Rudolf Steiners autobiographische Skizze

Es berührte mich (Herbert Hahn) sehr, als – schon nach dem Tode von Rudolf Steiner – der Ausspruch eines bekannten Journalisten durch die Presse ging. Es handelte sich um den französischen Journalisten Jules Sauerwein. Er, der in aller Welt gereist und mit Hunderten von prominenten Zeitgenossen in Berührung gekommen war, wurde eines Tages gefragt, welche Persönlichkeit denn wohl auf ihn den stärksten Eindruck gemacht habe. Er zögerte nicht zu antworten: «Von allen den Königen, Fürsten, Präsidenten, Ministern, Wissenschaftlern, Künstlern, Schriftstellern und prominenten Persönlichkeiten des wirtschaftlichen und praktischen Lebens, die ich im Laufe meiner jahrzehntelangen Tätigkeit kennengelernt habe, hat niemand einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht wie der deutsche Philosoph Rudolf Steiner.» - «Aucun – comme le philosophe allemand Rudolf Steiner.» [1]

(Geschrieben für Edouard Schuré in Barr im Elsaß am 9. September 1907 läßt etwas von seinem inneren Werdegang durchblicken:)

Sehr früh wurde ich auf Kant hingelenkt. Im fünfzehnten und sechzehnten Jahre studierte ich Kant ganz intensiv, und vor dem Übergang zur Wiener Hochschule beschäftigte ich mich intensiv mit den orthodoxen Nachfolgern Kants, vom Anfange des 19. Jahrhunderts, welche von der offiziellen Wissenschaftsgeschichte in Deutschland ganz vergessen sind und kaum mehr genannt werden. Dann trat hinzu ein eingehendes Vertiefen in Fichte und Schelling. In diese Zeit fiel – und dies gehört schon zu den äußeren okkulten Einflüssen – die völlige Klarheit über die Vorstellung der Zeit. Diese Erkenntnis stand mit den Studien in keinem Zusammenhang und wurde ganz aus dem okkulten Leben her dirigiert. Es war die Erkenntnis, daß es eine mit der vorwärtsgehenden interferierende rückwärtsgehende Evolution gibt – die okkult-astrale. Diese Erkenntnis ist die Bedingung für das geistige Schauen. Dann kam die Bekanntschaft mit dem Agenten d. M. (Meister). Dann ein intensives Hegelstudium. Dann das Studium der neueren Philosophie, wie sie sich seit den fünfziger Jahren in Deutschland entwickelte, namentlich der sogenannten Erkenntnistheorie in allen ihren Verzweigungen.

Mein Knabenleben verfloß, ohne daß äußerlich dies von jemand beabsichtigt wurde, so, daß mir nie ein Mensch mit einem Aberglauben entgegentrat; und wenn in meiner Umgebung jemand von Dingen des Aberglaubens sprach, so war es nie anders, als mit einer stark betonten Ablehnung. Den kirchlichen Kultus lernte ich zwar kennen, indem ich zu Kultushandlungen als sogenannter Ministrant zugezogen wurde, doch war nirgends, auch bei den Priestern nicht, die ich kennen lernte, eigentliche Frömmigkeit und Religiosität vorhanden. Dagegen traten mir fort und fort gewisse Schattenseiten des katholischen Klerus vor Augen. Nicht sogleich begegnete ich dem M., sondern zuerst einem von ihm Gesandten, der in die Geheimnisse der Wirksamkeit aller Pflanzen und ihres Zusammenhanges mit dem Kosmos und mit der menschlichen Natur vollkommen eingeweiht war. Ihm war der Umgang mit den Geistern der Natur etwas Selbstverständliches, das ohne Enthusiasmus vorgebracht wurde, doch um so mehr Enthusiasmus erweckte.

Die offiziellen Studien waren gerichtet auf Mathematik, Chemie, Physik, Zoologie, Botanik, Mineralogie und Geologie. Diese Studien boten der Grundlegung einer geistigen Weltanschauung viel größere Sicherheit als etwa Geschichte oder Literatur, die ohne bestimmte Methode, und auch ohne bedeutsame Ausblicke im damaligen deutschen Wissenschaftsbetrieb dastanden.In die ersten Hochschuljahre in Wien fällt die Bekanntschaft mit Karl Julius Schröer. Zunächst hörte ich seine Vorlesungen über Geschichte der deutschen Dichtung seit Goethes erstem Auftreten, über Goethe und Schiller, über Geschichte der deutschen Dichtung im 19. Jahrhundert, über Goethes «Faust». Da nahm ich auch teil an seinen «Übungen im mündlichen Vortrag und schriftlicher Darstellung». Das war ein eigentümliches Hochschulkolleg nach dem Muster von Uhlands Einrichtung an der Tübinger Hochschule. Schröer kam von der deutschen Sprachforschung, hatte bedeutsame Studien gemacht über deutsche Dialekte in Österreich, er war ein Forscher im Stile der Brüder Grimm und in der Literaturforschung ein Verehrer von Gervinus. Er war vorher Direktor der Wiener evangelischen Schulen. Er ist der Sohn des Dichters und außerordentlich verdienstvollen Pädagogen Chr. Oeser. Zur Zeit meiner Bekanntschaft mit ihm wandte er sich ganz Goethe zu. Er hat einen vielgelesenen Kommentar von Goethes «Faust» und auch von Goethes andern Dramen geschrieben. Er hat noch vor dem Niedergang des deutschen Idealismus seine Studien an den deutschen Universitäten Leipzig, Halle und Berlin gemacht. Er war eine lebendige Verkörperung der vornehmen deutschen Bildung. An ihm zog der Mensch an. Ich wurde bald mit ihm befreundet und war dann viel in seinem Hause. Es war bei ihm wie in einer idealistischen Oase innerhalb der trockenen materialistischen deutschen Bildungswüste. Im äußeren Leben war diese Zeit erfüllt von den Nationalitäts-kämpfen in Österreich. Schröer selbst stand der Naturwissenschaft fern. Ich arbeitete aber damals vom Anfange 1880 an an Goethes naturwissenschaftlichen Studien.

Dann begründete Joseph Kürschner das umfassende Werk «Deutsche Nationalliteratur», für das Schröer die Goetheschen Dramen mit Einleitungen und Kommentar edierte. Mir übertrug Kürschner auf Schröers Empfehlung die Edition von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. Schröer schrieb dazu eine Vorrede, durch welche er mich in die literarische Öffentlichkeit einführte.

Ich verfaßte innerhalb dieses Sammelwerkes Einführungen in Goethes Botanik, Zoologie, Geologie und Farbenlehre. Wer diese Einführungen liest, wird darin schon die theosophischen Ideen in dem Gewande eines philosophischen Idealismus finden können. Auch eine Auseinandersetzung mit Haeckel ist darin. Wie eine philosophische Ergänzung dazu ist meine 1886 gearbeitete: Erkenntnistheorie.

Dann wurde ich durch meine Bekanntschaft mit der österreichischen Dichterin Maria Eugenie delle Grazie, welche in dem Professor Laurenz Müllner einen väterlichen Freund hatte, in die Kreise der Wiener theologischen Professoren eingeführt. Marie Eugenie delle Grazie hat ein großes Epos «Robespierre» und ein Drama «Schatten» geschrieben.

Ende der achtziger Jahre wurde ich für kurze Zeit Redakteur der «Deutschen Wochenschrift» in Wien. Das gab Gelegenheit zu einer intensiven Beschäftigung mit den Volksseelen der verschiedenen österreichischen Nationalitäten. Es mußte für eine geistige Kulturpolitik der leitende Faden gefunden werden.

Bei alledem konnte von einer öffentlichen Hervorkehrung der okkulten Ideen keine Rede sein. Und die hinter mir stehenden okkulten Mächte gaben mir nur den einen Rat: «Alles in dem Kleide der idealistischen Philosophie». Gleichlaufend mit all dem ging meine mehr als fünfzehnjährige Tätigkeit als Erzieher und Privatlehrer.

Die erste Berührung Ende der achtziger Jahre mit Wiener theosophischen Kreisen mußte ohne äußere Nachwirkung bleiben. Ich verfaßte in meinen letzten Wiener Monaten meine kleine Schrift «Goethe als Vater einer neuen Ästhetik».

Dann wurde ich an das damals begründete Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar berufen zur Edition von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. Eine offizielle Stellung hatte ich an diesem Archiv nicht; ich war lediglich Mitarbeiter an der großen «Sophien-Ausgabe» Goethescher Werke.

Mein nächstes Ziel war, rein philosophisch (eine) Grundlegung meiner Weltauffassung zu liefern. Das geschah in den beiden Schriften:

«Wahrheit und Wissenschaft» und «Philosophie der Freiheit».

Das Goethe- und Schiller-Archiv wurde von einer großen Reihe gelehrter und literarischer, auch sonstiger Persönlichkeiten Deutschlands, aber auch des Auslandes besucht. Ich lernte manche dieser Persönlichkeiten genauer kennen, weil ich bald befreundet wurde mit dem Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs Prof. Bernhard Suphan und viel in dessen Hause verkehrte. Suphan zog mich zu vielen Privatbesuchen, die er von den Besuchern des Archivs hatte. Bei einer solchen Gelegenheit fand auch die Begegnung mit Treitschke statt.

Innigere Freundschaft schloß ich damals mit dem bald darauf verstorbenen deutschen Mythenforscher Ludwig Laistner, dem Verfasser des «Rätsel der Sphynx». Wiederholte Gespräche hatte ich mit Herman Grimm, der mir viel sprach von seinem nicht ausgeführten Werke, einer «Geschichte der deutschen Phantasie». Dann kam die Episode Nietzsche. Ich hatte kurz vorher sogar im gegnerischen Sinne über Nietzsche geschrieben. Meine okkulten Kräfte wiesen mich darauf hin, in die Zeitströmungen unvermerkt die Richtung nach dem Wahrhaft-Geistigen fließen zu lassen. Man gelangt nicht zur Erkenntnis, wenn man den eigenen Standpunkt absolut durchsetzen will, sondern durch Untertauchen in fremde Geistesströmungen. So schrieb ich mein Buch über Nietzsche, indem ich mich ganz auf Nietzsches Standpunkt stellte. Es ist vielleicht gerade aus diesem Grunde das objektivste Buch innerhalb Deutschlands über Nietzsche. Auch Nietzsche als Anti-Wagnerianer und (Autor des) Antichrist kommt da ganz zu seinem Rechte. Ich galt nun eine Zeit lang als unbedingtester «Nietzscheaner». –

Damals wurde die «Gesellschaft für ethische Kultur» in Deutschland gegründet. Diese Gesellschaft wollte eine Moral mit völliger Indifferenz gegen alle Welt-anschauung. Ein völliges Luftgebäude und eine Bildungsgefahr. Ich schrieb gegen diese Gründung einen scharfen Artikel in der Wochenschrift «Die Zukunft». Die Folge waren scharfe Entgegnungen. Und meine vorangegangene Beschäftigung mit Nietzsche führte herbei, daß eine Broschüre gegen mich erschien: «Nietzsche-Narren».

Der okkulte Standpunkt verlangt: «Keine unnötige Polemik» und «Vermeide, wo du es kannst, dich zu verteidigen». Ich schrieb in Ruhe mein Buch: «Goethes Weltanschauung», das den Abschluß meiner Weimarischen Zeit bildete.

Sogleich nach meinem «Zukunft»-Artikel trat Haeckel an mich heran. Er schrieb zwei Wochen später einen Artikel in der «Zukunft», in dem er sich öffentlich zu meinem Gesichtspunkt bekannte, daß eine Ethik nur auf dem Boden einer Weltanschauung erwachsen könne. Nicht lange danach war Haeckels 60. Geburtstag, der als große Festlichkeit in Jena gefeiert wurde. Haeckels Freunde zogen mich zu. Damals sah ich Haeckel zum ersten Mal. Seine Persönlichkeit ist bezaubernd. Er ist persönlich der vollkommenste Gegensatz von dem Ton seiner Schriften. Hätte Haeckel jemals Philosophie auch nur ein wenig studiert, in der er nicht bloß Dilettant, sondern ein Kind ist: er hätte ganz sicher aus seinen epochemachenden phylogenetischen Studien die höchsten spiritualistischen Schlüsse gezogen. Nun ist trotz aller deutschen Philosophie, trotz aller übrigen deutschen Bildung Haeckels phylogenetischer Gedanke die bedeutendste Tat des deutschen Geisteslebens in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Und es gibt keine bessere wissenschaftliche Grundlegung des Okkultismus als Haeckels Lehre. Haeckels Lehre ist groß, und Haeckel der schlechteste Kommentator dieser Lehre. Nicht indem man den Zeitgenossen die Schwächen Haeckels zeigt, nützt man der Kultur, sondern indem man ihnen die Größe von Haeckels phylogenetischen Gedanken darlegt. Das tat ich nun in den zwei Bänden meiner: «Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert», die auch Haeckel gewidmet sind, und in meiner kleinen Schrift: «Haeckel und seine Gegner».

In der Haeckelschen Phylogenie lebt tatsächlich allein die Zeit des deutschen Geisteswesens; die Philosophie ist in einem Zustande trostlosester Unfruchtbarkeit, die Theologie ist ein heuchlerisches Gewebe, das sich dieser seiner Unwahrhaftigkeit nicht im entferntesten bewußt ist, und die Wissenschaften sind trotz des großen empirischen Aufschwunges in ödeste philosophische Ignoranz verfallen.

1890—1897 war ich in Weimar.

1897 ging ich als Herausgeber des «Magazins für Literatur» nach Berlin. Die Schriften «Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert» und «Haeckel und seine Gegner» gehören schon der Berliner Zeit an. Meine nächste Aufgabe sollte sein: in der Literatur eine geistige Strömung zur Geltung zu bringen. Das «Magazin» stellte ich in den Dienst dieser Aufgabe. Es war ein altangesehenes Organ, das seit 1832 bestand und die verschiedensten Phasen durchgemacht hatte.

Ich leitete sachte und langsam in esoterische Bahnen hinüber. Vorsichtig aber deutlich: indem ich zu dem hundertfünfzigsten Geburtstage Goethes einen Aufsatz schrieb:

«Goethes geheime Offenbarung»,

der nur wiedergab, was ich bereits in einem öffentlichen Vortrage in Wien über Goethes Märchen von der «grünen Schlange und der schönen Lilie» angedeutet hatte.

Es lag in der Natur der Sache, daß sich für die von mir im «Magazin» inaugurierte Richtung langsam ein Leserkreis sammelte. Er fand sich zwar, aber nicht so schnell, daß der Verleger die Sache finanziell aussichtsvoll fand. Ich wollte der jungliterarischen Richtung einen geistigen Untergrund geben, stand auch tatsächlich in dem lebendigsten Verkehre mit den aussichtsvollsten Vertretern dieser Richtung. Ich wurde aber einerseits im Stich gelassen; andrerseits versank diese Richtung bald entweder in Nichtigkeit oder in Naturalismus.

Mittlerweile war schon die Verbindung mit der Arbeiterschaft angebahnt. Ich war Lehrer an der Berliner Arbeiterbildungsschule geworden. Ich lehrte Geschichte und auch Naturwissenschaften. Meine durchaus idealistische Geschichtsmethode und meine Lehrweise wurde bald den Arbeitern sympathisch und auch verständlich. Mein Zuhörerkreis wuchs. Ich wurde fast jeden Abend zu einem Vortrage gerufen. Da kam die Zeit, wo ich im Einklange mit den okkulten Kräften, die hinter mir standen, mir sagen durfte: du hast philosophisch die Grundlegung der Weltanschauung gegeben, du hast für die Zeitströmungen ein Verständnis erwiesen, indem du so diese behandelt hast, wie nur ein völliger Bekenner sie behandeln konnte; niemand wird sagen können: dieser Okkultist spricht von der geistigen Welt, weil er die philosophischen und naturwissenschaftlichen Errungenschaften der Zeit nicht kennt.

Ich hatte nun auch das vierzigste Jahr erreicht, vor dessen Eintritt im Sinne der Meister niemand öffentlich als Lehrer des Okkultismus auftreten darf. Überall, wo jemand früher lehrt, liegt ein Irrtum vor. Nun konnte ich mich der Theosophie öffentlich widmen. Die nächste Folge war, daß auf das Drängen gewisser Führer des deutschen Sozialismus eine Generalversammlung der Arbeiterbildungsschule einberufen wurde, welche zwischen dem Marxismus und mir entscheiden sollte. Aber der Ostrazismus entschied nicht gegen mich. In der Generalversammlung wurde mit allen gegen nur vier Stimmen beschlossen, mich weiter als Lehrer zu halten.

Aber der Terrorismus der Führenden brachte es dahin, daß ich nach drei Monaten zurücktreten mußte. Man hüllte, um sich nicht zu kompromittieren, die Sache in den Vorwand: ich sei durch die theosophische Bewegung zu sehr in Anspruch genommen, um Zeit für die Arbeiterschule in hinreichendem Maße zu haben.

Vom Anfange fast der theosophischen Tätigkeit stand Frl. v. Sivers an meiner Seite. Sie hat auch persönlich die letzten Phasen meines Verhältnisses zur Berliner Arbeiterschaft mit angesehen.

Zitate:

[1]  Ha, Seite 142   (Ausgabe 1961, 0 Seiten)

Quellen:

Ha:  Herbert Hahn: Rudolf Steiner, wie ich ihn sah und erlebte (1961)