Pralaya

Man hat sich vorzustellen, daß die Entwickelung des Menschen und seines Weltkörpers nicht so allmählich verläuft wie etwa der Durchgang des einzelnen Menschen durch das Säuglings-, Kindheitsalters und so weiter, wo ein Zustand in den anderen mehr oder weniger unvermerkt übergeht. Es sind vielmehr gewisse Unterbrechungen vorhanden. Zwischen Saturn- und Sonnenentwickelung und ebenso zwischen den folgenden Formen des menschlichen Weltkörpers sind Zwischenzustände, die man vergleichen könnte mit der Nacht zwischen zwei Tagen, oder mit dem schlafähnlichen Zustand, in dem sich ein Pflanzenkeim befindet, ehe er sich wieder zur vollen Pflanze entwickelt. – In Anlehnung an morgenländische Darstellungen des Sachverhalts nennt die heutige Theosophie einen Entwickelungszustand, in dem das Leben äußerlich entfaltet ist Manvantara, den dazwischenliegenden Ruhezustand Pralaya. So wenig der Mensch während seines Schlafes aufhört zu leben, ebensowenig erstirbt sein und seines Weltkörpers Leben während eines Pralaya. Nur sind die Lebenszustände in den Ruhepausen mit den Sinnen, die sich während des Manvantara ausbilden, nicht wahrzunehmen, wie auch der Mensch während des Schlafes nicht wahrnimmt, was um ihn herum sich abspielt. [1] Sie dürfen sich aber nicht vorstellen, daß der Durchgang eines Planeten durch einen solchen Schlafzustand etwa ein Durchgehen durch die Tatenlosigkeit wäre, ein Zustand der Nichtigkeit. Das ist er ebensowenig, wie der Devachanzustand des Menschen (siehe: Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt). Es sind alle diese Durchgänge ein Gehen durch himmlische, höhere Zustände, worin Wichtiges für die Planeten vorgeht. [2] Man bedenke, daß die Arbeit der höheren Geister, nicht mit Anfang und Ende eines Kreislaufes zusammenfällt, sondern daß sie von der Mitte des einen bis zur Mitte des nächsten geht. Und ihre größte Tätigkeit entfaltet sie gerade in den Ruhepausen zwischen den Kreisläufen. Sie steigt von der Mitte eines Kreislaufes, Manvantara an, wird am stärksten in der Mitte einer Ruhepause, Pralaya und flutet dann im nächsten Kreislauf ab. [3]

(In einem Pralaya) nehmen die Urbilder wieder die Abbilder auf, saugen sie gleichsam auf. Es bildet sich wieder ein Welten-Devachan, eine Weltennacht. [4]

Zwischen dem Erdenmanvantara und dem nächsten Planeten (siehe: Jupiter künftiger) lebt der Mensch in einem Pralaya. Außen herum ist dann gar nichts; aber alle Kräfte, die der Mensch aus der Erde herausgezogen hat, sind dann in ihm. In einem solchen Lebensabschnitt geht alles Äußere nach innen. Es ist dann alles samenhaft vorhanden und lebt sich hinüber zum nächsten Manvantara. Im Großen ist das ein ähnlicher Zustand, wie wenn wir im Augenblicke des Nachdenkens alles um uns herum vergessen und uns nur erinnern an die Erfahrungen, um sie im Gedächtnis aufzubewahren und später anzuwenden. So erinnert sich die ganze Menschheit an alle Erfahrungen, um sie nachher wieder auszunützen. [5]

Ein Wesen, welches so hoch entwickelte Erkenntnisfähigkeiten hätte, daß es alle Einzelheiten der Monden- und Erdentwickelung wahrnehmen könnte, brauchte deshalb noch nicht imstande zu sein, auch das zu schauen, was zwischen den beiden Entwickelungen geschieht. Für ein solches Wesen würden gewissermaßen am Ende der Mondenzeit die Wesen und Kräfte in ein Nichts entschwinden und nach Ablauf einer Zwischenzeit wieder hervortreten aus dem Dämmerdunkel des Weltenschoßes. Nur ein Wesen mit noch weit höheren Fähigkeiten könnte die geistigen Tatsachen verfolgen, welche sich in der Zwischenzeit ereignen. [6] Im Pralaya ist der Planet nur noch für die höchsten Formen des hellseherischen Beobachtens vorhanden. [7]

Eine solche Zwischenzeit ist immer damit verbunden, daß nicht nur der einzelne Planet, sondern alles, was um ihn herum ist, sich verändert, in das Chaos geht. Nicht nur die Erde selbst wird anders im (nächsten) Pralaya, sondern auch der zur Erde hinzugehörige Himmel. Was aber der Erde gegeben worden ist durch das Wort, das der Christus gesprochen hat, das er entzündet hat in denen, die ihn erkannten, und das fortdauern wird in denen, die ihn erkennen, das ist die wahre Essenz des Erdendaseins: «Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen.» [8]

Wie in einer Art von Keimzustand ist beim Übergang vom alten Mond zur Erde alles hineingegangen, was auf dem alten Mond existiert hat, und daraus ist dann später das hervorgegangen, was auf der Erde vorhanden ist. Aber mit diesem Hervorgehen aus dem Weltenschlaf sind alle einzelnen planetarischen Sphären auch erst hervorgegangen. So waren die Planeten-Sphären zur alten Mondenzeit nicht, wie sie heute sind. (Nach dem Pralaya) entwickeln sich heraus die Welten-Sphären, die Planeten-Sphären; die gehören dazu, wie sie jetzt sind. Daher können wir bis in die Saturn-Sphäre hinausgehen, und wir haben darin das, was sich erst zwischen der alten Monden- und Erdenzeit im Kosmos herausgebildet hat. Wenn wir aber den Christus-Impuls nehmen, so gehört er nicht zu dem, was sich während dieser Zeit im Kosmos herausgebildet hat, sondern zu dem, was schon der alten Sonne angehört hat. [9]

Die esoterische Philosophie aller Zeiten bezeichnet das Weltall in seinen Tiefen als ein rhythmisches Leben des Weltengeistes. Die indische Philosophie zum Beispiel spricht von dem Ein- und Ausatmen Brahmas. Brahma macht verschiedene Stadien seines göttlichen Lebens durch. Diese Stadien verlaufen so, daß sie mit einem Ein- und Ausatmen des göttlichen Urgeistes verglichen werden können. Das Ausatmen wurde ein Weltentstehen, das Einatmen ist der Übergang von einer Welt die ihre Aufgabe erfüllt hat, in eine Art von Schlafzustand, der dann überzugehen hat in ein neues Dasein, in eine neue Ausatmung. So wechseln fortwährend die Zustände der offenbaren Welt und die Zustände der Ruhe. Manvantara und Pralaya, das sind die Zustände der Offenbarung und die Zustände der in sich selbst ruhenden Gottheit. [10]

Zitate:

[1]  GA 11, Seite 142f   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[2]  GA 99, Seite 103   (Ausgabe 1962, 172 Seiten)
[3]  GA 11, Seite 169   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[4]  GA 112, Seite 60   (Ausgabe 1959, 292 Seiten)
[5]  GA 93a, Seite 110   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[6]  GA 13, Seite 218   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[7]  GA 104, Seite 110   (Ausgabe 1979, 284 Seiten)
[8]  GA 139, Seite 205   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[9]  GA 141, Seite 187   (Ausgabe 1983, 200 Seiten)
[10]  GA 88, Seite 48   (Ausgabe 1999, 256 Seiten)

Quellen:

GA 11:  Aus der Akasha-Chronik (1904/1908)
GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 88:  Über die astrale Welt und das Devachan (1903-1904)
GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 99:  Die Theosophie des Rosenkreuzers (1907)
GA 104:  Die Apokalypse des Johannes (1908)
GA 112:  Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium (1909)
GA 139:  Das Markus-Evangelium (1912)
GA 141:  Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen (1912/1913)