Selbstsucht

Aller Eigenwille, alle Selbstsucht wirkt zerstörend auf das Denken. Alle Eigenschaften, die mit Eigenwille und Selbstsucht zusammenhängen, wie Ehrgeiz, Eitelkeit, alle diese Dinge, die scheinbar auf etwas anderes gehen, machen unser Denken ungesund und wirken auf unsere Stimmung in ungünstigem Sinne zurück. In der Tat, Selbstsucht und Egoismus strafen sich dadurch, daß der Selbstsüchtige immer unzufriedener und unzufriedener wird, immer mehr klagt, daß sein Selbst zu kurz gekommen sei. Wo jemand dies in sich spürt, sollte er sich unters Karmagesetz stellen und sich fragen, wenn er unzufrieden ist: Welche Selbstsucht hat mir meine Unzufriedenheit herangezogen? [1]

Die orientalische Weisheit ging darauf hinaus, das Ich nur ja nicht zu erleben, sondern es zu überwinden, es auszulöschen. Die Selbstsucht, die Ichsucht, liegt nämlich vor dem Finden des Ich. Solange man sucht das Ich, solange entwickelt man die Selbstsucht, und von der Selbstsucht befreit nur das Finden des Ich. In dem Finden des Ich liegt die einzig wirkliche Überwindung der Selbstsucht. Die Selbstsucht der Erkenntnis, die sich von der Welt zurückzieht, nicht das Unsterbliche, das Geistige der Wirklichkeit suchen will, sondern vor der Wirklichkeit zurückzuckt, um in ihren Träumen selbstsüchtig nach einer Erkenntnis zu suchen, das ist die schlimmste Selbstsucht. [2] Wenn der Mensch durch gehörige Meditation, durch Konzentrieren seines ganzen Seelenlebens die in der Tiefe der Seele ruhenden Kräfte herauszuholen sucht, (dann) wird eine Eigenschaft, die sonst in der Seele immer vorhanden ist, die aber im gewöhnlichen Leben durch verhältnismäßig leichte Maßnahmen besiegt werden kann, mit den anderen in den Tiefen der Seele sonst schlummernden Eigenschaften mitverstärkt, mitgekräftigt. Denn anders geht die geistige Entwickelung nicht vor sich, als daß man in einer gewissen Beziehung das ganze Seelenleben innerlich regsamer, energischer macht. Diejenige Eigenschaft, welche so mit dem, was man gerade zu verstärken sucht, mitverstärkt wird, ist das, was man den Selbstsinn, die Selbstliebe des Menschen nennen kann. Ja, man darf sagen, diesen Selbstsinn, diese Selbstliebe des Menschen lernt man eigentlich erst recht kennen, wenn man eine geisteswissenschaftliche Schulung durchmacht. Man weiß dann erst, wie tief diese Selbstliebe in des Menschen Seele vorhanden ist, dort schlummert. [3] (Siehe auch: Egoismus).

Da trete denn ein Mensch auf und sage: «Ich will einmal in der Welt wirken in selbstloser Weise.» Aber nun, wenn wir weiter fragten: «Warum willst du selbstlos sein?», dann erhielten wir eine merkwürdige Antwort: «Ich komme zu einer höheren Stufe der Vollkommenheit, ich will ein wertvoller Mensch sein.» Wenn man dieses Gefühl analysiert, sehe man: der unglaublichste Egoismus steckt dahinter. «Malen Sie sich das aus: Sie werden sehen, wieviel Selbstsucht im Drang nach Selbstlosigkeit steckt!» [4]

Zitate:

[1]  GA 130, Seite 134   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[2]  GA 167, Seite 281   (Ausgabe 1962, 312 Seiten)
[3]  GA 62, Seite 388   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[4]  Kle, Seite 0   (Ausgabe 1990, 0 Seiten)

Quellen:

GA 62:  Ergebnisse der Geistesforschung (1912/1913)
GA 130:  Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit (1911/1912)
GA 167:  Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste (1916)
Kle:  Ludwig Kleeberg: Wege und Worte (1990)