Mephistopheles

Wer den Weg kennt in die geistigen Welten hinein, der weiß, daß es diesen Mephistopheles wirklich gibt als einen der beiden Versucher, welchen der Mensch begegnet, wenn er den Weg in das geistige Land hinein geht, wenn er den Weg in die geistige Welt sucht. Zwei Gewalten oder Mächte gibt es da, denen der Mensch begegnet. Die eine Gewalt ist die, welche wir die luziferische Gewalt nennen, die den Menschen mehr innerlich ergreift, im Zentrum seiner Seele, und seine Leidenschaften, Triebe, Begierden und so weiter um einen Grad ins Persönliche, ins Unedle hinuntertreibt. Was auf den Menschen selber wirkt, was den Menschen in seinem Innersten ergreift, ist das Luziferische. Dadurch, daß der Mensch aber einmal in seinem Werdegang durch die Welt erfaßt worden ist von diesem luziferischen Prinzip wurde er einem andern Prinzip ausgeliefert. Wäre der Mensch niemals von diesem luziferischen Prinzip erfaßt worden, dann würde sich ihm die Außenwelt auch niemals in einer bloß materiellen Form entgegenstellen; dann würde die Außenwelt dem Menschen so gegenübertreten, daß sich der Mensch gegenüber allem von vornherein sagen könnte, daß alles Äußere ein Ausdruck, eine Physiognomie des Geistes ist. Den Geist würde der Mensch hinter allem materiell Sinnlichen sehen. So aber, weil alles Materielle verdichtet worden ist durch den Einfluß der luziferischen Gewalt, mischte sich in die äußere Anschauung auch das hinein, was dem Menschen im Äußeren nur das Trugbild eines äußerlich Materiellen vorgaukelt; es ist das, was dem Menschen das Äußere in Gestalt der Maya oder der Illusion zeigt, als wenn es nicht der äußere physiognomische Ausdruck des Geistes wäre. Diese Gewalt, die dem Menschen die äußere Welt in einer unwahren Gestalt zeigt, hat zuerst in der ganzen Tiefe Zarathustra erkannt. Unter dem Namen «Ahriman» hat Zarathustra zuerst jene Gestalt dargestellt, die sich dem Lichtgotte entgegenstellt. Ahriman nennt Zarathustra diesen Gegner der Lichtgottheit, und für alle die, welche an die Kultur des Zarathustra anknüpften, wurde dann Ahriman jene trügende Gestalt, die gegenüber allem, was der Mensch sonst in durchsichtiger geistiger Klarheit sehen würde, das mit einem Rauch und Nebel zur Illusion Durchsetzende ist. Wenn man es besonders schroff ausdrücken wollte, dann nannte man diese Gestalt, denjenigen, der den Menschen verdarb, weil er ihn in die Fessel der Materie zwang und ihn über die wahre Gestalt des Materiellen belog, Mephistopheles. So wurde diese Gestalt im Hebräischen genannt, wobei «mephiz» der Verderber bedeutet, und «tophel» der Lügner. Und diese Gestalt ging dann hinüber in das Abendland, in die mittelalterliche Gestalt des Mephistopheles. Da sehen wir in den Faust-Büchern den Faust gegenübergestellt dieser Macht; sie wird ja da auch die «alte Schlange» genannt. Goethe lernte diesen Mephistopheles kennen. Die spätere Faust-Tradition hat dann die Gestalten des Luzifer und des Mephistopheles nicht mehr ordentlich auseinanderhalten können. Goethe aber trat alles das entgegen als Mephistopheles, was durch die äußeren Sinne, durch den menschlichen Verstand, der ein physisches Gehirn als Instrument zu brauchen gewohnt ist, als Anschauung über die äußere Welt vermittelt wird. Der Mensch, der nur an diese Fähigkeit des gewöhnlichen Verstandes appelliert, war ihm gleichsam wie ein anderes Ich des in die geistige Welt hinaufstrebenden Menschen. So wurde für Goethe alles, was – wie bei Merck oder Herder – an das bloß Verstandesgemäße appelliert, repräsentiert in einer wunderbaren Weise in der Figur des Mephistopheles, der nicht an eine Welt des Guten glaubt oder sie nicht für bedeutungsvoll und wichtig hält. In Goethe selbst war dieses zweite Ich, das bis zum Zweifeln an der geistigen Welt kommen konnte, und Goethe fühlte sich manchmal hineingestellt in den Zwiespalt, den wir die mephistophelische Macht nennen können. Er fühlte sich hineingestellt zwischen diese böse Macht, die in seiner Seele wühlte, und zwischen das wahrhaft ehrliche Streben seiner Seele nach den geistigen Höhen. Diese zwei Gewalten fühlte Goethe in seiner Seele. Dem nach den geistigen Höhen strebenden inneren Menschen, der an ein Trugbild gebannt ist in dem, was Mephistopheles den Menschen vorgaukelt, dem stellt sich entgegen im zweiten Teile des «Faust», in der Szene des «Ganges zu den Müttern», Mephistopheles, der Vertreter alles dessen, was man finden kann durch den an die materielle äußere Wissenschaft gebundenen Verstand. Er steht da mit den Schlüsseln. [1] Goethe denkt sich den Mephistopheles als ein Wesen, dem das devachanische Reich unbekannt ist. Er ist nur im Astralischen heimisch. Daher kann er Dienste leisten beim Entstehen des Homunculus; aber er kann Faust nicht in das Reich der «Mütter» begleiten. Ja, für ihn ist dies Reich sogar ein «Nichts». [2]

Die Goetheforschung hat die mannigfaltigsten Anstrengungen gemacht, um die Gestalt des Mephistopheles zu enträtseln. Im Grunde genommen ist die Auflösung des Namens «Mephistopheles» einfach im Hebräischen zu suchen, wo «mephiz» der Hinderer, der Verderber heißt und «tophel» der Lügner, so daß wir den Namen aufzufassen haben als geltend für ein Wesen, das sich zusammensetzt aus einem Bringer des Verderbens, der Hindernisse für den Menschen, und auf der anderen Seite aus einem Geist der Unwahrheit, der Täuschung, der Illusion. Daß Mephistopheles mit dem Teufel oder mit der Vorstellung des Teufels zusammengebracht werden darf, darauf zielt ja schon der Name; denn das Wort «tophel» ist dasselbe wie «der Teufel». [3] Ahriman, Mephistopheles, Mammon – es decken sich ja diese Begriffe –, sie stecken im Gelde, in alledem, was mit dem äußeren natürlichen Egoismus zusammenhängt. [4]

Beim modernen Menschen ist es so, daß der Ätherleib sich zusammenschnürt, sich zusammenzieht, zu klein wird. – Je weiter der Mensch kommen wird in der materialistischen Verachtung des Spirituellen, desto mehr wird sich dieser Ätherleib zusammenziehen und austrocknen. Da aber die Durchorganisierung des physischen Leibes davon abhängt, daß der Ätherleib ihn ganz richtig durchdringt, so wird für den physischen Leib immer eine Tendenz auftreten, wenn der Ätherleib zu sehr zusammengedrängt ist, daß der physische Leib auch auszutrocknen beginnt. Und wenn er ganz besonders stark austrocknen würde, so würde er statt der natürlichen Menschenfüße hornartige Füße bekommen. Der Mensch wird sie ja nicht bekommen, aber die Tendenz dazu liegt in ihm. In diesen vertrocknenden Ätherleib kann sich nun besonders Ahriman hineinleben. Ahriman wird diese Gestalt annehmen, die auf eine Ärmlichkeit des Ätherleibes hinweist. Er wird zu wenig Ätherkraft entwickeln, um richtig organisierte Füße zu haben, und die erwähnten hornartigen Füße – Bocksfüße – ausbilden. [5]

Wie Ödipus mit der Sphinx, so hat der Mensch der 5. nachatlantischen Kulturepoche mit Mephistopheles fertigzuwerden. Er steht diesem Mephistopheles wie einem zweiten Wesen gegenüber. Der Grieche stand der Sphinx durch den energisch gewordenen Blut- und Atmungsprozeß gegenüber. Der moderne Mensch steht mit allem, was aus seinem Verstande, seiner Nüchternheit drängt, dem gegenüber, was an den Nervenprozeß gebannt ist. Prophetisch konnte dieses Gegenüberstehen des Menschen dem Mephistophelischen, ich möchte sagen, dichterisch vorausgeahnt werden. Aber es wird immer mehr und mehr heraufziehen als ein Grunderlebnis, je weiter wir in der Evolution des 5. nachatlantischen Zeitraumes kommen. Während der griechische Mensch unter der Pein einer Überfülle von Fragen gestanden hat, wird der moderne Mensch nicht so sehr einer Fragepein entgegengehen als vielmehr der Pein, in seine Vorurteile hinein verzaubert zu sein, einen zweiten Leib neben sich zu haben, der seine Vorurteile enthält. [6]

Nun ist die Menschheit als Ganzes in einer Entwickelung, in einer Evolution. Und diese geht so vor sich, daß der Mensch tatsächlich gegen unsere Zukunft hin immer mehr und mehr die Kräfte des Intellektualismus wirklich entwickelt. Dadurch wird äußerlich sein Haupt plastisch eine andere Gestalt annehmen. In einer gewissen Beziehung ist der Anfang zu dieser Entwickelung nach der Intellektualität gegeben worden in der Morgenröte der neueren Naturwissenschaften, so vom 16. Jahrhundert an etwa. Es war eben im 16. Jahrhundert, da wußte man, es werde eine Zukunft kommen, in der die Menschen fähig sein würden, wegen der Höherentwickelung ihres Selbstes und ihres astralischen Leibes immer mehr und mehr den Ahriman auch wirklich zu schauen. Dann trat, weil eben in der ersten Zeit die intellektuelle Entwickelung sich mit aller Gewalt sträubte gegen die Wahrnehmung des Geistigen, dann trat eine Verdunkelung ein. Aber das 16. Jahrhundert hat in der Mephistogestalt an der Seite des Faust, die nichts anderes ist als Ahriman, noch darauf hinweisen können, daß im Grunde genommen Ahriman in bewußter Weise der Zukunft der Menschheitsentwickelung immer gefährlicher und gefährlicher werden wird, daß sozusagen Mephisto immer mehr und mehr eine Art von Verführer des Menschengeschlechtes werden wird. [7]

Zu unserem physischen Leib bekommen wir in dem Augenblicke, wo wir in die geistige Welt hinaufsteigen, gewissermaßen ein neues Verhältnis, ein Verhältnis, wie wir es innerhalb des physischen Leibes etwa haben zu unseren Augen oder zu unseren Ohren. Der physische Leib wirkt mehr als ein Ganzes wie eine Art Wahrnehmungsorgan, aber wir merken sehr bald, es handelt sich nicht, richtig um den physischen Leib, sondern es handelt sich da um den ätherischen Leib. Der physische Leib gibt uns gleichsam nur ein Gerüst, das den ätherischen Leib hält, als das Sinnesorgan, das eine Welt wahrnimmt webender, schwebender Bilder und Töne. Man kann nämlich dieses gleichsam Sich-Getrenntfühlen in seiner menschlichen Wesenheit von seinem physischen Leibe als etwas bezeichnen, was wie ein unverstandenes Erlebnis immer mehr und mehr über die Menschen wie von selbst kommen wird, je weiter wir als Menschheit der Zukunft entgegengehen. Es wird eine Zeit kommen, wo an viele, viele Menschen immer mehr die Empfindung herantreten wird: Ja, was ist denn das, ich fühle mich so, wie wenn ich mich gespalten hätte, wie wenn da noch ein Zweiter neben mir wäre. – Und diese Empfindung, dieses Gefühl, das als etwas Natürliches auftreten wird, geradeso wie Hunger oder Durst oder andere Erlebnisse, darf nicht unverstanden bleiben bei den Menschen der Gegenwart und Zukunft. Gewiß, in dem späteren, robusteren Leben, unter dem Eindrucke der physischen Welt werden diese Gefühle und Empfindungen, die ich charakterisiert habe, nicht so besonders stark sein in der allernächsten Zukunft, aber in einer ferneren Zukunft werden sie immer stärker und stärker werden. Zunächst werden sie beim heranwachsenden Kinde auftreten. Kinder werden andeuten: Da oder dort habe ich ein Wesen gesehen, das hat zu mir dies oder jenes gesagt, was ich tun soll. Wenn ein Kind sagt: Da habe ich jemanden gesehen, der ist wieder verschwunden, aber er kommt immer wieder; er sagt zu mir immer das und jenes, und ich kann nicht aufkommen gegen ihn –, so wird der, welcher die Geisteswissenschaft versteht, erkennen, daß sich da etwas in dem Kinde ankündigt, was immer deutlicher in der Menschheitsevolution hervortreten wird. [8]

Betrachten Sie einmal ganz unbefangen die Evolution. Wieviel hat im Verlaufe des 5. nachatlantischen Kulturzeitraumes aufgehört, in warmer unmittel-barer Weise an den Menschen heranzutreten. Nehmen Sie die unzähligen Fragen, die wirklich an uns herantreten, wenn wir uns in die Geisteswissenschaft vertiefen. Sie sind alle für den modernen materialistisch gesinnten Menschen nicht da. Das Rätsel der Sphinx empfindet er nicht; das hat der Grieche noch in lebendiger Weise empfunden.

Der moderne Mensch wird aber ein anderes empfinden müssen. Er weiß eigentlich alles so gut nach seiner Meinung, beobachtet die Sinneswelt, kombiniert sie mit dem Verstande, und dann lösen sich ihm alle Rätsel. Er ahnt nicht, wie sehr er in der äußeren Phantasmagorie herumtappt. Das aber verdichtet immer mehr seinen Ätherleib, trocknet immer mehr seinen Ätherleib aus und führt endlich dazu, daß das mephistophelische Element wie eine zweite Natur sich heften wird an das Wesen des Menschen der Gegenwart in die Zukunft hinein. Die materialistische Gesinnung wird den Ätherleib vertrocknen, und in dem vertrockneten Ätherleib wird Mephistopheles leben.

Das werden wir verstehen müssen, und die Menschheit wird dem Kinde in zukünftigen Zeiten so viel an Bildung mitgeben müssen sei es durch Eurythmie, sei es durch geisteswissenschaftliche Gesinnung –, durch welche der Ätherleib belebt werden muß, daß der Mensch seine richtige Stellung wird einnehmen können, daß er erkennen wird, was sein Begleiter bedeutet. Sonst wird er diesen Begleiter nicht verstehen, sonst wird er sich ihm gegenüber fühlen, wie wenn er verzaubert, gebannt wäre. Wie der Grieche mit der Sphinx hat fertig werden müssen, so wird der moderne Mensch mit Mephistopheles fertig werden müssen, mit der satyrhaften, faunhaften Gestalt, die Bocks- oder Pferdefüße hat. [9]

Zitate:

[1]  GA 57, Seite 311ff   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[2]  GA 35, Seite 30f   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[3]  GA 107, Seite 162f   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[4]  GA 148, Seite 320   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[5]  GA 158, Seite 103f   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)
[6]  GA 158, Seite 105f   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)
[7]  GA 145, Seite 161f   (Ausgabe 1976, 188 Seiten)
[8]  GA 158, Seite 97ff   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)
[9]  GA 158, Seite 106   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)

Quellen:

GA 35:  Philosophie und Anthroposophie (1904-1923)
GA 57:  Wo und wie findet man den Geist? (1908/1909)
GA 107:  Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (1908/1909)
GA 145:  Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) und sein Selbst? (1913)
GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)
GA 158:  Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt. Kalewala – Olaf Åsteson – Das russische Volkstum – Die Welt als Ergebnis von Gleichgewichtswirkungen (1912-1914)