herangetreten sind, wirklich zuweilen die Tatsache vorlag, daß das Spätere das Frühere ausgelöscht hat. Hätte man manchmal zu demjenigen was man im Laufe einer Woche vorzubringen hatte, einen Monat oder noch länger Zeit gehabt, hätte man es in kleinen Portionen bieten können, was durch den Drang der Zeit (gesprochen November 1918) notwendigerweise schnell an die Herzen herangebracht werden mußte, es wäre vielleicht tiefer in die Seelen hineingezogen. Aber das ging ja nicht. Die Zeit drängte, und die Ereignisse (Weltkrieg) haben bewiesen, daß die Zeit drängte. [6]

Es gibt in der Gegenwart viele Menschen, die ihren gewöhnlichen Egoismus in einen raffinierten Egoismus verwandelt haben. Sie nennen es theosophische (oder selbstverständlich auch anthroposophische) Entwickelung, wenn sie ihr gewöhnliches, alltägliches Selbst so hoch wie möglich steigern. Sie möchten das Persönliche ja recht hervorholen. Die wirkliche okkulte Erkenntnis zeigt dem Menschen dagegen, wie sich sein Inneres aufschließt, wenn er sein höheres Selbst in der Welt erkennen lernt. Wenn der Mensch in der Kontemplation diese Gesinnung herangebildet hat, wenn sein Selbst über alle Dinge ausfließt, wenn er die Blume, die ihm entgegenwächst, so fühlt wie den Finger, den er sich selbst entgegenbewegt, wenn er weiß, daß die ganze Erde und die ganze Welt sein Leib ist, dann lernt er sein höheres Selbst erkennen. [7]

Es wird auch heute wie zu allen Zeiten an diesen Vorstellungen (über Wiederverkörperung und Karma) viel herumkritisiert. Was da aber kritisiert wird, sind nur die willkürlichen Gedanken der Kritiker selbst (über Wiederverkörperung und Karma); und die sind ganz ohne Belang. – Im übrigen soll aber durchaus zugestanden werden, daß viele Anhänger der Wiederverkörperungs-Idee auch keine besseren Vorstellungen von ihr haben, als deren Gegner. – Es soll hier natürlich nicht behauptet werden, daß heute jeder diese Lehren versteht, der sie verteidigt. Auch unter diesen Verteidigern gibt es viele, die durchaus zu bequem oder zu – selbstbewußt sind, um schweigend zu lernen, bevor sie lehren. [8]

Zitate:

[1]  GA 183, Seite 58   (Ausgabe 1967, 195 Seiten)
[2]  GA 107, Seite 26f   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[3]  GA 118, Seite 11   (Ausgabe 1977, 234 Seiten)
[4]  GA 2, Seite 140   (Ausgabe 1960, 150 Seiten)
[5]  GA 125, Seite 219   (Ausgabe 1973, 278 Seiten)
[6]  GA 185a, Seite 177   (Ausgabe 1963, 237 Seiten)
[7]  GA 96, Seite 152   (Ausgabe 1974, 350 Seiten)
[8]  GA 34, Seite 60   (Ausgabe 1960, 627 Seiten)

Quellen:

GA 2:  Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit besonderer Rücksicht auf Schiller (1886)
GA 34:  Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften «Luzifer» und «Lucifer – Gnosis» 1903 – 1908 (1903-1908)
GA 96:  Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft. Christliche Esoterik im Lichte neuer Geist-Erkenntnis (1906/1907)
GA 107:  Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (1908/1909)
GA 118:  Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt (1910)
GA 125:  Wege und Ziele des geistigen Menschen. Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1910)
GA 183:  Die Wissenschaft vom Werden des Menschen (1918)
GA 185a:  Entwicklungsgeschichtliche Unterlagen zur Bildung eines sozialen Urteils (1918)