Marx, Karl

Zu klaren Ideen, man möchte sagen, zu überklaren Ideen ist schon Karl Marx gekommen. Und das war das Geheimnis seines Erfolges. Die Ideen von Marx sind so klar, daß, trotzdem sie kompliziert sind, sie eben für die weitesten Kreise, wenn sie recht zugerichtet werden, verständlich sind. Da hat die Klarheit zur Popularität verholfen. Und solange nicht bemerkt wird, daß eben innerhalb einer solchen Klarheit die Menschheit verloren ist, so lange wird man sich, wenn man konsequent sein will, eben an die Klarheit halten. [1]

In Wirklichkeit haben eigentlich kaum viele literarische Erscheinungen, schriftstellerische Erscheinungen eine so ungeheuer breite Wirkung gehabt als diejenige von Karl Marx. 1848 erschien von ihm das sogenannte «Kommunistische Manifest», worinnen die hauptsächlichsten Impulse der sozialdemokratischen Lebensauffassung kurz zusammengefaßt waren. Es klang dann aus, dieses Kommunistische Manifest, in die Worte: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! – Von demselben Karl Marx, der unterstützt wurde von seinem Freund Engels, rührt dann her das Buch über die «Politische Ökonomie» und das Buch «Das Kapital». Was als Prinzipien diesen Büchern zugrunde liegt, ist tatsächlich über die ganze Erde hin Wissen, Vorstellungswelt geworden des tonangebenden Proletariats. [2]

Wenn Sie die nationalökonomischen Ansichten über die soziale Gestaltung, soweit sie Karl Marx selber aufgeschrieben hat, verfolgen, so können Sie sich sagen: Karl Marx hat eigentlich über den sozialen Organismus keine anderen Gedanken als diejenigen, die schon da waren. Originelle Gedanken, wie die Welt werden soll, die macht sich Karl Marx nämlich nicht. Er verfolgt: Wie haben die Menschen gedacht, welche das moderne kapitalistische Zeitalter herbeigeführt haben, wie hat sich Lohnfrage, Kapitalfrage, Grundrentenfrage und so weiter ausgebildet unter der kapitalistischen Herrschaft? – Und er zergliedert die Nationalökonomie der kapitalistischen Herrschaft. Im Grunde genommen finden Sie wichtigste Vorstellungen, die Karl Marx dem Proletariat überliefert hat, schon bei Ricardo und bei anderen. Was tut Karl Marx? Karl Marx sagt; In der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die sich allmählich in der neueren Zeit heraufgebildet hat, haben die Menschen Meinungen gehabt, aus denen heraus sich gebildet haben die modernen Lohnverhältnisse, die modernen Kapitalverhältnisse, die modernen Grundrenten Verhältnisse und so weiter. Und jetzt versucht er weiter zu denken. Nicht daß er sagt, was an die Stelle dieser sozialen Gliederung, wie sie sich unter dem Kapitalismus herausgebildet hat, treten soll, er zeigt nur, daß sich unter dieser kapitalistischen Herrschaft als eine besondere Menschenklasse das Proletariat hat ergeben müssen. Das ist da, das ist eine Realität. Er zeigt nun, wohin die kapitalistische Herrschaft führt. Er zeigt, daß sie sich selbst ad absurdum führt, daß sie, wenn sie auf ihren Höhepunkt gekommen ist, in ihr Gegenteil umschlagen muß. Immer mehr und mehr sammeln sich Kapitalien in den Händen einzelner, bis sie übergehen auf den «einzelsten», der dann zu gleicher Zeit die Gemeinsamkeit ist; so sehr sich auch Marx und die Marxisten dagegen sträuben, das dem Worte nach anzuerkennen, sie gehen über auf die staatliche Ordnung, so daß der Staat eigentlich der einzige Großkapitalist wird. Aber er hat dann in seiner Vertretung alle am Staate teilnehmenden Menschen. Aber was eine ganz wesentliche Prinzipienfrage ist, das Verhältnis der proletarischen Welt zum Staate, das ist eigentlich mehr oder weniger in eine Art nebuloser Atmosphäre eingelaufen. Die Leute bildeten gerade dadurch viele Parteien innerhalb des Sozialismus, die sich bis aufs Messer bekämpften, weil sie in der einen oder in der anderen Weise gerade das Verhältnis des Proletariats zum Staate, wie er sich geschichtlich in dem Laufe der neueren Entwickelung gebildet hat, in der verschiedensten Art auffaßten. [3]

Karl Marx eignete sich die Form des Denkens an, die er bei Hegel gefunden hatte. Allein er betrachtete nun nicht die Idee in der Wirklichkeit, sondern er betrachtete die Wirklichkeit so, wie sie sich selbst fortwährend als bloße äußere materielle Wirklichkeit fortspinnt. Er setzte den Impuls des Hegeltums fort und materialisierte ihn. Und so wurzelt gerade der Grundnerv des modernen sozialistischen Denkens in der Gipfelung des modernen idealistischen Denkens. Daß sich auch persönlich und weltgeschichtlich der allerabstrakteste Denker mit dem allermateriellsten Denker berührt, das war eine innere Notwendigkeit des 19.Jahrhunderts, das ist aber auch die Tragik des 19. Jahrhunderts; das ist gewissermaßen das Umschlagen des Geisteslebens in sein Gegenteil. Was da Karl Marx gedacht hat, ist ganz nach dem Muster von Hegel gedacht – Thesis, Antithesis, Synthesis –, nur daß Hegel sich mit seinem Denken im Elemente der Ideen bewegt, Marx im Weben und Leben der äußeren ökonomischen Wirklichkeit. So liegen die Extreme beieinander, man möchte selbst sagen, wie Sein und Nichtsein. [4]

Die Dialektik, dieses Vermögen in Begriffen zu arbeiten, was den meisten Menschen heute fehlt – unserer gesamten offiziellen Wissenschaft fehlt diese Dialektik –, diese Kunst, in Begriffen als Realitäten zu arbeiten, die hatte Karl Marx von Hegel. Den sozialistischen Impetus hatte er aus dem Franzosentum heraus, wo besonders Saint-Simon und Louis Blanc auf ihn einen großen Einfluß gewonnen haben. Karl Marx ist nach England gegangen und hat nun durchstudiert an englischen Verhältnissen, wodurch er das Ganze nur auf die materiellen wirtschaftlichen Verhältnisse angewendet hat. Aus Bestandteilen, die deutsch, französisch, englisch sind, auf der Grundlage des scharfsinnigen Semitismus, so aus vier Ingredienzien zusammengesetzt ist das, was dieser Karl Marx dem Proletariat als wirksame Waffe – denn es ist eine geistige Waffe – geliefert hat. [5]

Marx legt nur zugrunde die historische Menschheitsentwickelung seit dem 16. Jahrhundert. Da ist es so, daß tatsächlich die Epoche in der Menschheits-entwickelung eingetreten ist, wo das Geistesleben, wenn auch nicht genau so, wie es bei Karl Marx ist, doch auch in einer gewissen Weise über große Teile der Welt hin ein Ausdruck der wirtschaftlichen Verhältnisse wurde. [6]

Zum erstenmal eigentlich sind Gedanken Tatsachen geworden, die Gedanken von Karl Marx sind im Proletariat Tatsachen geworden und leben als Tatsachen und wirken sich als Tatsachen aus, mit allem Widerspruch des Lebens. [7]

Es ist ein einzigartiges Beispiel in der Geistesgeschichte der Menschheit, daß eine unverbrauchte Menschenklasse, eine Menschenklasse mit noch nicht dekadenter, mit unverbrauchter Intellektualität, mit so vollem Herzen, mit so offener Seele und so, wie wenn die darin wirksamen Kräfte die eigenen Lebenskräfte wären, eine wissenschaftliche Theorie aufgenommen hat, wie das von seiten des modernen Proletariats mit der marxistischen Lehre geschehen ist. [8] (Siehe auch: Soziale Frage).

Zitate:

[1]  GA 322, Seite 25   (Ausgabe 1969, 140 Seiten)
[2]  GA 185a, Seite 97   (Ausgabe 1963, 237 Seiten)
[3]  GA 189, Seite 57f   (Ausgabe 1980, 184 Seiten)
[4]  GA 189, Seite 163f   (Ausgabe 1980, 184 Seiten)
[5]  GA 185a, Seite 98f   (Ausgabe 1963, 237 Seiten)
[6]  GA 186, Seite 229   (Ausgabe 1979, 330 Seiten)
[7]  GA 185a, Seite 117   (Ausgabe 1963, 237 Seiten)
[8]  GA 328, Seite 50   (Ausgabe 1977, 198 Seiten)

Quellen:

GA 185a:  Entwicklungsgeschichtliche Unterlagen zur Bildung eines sozialen Urteils (1918)
GA 186:  Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage (1918)
GA 189:  Die soziale Frage als Bewußtseinsfrage (1919)
GA 322:  Grenzen der Naturerkenntnis (1920)
GA 328:  Die soziale Frage (1919)