Schulung esoterische
► Das wahre Ich

Und gelangt man nun dazu, wenn man auf diese Weise (durch das unaussprechliche Wort, siehe oben) die Erfahrungen der schweigenden Seele erlebt, zu erkennen: Was du da zuerst gehabt hast, diese Welt des verstärkten Denkens, das ist im Grunde genommen nur ein Bild, ein Bild von dem, was du jetzt erst schaust. Und jetzt kommt man auch in die Lage, dieses ganze Lebenstableau, das man sich zuerst gebildet hat, das das Erdenleben ätherisch vor uns hinzaubert, auch auszulöschen, so daß gegenüber dem eigenen Leben, wie wir es auf Erden führen, nun auch die innere Schweigsamkeit der Seele auftritt. Die Illusion jenes Ichs, das nur mit dem physischen Leibe leben kann, die hört jetzt auf. Derjenige, der zu stark durch einen theoretischen oder praktischen Egoismus an seinem Ich festhält, der kommt nicht dazu, dieses Schweigen der Seele gegenüber dem eigenen Lebenstableau herzustellen. Bekämpft man den theoretischen und praktischen Egoismus, wird man sich klar darüber, daß man zunächst ja dieses Ich dadurch hat, daß man sich im physischen Leben seines Körpers bedienen kann, daß der Körper uns die Möglichkeit gibt, zu uns Ich zu sagen. Kommt man dann von diesem körperlichen Ich-Empfinden in das, was ich als ätherische Welt geschildert habe, hinein, wo man zusammenströmt mit der Welt, wo die Welt ätherisch eins ist mit dem eigenen Ätherischen, dann kommt man schon dazu, an diesem Ich nicht mehr festzuhalten, und dann erlebt man dasjenige, von dem dieses Lebenstableau, zu dem man sich aufgeschwungen hat, ein Abbild ist. Man erlebt sein vorirdisches Dasein. [1]

Und indem sich die Liebekraft, das Aufgehen in anderes hinzugesellt zu dem verstärkten Denken und zu dem Schweigen der Seele, kommt man an ein Drittes. Man kommt jetzt zum erkennenden Eingreifen der wahren Gestalt des menschlichen Ich. Hat man sich das errungen, und tritt dazu eine erhöhte, eine verstärkte Liebefähigkeit, die Möglichkeit, sich aufzuopfern in dem, was man da schaut, sich hinzugeben mit seinem ganzen leibbefreiten Sein, dann tritt die Erkenntnis von dem ein, was man in unmittelbarer Gegenwart hat, unabhängig vom physischen und auch ätherischen Menschenleibe. Man erlangt eine unmittelbare Anschauung desjenigen, was in einem ruht, und was durch die Pforte des Todes in das nachirdische Dasein geht, wo wir wiederum eintreten in eine geistige Welt. Dadurch, daß der Mensch kennengelernt hat, was er ist im leibfreien Zustande, dadurch lernt er auch dasjenige kennen, was leibfrei weiterexistiert, wenn der physische Leib mit dem Tode abgelegt ist. Sie sehen, alles läuft darauf hinaus, zur Anschauung zu kommen über das Ewige der Menschenseele. Aber man gelangt dadurch überhaupt zu der Anschauung des wahren Ich, jenes Ich, das durch die Geburt, durch den Tod geht, das im Leibe, man kann nicht sagen wohnt, sondern im Leibe ruht. Aber dieses Ich lernt man zugleich erkennen, wie es sich bewegt, wie es tätig ist in der geistigen Welt im vorirdischen Dasein. [2]

Das Ich ist nicht nur ein Punkt, der sich allmählich durch Herauswachsen der Stirnpartie und das Einziehen des Ätherleibes an der oberen Nasenwurzel vereinigt hat (siehe: Aura), sondern es existiert noch ein zweiter Punkt vor ihm. Die Verbindungslinie zu diesem wechselt, die Richtung dieser Linie weist nach dem Mittelpunkt der Sonne. Je mehr sich der Mensch entwickelt, desto näher kommen sich diese Punkte. Der sich entwickelnde Mensch muß sich in diesen zweiten Punkt versetzen, das heißt nach außen, und er muß lernen, auf seinen Körper zu blicken wie auf sonst etwas Physisches außer ihm. [3]

Zitate:

[1]  GA 84, Seite 28ff   (Ausgabe 1961, 291 Seiten)
[2]  GA 84, Seite 32f   (Ausgabe 1961, 291 Seiten)
[3]  GA 264, Seite 193   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)

Quellen:

GA 84:  Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie? (1923/1924)
GA 264:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904 bis 1914. Briefe, Rundbriefe, Dokumente und Vorträge (1904-1914)