Leben

Leben können Sie mit keiner Naturwissenschaft, mit keiner äußeren Anschauung irgendwie verstandesmäßig fassen. Sie können es aber durch Anschauung des Geistes fließen sehen durch die entstehenden und vergehenden Gestalten hindurch. So wie Geburt und Tod die Eigenschaften der äußeren Erscheinungen, der Formen ist, so ist Wiedergeburt, fortwährende Erneuerung, die Eigenschaft des Lebens. [1] Der Kosmos versorgt uns am meisten mit Leben noch während unseres Embryonalzustandes, dann nimmt uns allmählich der Umkreis der Erde in Arbeit, später das, was von der Erde heraufströmt. Dadurch wird dasjenige vermittelt, was der Kosmos unserem Organismus an Leben gibt, bis das Quantum von Leben, das uns der Kosmos gibt, eben aufgezehrt ist. Der Kosmos belebt uns, die Erde tötet uns als physischen Organismus und auch als ätherischen Organismus. Nur ist es so, daß an unserem ätherischen Organismus vorzugsweise der Kosmos seinen Anteil hat, an unserem physischen Organismus hat vorzugsweise unsere Erde ihren Anteil. [2] Leben hängt davon ab, daß der organische Körper dem Wesen des Irdischen entrissen und vom außerirdischen Weltenall herein aufgebaut wird. Allein dieser Aufbau führt wohl zum Leben, nicht aber zum Bewußtsein. [3]

Leben innerhalb der physischen Welt unterscheidet sich stofflich von dem sogenannten Nichtleben, dem Leblosen, im Grunde nur durch die Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit der Gestaltung. Nur da kann das Leben wohnen, wo eine viel kompliziertere Gestaltung der Stoffe eintritt, als sie im Gebiete des Leblosen vorhanden ist. Das Leben hat zu seiner Grundsubstanz etwas, was man als eiweißartige Substanz bezeichnen könnte. Dieses lebendige Eiweiß unterscheidet sich vom toten leblosen Eiweiß ganz beträchtlich durch eine Eigenschaft. Lebendiges Eiweiß zerfällt nämlich sogleich, wenn es vom Leben verlassen wird. Totes Eiweiß, zum Beispiel das vom toten Hühnerei, können Sie nicht längere Zeit in dem Zustande erhalten, in dem es ist. Das ist überhaupt eine Eigenart der lebendigen Substanz, daß in dem Augenblick, wo das Leben von ihr gewichen ist, sie ihre Teile nicht mehr zusammenhalten kann. Leben in der Substanz heißt: Widerstand gegen den Zerfall. [4] Es ist einfach ein Unsinn, daß sich durch chemische Verbindungen aus toten Stoffen Leben aufbaut. Das Leben kommt aus dem Weltenraum, den der Äther ausfüllt. Es ist ein Unsinn, daß die toten Stoffe sich zusammenmischen und leben könnten, was man «Urzeugung» nennt. Nein, gerade die toten Stoffe rühren her vom Lebendigen, sind abgesondert vom Lebendigen. Das Lebendige ist zuerst, und nachher kommt erst das Tote. [5]

Leben strömt vom Weltenraum auf die Erde ein und wird von den Wesen aufgefangen. Das kommt von den Geistern der Weisheit, den Kyriotetes her. [6] In der zweiten Region des Devachan flutet das allgemeine Leben, das im physischen Leben an die Menschen-, Tier- und Pflanzenformen gebunden, in jeder Wesenheit abgegrenzt ist, wie die Meereswässer dahin. Man sieht es dahinfluten, das allgemeine Leben, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Äußerlich dadurch, daß es rötlich-lilafarben flutet von Pflanzenform zu Pflanzenform, von Tierform zu Tierform, als in der Einheit des Lebens begriffen. Im Devachan lebt das Leben. [7] Alles Leben entsteht dadurch, daß eine Balance zwischen einander entgegenstrebenden Gewalten herbeigeführt wird. [8] (In der übersinnlichen Welt) fühlen wir für dasjenige, für das wir gewohnt sind, das Wort «Leben» zu gebrauchen, das fühlen wir wirklich darinnen in den lebendigen Gedanken, die Lebewesen sind. Leben und Gedanken haben sich miteinander verbunden, während in der physischen Welt Leben und Gedanken vollständig voneinander getrennt sind. [9]

Zitate:

[1]  GA 52, Seite 338   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[2]  GA 211, Seite 101   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)
[3]  GA 27, Seite 16   (Ausgabe 1984, 142 Seiten)
[4]  GA 55, Seite 76f   (Ausgabe 1959, 278 Seiten)
[5]  GA 349, Seite 18   (Ausgabe 1961, 264 Seiten)
[6]  GA 121, Seite 94   (Ausgabe 1982, 214 Seiten)
[7]  GA 95, Seite 44   (Ausgabe 1978, 164 Seiten)
[8]  GA 98, Seite 190   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[9]  GA 154, Seite 90   (Ausgabe 1973, 142 Seiten)

Quellen:

GA 27:  Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. Von Dr. Rudolf Steiner und Dr. Ita Wegman (1925)
GA 52:  Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung (1903/1904)
GA 55:  Die Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Zeit und deren Bedeutung für das heutige Leben (1906/1907)
GA 95:  Vor dem Tore der Theosophie (1906)
GA 98:  Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908)
GA 121:  Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie (1910)
GA 154:  Wie erwirbt man sich Verständnis für die geistige Welt?. Das Einfließen geistiger Impulse aus der Welt der Verstorbenen (1914)
GA 211:  Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum (1922)
GA 349:  Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wesen des Christentums (1923)