Meister

Die großen Individualitäten, die den Mysterien vorstanden, die wir die Meister nennen, sie waren es, welche die Menschheit lenkten und leiteten. [1] Meister sein, heißt: in dem Stoffe wirken, in dem die Wesenheiten inkarniert sind, die in unseren Gedanken mitwirken. [2]

Die aufeinanderfolgenden Inkarnationen vollziehen sich mit jedesmal völlig neuen Ätherleibern, und das ist der Grund, warum die Physiognomie und die Leibesform von einer Inkarnation zur anderen derart wechseln. Sie hängen nicht vom Willen des Individuums ab, sondern von seinem Karma, von seinem Gefühlsleben und seinen unbewußten Willenstrieben. Ganz anders verhält es sich bei einem Geistesschüler, der eine Einweihung durchmacht. Er entwickelt seinen Ätherleib schon hier unten in der Weise, daß er ihm Dauer verleiht und ihn befähigt, nach dem Tode in den Devachan einzutreten. Er ist genügend fortgeschritten, um schon hier auf der Erde im Schoß seiner Ätherkräfte den Lebensgeist, Buddhi zu erwecken, der eines seiner drei unvergänglichen Wesensglieder bildet. Hat der Schüler diese Buddhi erlangt, hat er es nicht mehr nötig, zwischen zwei Inkarnationen seinen Ätherleib vollständig umzubilden. Er verbringt dann eine wesentlich kürzere Zeit im Devachan. Daher zeigt er von einer Inkarnation zur anderen dieselbe Grundveranlagung, das gleiche Temperament, den gleichen Grundcharakter. Wenn der okkulte Meister es dazu gebracht hat, nicht nur seinen Ätherleib, sondern auch noch seinen physischen Leib bewußt zu lenken, entsteht ebenfalls ein geistiges Wesensglied, das man im Sanskrit Atma nennt, das heißt Geistesmensch. Auf diesem Grade angekommen, behält der Eingeweihte bei jeder Inkarnation auf der Erde die Züge seiner physischen Erscheinung bei. Er bewahrt sein Gesamtbewußtsein beim Übergang vom Erdenleben zum himmlischen Leben und von einer Inkarnation zur anderen. Daher stammt die Legende von den Eingeweihten, die tausend oder zweitausend Jahre leben. Das heißt, daß es für sie weder ein Kamaloka noch einen Devachan gibt, sondern ein durchgehendes Bewußtsein jenseits von Toden und Geburten. [3] Bei einem Meister zeigt sich folgendes: Wenn er geboren wird, dann sieht er der Familie nur äußerlich etwas ähnlich, er gleicht vielmehr in seiner ganzen Erscheinung der vorigen Inkarnation, weil er schon in den physischen Leib hineinarbeiten konnte. [4] Zu allen Zeiten, immer und überall hat es Menschen gegeben, die sich rascher die Stufen des Daseins hinaufentwickelten, um Führer sein zu können, um die andere Menschheit leiten zu können. Solche Persönlichkeiten, solche Individualitäten werden von der Geistesforschung die Hüter der Weisheit, die Hüter des Menschenfortschrittes genannt. Solche Hüter des Menschenfortschrittes hat es immer gegeben. Es gibt sie auch heute noch. Diese großen Individualitäten, diese Persönlichkeiten, die heute auf einer Stufe des Daseins angekommen sind, wohin die Mehrzahl der Menschheit erst in einer fernen, fernen Zukunft kommen wird, waren in den vorchristlichen Zeiten, in den zwei ersten Vierteln der Menschheitsentwickelung vorhanden. Sie leiteten die Welt, sie waren die Behüter der Menschheit und brachten Ordnung und Zusammenhang in die Menschheit. Man leitete die materiellen Zusammenhänge durch dasjenige, was im Materiellen unsichtbar schlummert. [5]

Die Meister sind in der Regel nicht gerade historische Persönlichkeiten, sie inkorporieren sich manchmal, wenn es notwendig ist, in historischen Persönlichkeiten; aber es ist bis zu einem gewissen Grade ein Opfer. Der Grad ihres Bewußtseins ist nicht mehr vereinbar mit einem Wirken für sich sich selbst. Und ein Wirken für sich selbst ist schon die Erhaltung des bloßen Namens. [6]

Hat der führende Menschenbruder vielleicht Schüler bei sich, welche an solchen geistdurchdrungenen Ideen hängen, dann sind diese eine Kraft, die auch ihm vorwärts hilft in seinem Wirken für die äußere Welt; es entstehen die großen spirituellen Zentralstätten des geistigen Wirkens. [7]

Dem Menschen, welchem der devachanische Sinn erschlossen ist, der imstande ist, im Devachan zu beobachten, dem erschließt sich auch der Verkehr mit diesen vorgeschrittenen Menschenbrüdern. Er lernt die Sprache verstehen, in der diese miteinander verkehren, und er lernt auch, mit ihnen zu sprechen. Ihm obliegt dann, diese so empfangenen Mitteilungen umzusetzen in die alltägliche Sprache. Eine solche in alltägliche Sprache umgesetzte Lehre ist das, was wir als theosophische Wahrheiten verkündigen. Ursprünglich von hochentwickelten Menschenbrüdern ausgehend, herunterströmend aus höchsten geistigen Welten, wurden uns diese von einzelnen geeigneten Persönlichkeiten übermittelt. Nachdem wir aber «lesen» gelernt haben, verstehen wir die urewigen Geheimnisse des Weltendaseins. Um sie umsetzen zu können in die gewöhnliche Sprache des alltäglichen Lebens, müssen wir lernen, aufzuschauen zu diesen hohen Geistern, zu den Meistern, die wir in der Theosophie Mahatmas nennen.

Es ist von besonderem Interesse zu beobachten, wie sich der Geisteschüler zu diesen Meistern in der Devachanwelt verhält. Ich habe bereits beschrieben, wie der Gedanke im Devachan wirkt, wie er ausströmt, um seiner Bestimmung zuzueilen. Das ist nicht oder nicht in gleicher Weise der Fall bei den Gedanken, die der Geistesschüler verehrungsvoll zu den Meistern oder Mahatmas hinaufsendet, um sie um Aufschlüsse zu fragen über tiefere Wahrheiten. Derjenige Gedanke, den der Geistesschüler zu den geistigen Führern hinaufsendet, macht noch einen ganz besonderen, von den übrigen Gedanken sich unterscheidenden Weg. Es ist so, als ob dieser Gedanke nicht voll hinauf strömte zu dem Ziel, an das er sich wendet. Dieser Gedanke, dieser Ruf um Aufschluß über die höheren Welten, strömt zunächst bis in das Gebiet, das ich als Akashagebiet bezeichnet habe. Dann kehrt der Gedanke wieder zu dem Schüler zurück, aber nicht so, wie er hinaufgestiegen ist, sondern bereichert, durchströmt und durchglüht von dem, was von dem Meister ausgeht. So ist es zu verstehen, wenn immer betont wird, daß der Meister das höhere Selbst des Menschen ist. In gewisser Beziehung sprechen unsere eigenen Gedanken wieder zu uns, wenn wir mit diesen höherentwickelten Menschengeistern in Verkehr treten. Nichts Fremdartiges soll in uns hineingetragen werden; nicht zu Sklaven wollen die Meister uns machen, nicht einmal zu Sklaven im Geiste. Die Meister schicken uns daher nicht ihre, sondern unsere eigenen Gedanken, auf daß wir erkennen, daß es die Substanz ist, die wir selbst ausgeströmt haben. Das sind einzelne Vorgänge, die derjenige erfährt, der in der Lage ist, sich als Verkörperter zwischen Geburt und Tod innerhalb des Devachan zu bewegen, dessen Sinn für das Devachan schon hier in der Körperlichkeit erschlossen ist, der den Geist herausheben kann aus der Schale der erschlossen ist, der den Geist herausheben kann aus der Schale der Körperlichkeit. [8]

Zitate:

[1]  GA 109, Seite 264   (Ausgabe 1979, 304 Seiten)
[2]  GA 93a, Seite 129   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[3]  GA 94, Seite 75f   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[4]  GA 94, Seite 158   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[5]  GA 54, Seite 260   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)
[6]  GA 93, Seite 119   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[7]  GA 93, Seite 204   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[8]  GA 88, Seite 116f   (Ausgabe 1999, 256 Seiten)

Quellen:

GA 54:  Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906)
GA 88:  Über die astrale Welt und das Devachan (1903-1904)
GA 93:  Die Tempellegende und die Goldene Legende. als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906)
GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 109:  Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen. Ein Aspekt der geistigen Führung der Menschheit (1909)